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Der Nachhall der türkischen Präsidentschaftswahlen 2023 in Berlin

Während die spannungsgeladene Atmosphäre rund um die Wahlen im Mai inzwischen merklich heruntergekühlt ist, fragt dieser Beitrag noch einmal nach der bleibenden Bedeutung des Wahlverlaufs und seiner Ergebnisse. Dabei wird eine seltener beschriebene Perspektive auf die neopopulistischen Aspekte der Wahlen eingenommen: Alle türkischen Wahlkämpfe der letzten Jahre wurden nicht nur in der Türkei ausgetragen, sondern auch auf dem Balkan, in Deutschland, in den Niederlanden, den USA und weiteren Bühnen. Damit nimmt die Entwicklung in der Türkei auch Einfluss auf die Bildung öffentlicher Meinungen und Haltungen zu Demokratie in den genannten Ländern und ihren Gesellschaften. Wie auch in anderen neopopulistischen Dynamiken kommt es zu einer Weitung und Veränderung des Diskursraums.

So allgegenwärtig die türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 in der deutschsprachigen Presselandschaft waren, so gründlich scheint sich das Thema zwei Monate später aus dem breiteren, öffentlichen Interesse verflüchtigt zu haben. Andererseits haben die Entwicklungen in der Türkei aber in der Fachliteratur, wie zu erwarten, großen Widerhall gefunden (cf. Çopur/Bozay 2023; Öktem 2023; Grigoriadis 2023; Bastian 2023). Diese Analysen knüpfen an einen breiten Bestand einer seit Jahren wachsenden Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Autokratisierung in der Türkei an (Adar 2022; Kaynar 2022; Tekin 2022; Baykan & Somer 2022; Çevik 2022; Alemdaroğlu 2022 [2023 forthcoming]; Schad 2022). All diese Beiträge, ob aus politikwissenschaftlichen, ökonomischen, sozialen, rechtsstatlichen, sicherheits-, menschenrechts-, bildungs-, religionspolitischen oder diplomatischen Perspektiven, kreisen im Kern um folgende Fragen:

Wie konnte sich eine aufzublühen scheinende Demokratie zum heutigen Zustand entwickeln? Wie geht es weiter mit der Türkei? Welche Rolle wird die Stichwahl am 28. Mai 2023, die in der vorläufigen Zementierung des rechtspopulistischen AKP-Regimes und ihres Führers Recep Tayyip Erdoğan mündeten, in den Geschichtsbüchern einnehmen?

Während die spannungsgeladene Atmosphäre rund um die Wahlen inzwischen merklich heruntergekühlt ist, fragt auch dieser Beitrag noch einmal nach der bleibenden Bedeutung des Wahlverlaufs und seiner Ergebnisse, nimmt dabei aber die seltener beschriebene Perspektive auf die neopopulistischen Aspekte ein. Ob auf einer der zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen, im Gespräch auf der Straße, beim Frisör, beim Einkauf, in der Berliner linguistic landscape oder in den Social Media Beiträgen der Journalistin Nalan Sipar, die ihre Videos mit Meinungsbildern regelmäßig über ihren Youtube-Kanal veröffentlicht: der Nachhall der Wahl lässt sich in Deutschland und in Berlin direkt beobachten.

Wie lange im Vorfeld immer wieder betont wurde, sind zu einer Beurteilung der türkischen Präsidentschaftswahlen 2023 nicht nur die Wahlen an sich von Bedeutung: sowohl die unfairen Wahlkampfbedingungen für die Opposition, als auch der gesamte autokratische Progress der letzten Jahre haben das Ergebnis ohne Zweifel maßgeblich mitbestimmt. Der gesamte Verlauf kann und muss deshalb als schlechtes Ergebnis für den demokratischen, politischen Prozess bezeichnet werden – auch wenn Kerem Öktem darauf verweist, dass die türkische Gesellschaft auf ein gewisses demokratisches Erbe (democratic legacy) blicken könne. Darauf fuße auch die (relative) demokratische Resilienz (democratic resilience) von Opposition und Zivilgesellschaft, was zusammengenommen bisher einen so weitreichenden Grad von Autoritarisierung verhindert habe, wie er etwa in Ägypten oder Russland erreicht ist (Öktem 2023). Der dennoch insgesamt schlechte Befund für die Demokratieentwicklung gilt natürlich zuerst für die Türkei, ihre politische Kultur und die Folgen für die Gesellschaft – besonders für Oppositionelle, Minderheiten, Freigeister und Unangepasste.

Die AKP als neopopulistisches Regime

Doch hier soll es um einen Ausschnitt aus der grenzübergreifenden Arena gehen, die wesentlich für alle Spielarten des zeitgenössischen Neopopulismus ist – welchem der Rechtspopulismus des AKP-Regimes durch Art, Inhalt und Reichweite seiner Sendung zuzurechnen ist: Alle türkischen Wahlkämpfe der letzten Jahre wurden nicht nur in der Türkei ausgetragen, sondern auch auf dem Balkan (Clapp 2018), in Deutschland, den Niederlanden, den USA sowie weiteren Bühnen. Damit nimmt die Entwicklung in der Türkei auch Einfluss auf die Bildung öffentlicher Meinungen und Haltungen zu Demokratie in den genannten Ländern und ihren Gesellschaften. Genau darin besteht der markanteste Unterschied zu „klassischen Populismen“, die hauptsächlicher Gegenstand der kaum noch überschaubaren Fülle von Fachliteratur zum Thema Populismus sind (Mudde & Rovira Kaltwasser 2017; Rosanvallon 2020; Laclau 2005; Mouffe 2018; 2020 ).

Klassische Populisten, so könnte die Unterscheidung zu Neo-Populisten getroffen werden, agieren in einem national eingegrenzten Geltungsbereich, während die Strahlkraft letzterer nationale Grenzen transzendiert — vor allem mittels „neu verdrahteter“ (Oates 2021; Tumber & Waisbord 2021), digitaler Kommunikationstechnologie. Dadurch haben Volumen und Reichweite populistischer Sendungsradien nicht nur zu einem vorher unmöglichen Maß zugenommen und neue Handlungsräume eröffnet, sondern auch zu einem Neuauswertungsbedarf von Begriffen wie ‚Misinformation‘, ‚Desinformation‘ und ‚Propaganda‘ sowie zu einer Reihe inzwischen etablierter Neologismen wie ‚Post-Faktizität‘, ‚Post-Truth‘, ‚Alternative Facts‘, ‚Fake News‘ etc. geführt (Tumber & Waisbord 2021).

(Eine vertiefte Diskussion zur Rolle der Digitaisierung und Medialisierung findet sich unter den Beiträgen der Kategorie NEOVOX, wie zum Beispiel im Blogpost Was ist Plattform- und Meinungskapitalismus?)

Obwohl das grenzübergreifende Handeln türkischer Akteure und (nicht ausschließlich) staatlich koordinierter Diaspora-Organisationen eine seit Jahren immer wieder beschriebene Entwicklung ist (), wird dies selten unter dem Gesichtspunkt grenzübergreifenden Populismus getan, wie auch Imdat Oner und Lana Shehadeh in ihrer vergleichenden Analyse populistischer Sprechakte des türkischen Präsidenten Erdoğan und des früheren venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez (gest. 2013) feststellen (Oner & Shehadeh 2023):

Populist leaders, political parties and mass movements have been critically examined, specifically after the 2016 U.S. election and the surge of populism worldwide as a result. Yet despite the considerable amount of scholarly attention given to the topic, its international dimension and ability to transcend beyond national borders have been rarely studied. The more recent literature on populism has focused predominantly on domestic politics with a significant disregard for the international dimension.

Oner & Shehadeh 2023: 29.

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Hintergrund: türkisch-deutsche Verstimmungen

In Deutschland und Berlin wurde die jüngste Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und mitgestaltet. Das liegt nicht zuletzt daran, dass hier eine beträchtliche Anzahl von Einwohnerinnen und Einwohnern mit türkeistämmigem Hintergrund und Wahlberechtigung lebt. Dadurch sind viele Menschen nicht nur auf die ein oder andere Weise betroffen von der Entwicklung im politisch-gesellschaftlichen Feld in der Türkei. Über Mehrfachstaatsbürgerschaften und die Wahlmöglichkeit über die Auslandsvertretungen sind sie auch aktiv Beteiligte. Auch aus diesem Grund setzten in Deutschland unmittelbar nach den Wahlergebnissen kritische öffentliche Diskussionen über das Wahlverhalten ein – oft mit unangenehmen Folgen für türkeistämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen sich manche einem pauschalen Rechtfertigungsdruck für das Wahlverhalten „der Türken in Deutschland“ ausgesetzt sahen (Dalaman 2023; Ernüchterte Berliner Reaktionen auf Erdogan-Wiederwahl 2023; Interview mit Burak Çopur 2023; Interview mit Özgür Özvatan 2023; Kritik von Özdemir 2023; Püttmann 2023).

Diese Diskussionen waren keineswegs überraschend. In ähnlicher (aber viel schärferer) Form hatte es sie bereits seit einigen Jahren gegeben: In Erinnerung geblieben sind zum Beispiel die aufgeregten Debatten rund um das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems 2017, die als einer der Meilensteine im Ausbau autokratischer Herrschaft in der Türkei gelten. Im Vorfeld des Referendums war es durch rechtspopulistische, demagogische Tiraden des AKP-Regimes in Europa zu diplomatischen Eklats gekommen: die Niederlande insgesamt wurden für den Genozid an den Bosniaken Srebrenicas alleine verantwortlich gemacht, als Mörder und Nazis bezeichnet — während man selbst ein blütenreines Gewissen aufzuweisen habe — weil die niederländische Regierung türkische Wahlkampfauftritte im Land untersagt hatte. Diese Vereinnahmung des Srebrenica-Diskruses für populistisch-demagogische Rede hat auch zu einer kritischen Stellungnahme des Genozidüberlebenden Hasan Nuhanović in Bosnien-Herzegowina geführt (Brech 2017; Nuhanović 2017).

Ebenso wenig vergessen sind die Drohungen des türkischen Präsidenten, Flüchtlinge als Druckmittel zu instrumentalisieren und „gegen Europa“ einzusetzen. Große Verstimmung auf vielen Ebenen hat auch die Geiselhaft des deutschen Journalisten Deniz Yücel erzeugt, der durch seine doppelte Staatsbürgerschaft in eine prekäre juristische Lage geraten war: der Handlungsspielraum der Deutschen Botschaft war trotz Yücels deutscher Staatsbürgerschaft sehr begrenzt. Vom türkischen Präsidenten war Yücel als „Deutscher Spion“, „Terrorist“ und Spionageterrorist“ bezeichnet worden — und im Verlauf des Diskurses wurden die Ausfälle Erdoğans immer heftiger: so drohte er allen „Westlern“, dass „in Zukunft keiner von ihnen noch einen Schritt auf die Straße setzen können wird, wenn sie so weiter machen“ (Erdoğan’dan Avrupa’ya ‚uyarı‘ 2017).

Auch die damals wie heute hitzigen Debatten rund um den türkeistämmigen Fußballprofi Mesut Özil haben zu teils schroffen Auseinandersetzungen geführt, nachdem sich Özil regelmäßig in freundschaftlicher Nähe Erdoğans gezeigt hat: als Özil 2019 in Istanbul heiratete, trat der türkische Präsident sogar öffentlichkeitswirksam als sein Trauzeuge auf (Özil feiert Hochzeit mit Erdogan 2019). Zuletzt ist Özil durch die Zurschaustellung einer Tätowierung des Symbols der rechtsradikalen Bewegung Graue Wölfe (Bozkurtlar) erneut in die Kritik geraten (Wißing 2023). Der Fall Özil ist besonders bemerkenswert: Er (und/oder seine Berater) hat es geschafft — zusammen mit der rechtspopulistischen Presse Deutschlands — sich trotz aller Privilegien, die mit einer Spitzenfußballerkarriere einhergehen, als Underdog und Sympathieträger für Diskriminierte und Ausgeschlossene zu präsentieren. Hinter diesem Image droht die nicht relativierbare, problematische Nähe zum Autokraten Erdoğan für Özils Anhänger und Versteher zu verblassen und zu einem Sekundärproblem zu geraten.1Ich muss einräumen, dass es bei mir durch das nahezu totale, sehr wahrscheinlich auch unveränderliche Desinteresse für Fußball eine Aufmerksamkeitslücke gibt: Ich habe die Auseinandersetzungen über „die verpatzte Weltmeisterschaft“ und was im Fußball-Diskurs daran genau Özil angelastet wird und warum nicht ernsthaft verfolgt oder genauer analysiert.

Konsequenzen für die superdiverse Gesellschaft

Die Diskussionsstränge rund um die Türkei-Wahlen 2023 lassen sich in (mindestens) drei Felder von Konsequenzen für die superdiverse, kosmopolitisierte Gesellschaften untergliedern. Erstens wurde gefragt, wieso dieses Ergebnis Anlass zu lauten, freudigen Auto-Korsos in deutschen Städten gesorgt habe. Wie könne es sein,

  • dass eine so große Anzahl Türkeistämmiger, die in Besitz der türkischen Staatsbürgerschaft sind und ihr Wahlrecht wahrgenommen haben, für Recep Tayyip Erdoğan gestimmt haben?
  • Ob sich diese Wähler:innen denn wirklich darüber im Klaren seien, dass der türkische Präsident ein Feind der Demokratie ist; dass er mit islamistischen, rechtsradikalen, frauen- und minderheitenfeindlichen Parteien im Bund steht?
  • Befürworteten diese Leute tatsächlich die Weltsicht des türkischen Autokraten — und was bedeutet das für den weiteren Kontext, nämlich die Zunahme demokratiefeindlicher Haltungen in der deutschen und anderen europäischen Öffentlichkeiten?
  • Lässt sich das Wahlverhalten als Protest und vielzitierter „Denkzettel“ gegen erfahrene Diskriminierung, Kränkungen, Armutserfahrungen oder ein grundsätzliches Gefühl des Abgehängtseins im Bereich der Bildung und der Berufschancen verstehen?
  • Wenn ja: Was ist dann mit denjenigen, die ebenfalls diese Erfahrungen gemacht haben, aber nicht rechtspopulistisch wählen?
  • Ähnelt diese Erklärung nicht auch ein wenig den Diskussionen über abgehängte Ostdeutsche während der frühen 1990er Jahre, die sich der Neonazi-Bewegung anschlossen, rassistische Einstellungen pflegten und bis heute erschreckend stabile, rechtsextreme Strukturen etabliert haben?
  • Was bedeutet diese grenzübergreifende, neopopulistische Dynamik im Zusammenspiel mit anderen Akteuren und Diaspora-einflüssen, wie etwa die Sendung des Putin-Regimes?

Diese Fragen müssen in einer superdiversen Gesellschaft ernstgenommen werden. Es wäre falsch und verantwortungslos, sie nicht zu stellen und sich so auch um die politische Herausforderung zu drücken, diese Entwicklungen in die politische Bildungsarbeit aufzunehmen.

Zweitens kursierten ebenso schnell Analysen und Ansichten, die betonten, dass die reale (also die relative und absolute) Wahlbeteiligung aller wahlberechtigter türkischer Staatsbürger:innen keineswegs zum Ergebnis führe, dass „die Mehrheit der Türk:innen in Deutschland“ entschlossene Erdoğan-Wähler:innen seien. Ein häufig zu lesender (und berechtigter) Einwand lautete, dass die alleinige Einbeziehung der absoluten Zahlen von Wähler:innen mit türkischem Pass und das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern des rechtspopulistischen Autokraten Erdoğan zu verzerrten Ergebnissen führen müsse; damit würden außerdem anti-türkische, rechtspopulistische Einstellungen verstärkt, ob von Seiten ethnischer Deutscher oder anderer post-migrantischer Communities. Erinnerte nicht schon die Frage „Wie können sie nur…?“ an eine übertriebene Skandalisierung, die gar mit rassistischen Stereotypen zu tun habe? Auch Konflikte wie der türkisch-kurdische könnten durch die Darstellung, „die Türken in Deutschland“ seien generell Nationalisten und Islamisten, befeuert werden.

Drittens schließlich – als ob die Lage nicht an sich schon komplex genug wäre – kursierten Meinungsbilder und Kurzinterviews auf den Sozialen Medien, wie jene der bereits genannten Berliner Journalistin Nalan Sipar, welche jede Einordnung des Wahlverhaltens erschwerten. Ein häufiger anzutreffendes Meinungsbild spiegelte sich etwa im Kurzinterview mit einem türkeistämmigen Kreuzberger Jungen, der angab, in Deutschland die Grünen wählen zu wollen – in der Türkei jedoch auf jeden Fall den Rechtspopulisten Erdoğan. Dieser sei “einfach cool”, wie „ein Playboy“, mache den Islam größer, usw.2Im unten eingebetteten Youtube-Short gibt der junge Mann an, „Merkel“ wählen zu wollen; seine Stellungnahme zu den Grünen ist in diesem Video nicht mehr genauso eindeutig nachvollziehbar wie im ursprünglich kursierenden Video, dass Sipar geteilt hatte (es wird sich womöglich noch im Netz finden lassen, ich habe es nicht überprüft)

Im hier eingebetteten Youtube-Short gibt ein junger Mann an, „Merkel“ wählen zu wollen; seine Stellungnahme zu den Grünen ist in diesem Video nicht mehr genauso eindeutig nachvollziehbar wie im ursprünglich kursierenden Video, dass Sipar geteilt hatte (es wird sich womöglich noch im Netz finden lassen, ich habe es nicht überprüft).

Die Reaktionen in den Kommentarzeilen der Meinungsplattformen zeigen, dass diese Haltung von Außenstehenden (d.h. Menschen ohne Bezug zum türkischen politischen Feld) als widersprüchlich und kurios aufgenommen wurde: grüne und diversitätsbejahende Politik in Deutschland einerseits – und rechtspopulistische, minderheitenfeindliche Politik in der Türkei: das war doch ein klarer Widerspruch! Anders gefragt: Wie lässt sich dieser — vielleicht doch nur scheinbare — Widerspruch erklären?

Deutungsangebote

Wenn wir heute in Europa (und weltweit) über Populismus sprechen, dann sprechen wir fast immer von Neopopulismus. Ob das Putin-Regime in Russland mit seinen neoimperialen Ambitionen, Viktor Orbán in Ungarn mit seinem Trianon – Revisionismus, Aleksandar Vučić in Serbien mit seiner verlässlichen Kosovo – Retourkutsche – oder Erdoğan in der Türkei mit seinem neoosmanischen Sendungsbewusstsein: all diese populistischen Bewegungen mögen zwar in einem bestimmten, eingegrenzten Land und der jeweiligen Wählerschaft konzentriert sein. Dennoch ist für sie kennzeichnend, dass sie in Sendung und Wirkungsradius staatliche Grenzen überschreiten – besonders, wenn es eine große Anzahl von wahlberechtigten Staatsbürger:innen, Auswanderern oder Diaspora in anderen Ländern gibt.

Binäre Erklärungsmuster wie links/rechts, liberal/konservativ, rückschrittlich/progressiv erscheinen durch das Kuriosum des AKP-Wählers, der in Deutschland die Grünen wählen würde, sowie weitere, verwässernde politische Haltungen fragwürdig, wenn nicht obsolet. Wenn es darum gehen soll, dem Phänomen der Befürwortung autokratischer, identitärer Herrschaft in einem neopopulistischen, also grenzübergreifenden, mehrsprachigen Kontext auf den Grund zu gehen, reichen diese traditionellen Parameter nicht mehr aus. Wer sich mit den demagogischen Strategien und der Rhetorik des AKP-Regimes beschäftigt, wird den oben genannten Widerspruch schnell weniger grotesk finden und eine Schnittmenge zwischen linksliberalem, identitätspolitischem Repertoire einerseits – und rechtspopulistischer, identitärer Demagogie andererseits erkennen.

Diese Schnittmenge besteht aus dem kategorischen Insistieren auf Identität — was inzwischen dank der intellektuellen Arbeit von Autoren wie dem Philosophen Omri Boehm glücklicherweise erkannt, problematisiert und dekonstruiert wird. Etwas ausführlicher habe ich mich mit der wesentlich von Boehm geprägten Universalismus/Identitarismus-Debatte in folgenden Beiträgen beschäftigt: Response Paper I: Omri Boehm / Denken in der Box vs. Radikaler Universalismus sowie Response Paper II: Über die Dekonstruktion von Identitätspolitik zu einem Dritten Weg? An dieser Stelle kann ich (mit Verweis auf die Boehm-Beiträge) das vollständige Argument für einen radikalen Universalismus und wider den Fehlschluss, Identitätspolitik könnte Probleme lösen, anstatt sie zu verursachen und zu vertiefen, nicht gebührend ausbreiten. Wer selbst einmal einem identitätspolitischen Shitstorm beigewohnt hat, den angeblich „linke“, selbst erklärt progressive Meinungsakteure ausgetragen haben, wird aber denke ich schnell nachvollziehen können, worin die grundsätzliche, ja: strukturelle Ähnlichkeit zu rechtspopulistischen Identitätsakteuren besteht.

Es kann als ein besonders „erfolgreicher“ und geschickter Aspekt autokratischen Lernens gelten, dass sich das AKP-Regime identitätspolitische, im deutschen Kontext zumeist als linksliberal geltende Diskurse und Begriffe wie Islamophobie, Rassismus, Religionsfreiheit und Minderheitenrechte systematisch angeeignet bzw. instrumentalisiert hat. Mit feinem Gespür für instrumentalisierbare Kränkungen greifen weitere (Diaspora-)Institutionen und neue Medien die oben genannten sowie weitere, emotional und affektiv besetzte Themen auf, um sich selbst als “Beschützer” zu inszenieren. In diesem Bereich hat das Regime sogar eine höchst fragwürdige Zusammenarbeit mit internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erreicht, die sich regelmäßig mit Länderstudien am European Islamophobia Report beteiligen. Dieser wurde bis 2019 vom AKP Think Tank SETA herausgegeben, erscheint inzwischen aber (seit 2020) als Publikation des undurchsichtigen Wiener Leopold Weiss Instituts3Das Leopold Weiss (Weiß) Institut (Leopold Weiß Institut zur Erforschung zeitgenössischen muslimischen Lebens und Denkens) scheint nach dem Geburtsnamen des aufklärerischen muslimischen Denkers Muhammad Asad benannt zu sein und hat keinen eigenen Internetauftritt. Die Desktoprecherche legt den Schluss nahe, dass es sich um eine Ausgründung von SETA handelt., wobei die personale Herausgeberschaft gleich geblieben ist. Dass in der Türkei keine dieser linken oder inksliberalen Werte vom AKP-Regime umgesetzt oder auch nur beherzigt werden, scheint in der (selektiven) Wahrnehmung neopopulistischer Unterstützerinnen und Unterstützer des Regimes, ob in Deutschland oder andernorts, nicht ausschlaggebend zu sein.

Wie schon der Fall Özil gezeigt hat, kommt es durchaus vor, dass ein und dieselbe Person Rassismus anprangert, sich aber andererseits einer faschistischen Bewegung und einem rechtspopulistischen Führer zuwendet. Die unreflektierte Gesinnungshilfe durch unreifen, nicht durchdachten pseudo-intellektuellen Aktivismus — so jedenfalls und nicht missgünstiger möchte ich es deuten — wie im Fall des Islamophobia Reports aus dem salonfähigen islamistischen Milieu verdient einerseits natürlich profunde Kritik. Andererseits untermauert dieses Beispiel besonders offenkundig die These identitätskritischer Denker wie Omri Boehm, Susan Neiman und Yascha Mounk, die aufgezeigt haben, dass identitätspolitische Gebote nicht nur in die falsche Richtung führen und ungewollte Ergebnisse zeitigen, sondern oft auch intellektuell halbgar, widersprüchlich und inkohärent sind. Dies diskutiert der Autor Yascha Mounk an den Beispielen besonders verbreiteter Konzepte wie des strategischen Essentialismus, der Standpunkttheorie oder der Zurückweisung kultureller Aneignung. Bemerkenswerterweise widersprechen manche der zentralen Theoreme der Identitätssynthese (wie Yascha Mounk das Diskursfeld benennt) sogar ihren ursprünglichen Bezugsquellen oder wurden später von Autoren wie Edward Said oder Gayatri Chakravorty Spivak teilweise revidiert oder eingeschränkt — jedoch ohne, dass dies Eingang in den oft starren Begriffsapparat des identitätspolitischen Diskurses fände. 4Vgl. Mounk, Yascha (2024). Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta.

Die Doppelmoral des rechtspopulistischen AKP-Regimes – wobei „Doppelmoral“, Heuchelei oder Janusköpfigkeit (ikiyüzlülük) auch ein überaus beliebtes, antiwestliches Argument pop-islamistischer Rhetorik darstellt – scheint in einigen Fällen gar nicht erkannt zu werden. Um nur ein ganz einfaches, stereotypisches Beispiel aufzuführen, genügt ein Blick in die pop-islamistische, türkische Pool-Presse (havuz medyası) wie das Revolverblatt Yeni Şafak. Dort schrieb der Autor Rasim Özdenören 2019 unter der Headline „Westen bedeutet auch heuchlerisch“:

Westliche Länder messen nicht nur mit zweierlei Maß, wenn es um Menschen und Länder außerhalb des eigenen Landes geht, sondern auch bei ihren eigenen Bürgern. In den USA zum Beispiel gilt der Grundsatz der Brüderlichkeit nur für Weiße. Wenn Ihre Hautfarbe schwarz ist, liegt es im Interesse des weißen Mannes zu entscheiden, ob Sie in den Genuss des Prinzips der Brüderlichkeit kommen können. Wenn Ihre Hautfarbe rot ist, ist es in Ordnung, Völkermord an Ihnen zu begehen. Für einen Europäer haben afrikanische Menschen es nur verdient, ausgebeutet und versklavt zu werden. Wenn wir nach dem Ursprung des Leidens der Menschen in Afrika heute suchen, welchen dominanten Faktor finden wir dann? (Hervorhebungen TS)5Mithilfe von DeepL übersetzt aus: Batılı ülkeler çifte standardı sadece kendi dışında kalan insanlar ve ülkeler için değil, aynı zamanda ken­di ülkelerinin vatandaşları için de uy­gular. Söz gelimi ABD’de kardeşlik ilkesi sadece beyazlar için geçer­lidir. Derinizin rengi siyahsa, kardeş­lik ilkesinden yararlanıp yararlana­mayacağınız, beyaz adamın çıkarları doğrultusunda karara bağlanır. Eğer derinizin rengi kızıl ise, size genocide (soykırım) uygulamada beis yoktur. Bir Avrupalı için, Afrikalı insanlar sa­dece sömürülmeye ve köleleştirilmeye müstahaktır. Bu gün insanların Afrika’da çekmekte olduğu sıkıntının kökeni arandığında acaba hangi baskın faktörü buluruz karşımızda? in: Özdenören, Rasim: Batı ikiyüzlü de demektir, in: Yeni Şafak vom 17.2.2019, URL: https://www.yenisafak.com/yazarlar/rasim-ozdenoren/bati-ikiyuzlu-de-demektir-2049334 (zuletzt abgerufen am 23.10.2024).

Wie der Autor fortfährt, sei auch das Gerede von Menschenrechten als Teil der westlichen Janusköpfigkeit zu sehen. Aus dem weiteren Kontext — die immer wieder aufkommende Diskussion über Anerkennung und Leugnung des Armeniergenozids zwischen der Türkei und westlichen Staaten die 2010er Jahre hindurch — ist klar, dass die Bezichtigung Amerikas, genozidal zu sein, als Whatabout-Argument dienlich ist, um die Faktizität des spätosmanischen Genozids an den Armeniern zurückzuweisen. Genau wie beim Zugriff auf Bosnien und den Srebrenica-Diskurs handelt es sich hier also nicht um eine firme Position gegen Genozid — sondern um eine selektive Indienstnahme sowie die Herstellung affektbasierten Ressentiments, was einer identitären, antipolitischen Haltung verpflichtet ist.

Ein leicht zu durchschauender Zusammenhang? Scheinbar nicht für Alle. Dass diese Dynamik trotzdem selten als Teil einer illiberalen, rechtspopulistischen, neopopulistischen Rhetorik analysiert wird, dürfte auch mit Denkgewohnheiten und eindeklinierten, binären Zuordnungsschemata zusammenhängen, wonach bestimmte Formen der Kritik als „rechts“ oder „links“ zu gelten hätten: Identitätspolitik, derer sich sowohl rechtspopulistische als auch linksliberale Akteure bedienen, in Frage zu stellen, gilt als riskant und wird vermieden; kein aufrichtig links oder linksliberal denkender Mensch will sich dem Verdacht aussetzen, mit rechten oder gar rechtsradikalen Haltungen zu sympathisieren — auch durch die zu befürchtenden Shitstorms über Meinungsplattformen wie (Ex-)Twitter. Dazu kommen gewisse Merkwürdigkeiten, die fast wie eine Art intellektueller Folklore wirken. Man denke nur an den Habitus vieler deutscher „Linker“, quasi über die Werkeinstellungen mit Russland oder Serbien zu symphatisieren — komme, was wolle. Zu sagen, man stehe qua Staatsraison an der Seite Israels — aber tatsächlich nicht an Israels Seite zu stehen, sondern an der Seite des Netanyahu-Regimes, gegen das demokratische Israelis massenhaft demonstrieren (denen man mit der eigenen Haltung gleich noch in den Rücken fällt).

Diese Haltungen, geflissentlich über die Demokratiefeindlichkeit und die Autokratisierungstendenzen gewisser Anderer hinwegzusehen, weil es an irgendeiner Stelle in das eigene Koordinatensystem zu passen scheint, während gewisse weitere Andere mit harscher Kritik zu rechnen haben, die durchaus im Namen der Werte der Aufklärung formuliert wird, nennt Omri Boehm mit Blick auf den deutschen intellektuellen Betrieb auch Denkverweigerung. Bis hin zum vielleicht bekanntesten public intellectuell Jürgen Habermas, so die Beobachtung des israelisch-deutschen Philosophen, ziehe man es in Deutschland als „Ausnahme von der aufklärerischen Grundeinstellung“ vor, zum Autokratisierungsprogress in Israel zu schweigen:

Man übersieht meist die Konsequenzen, die diese Grundeinstellung für die israelisch-deutschen Beziehungen hat. Ein deutscher, der in Bezug auf die israelische Politik ‚Selbstzensur übt — der also den privaten Verpflichtungen treu bleibt, die sich aus der deutschen Vergangenheit ergeben –, weigert sich, den Standpunkt der Aufklärung einzunehmen, sobald er sich mit jüdischen Angelegenheiten beschäftigt. Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken. Eine solche Position würden die meisten deutschen Intellektuellen sicherlich nur ungern vertreten; und es wäre ein Fehler — der eine Freud’sche Analyse lohnen würde –, wollte man behaupten, im Fall einer Deutschen, die einen Juden kritisiert, sollte man sinnvollerweise eine Ausnahme von der aufklärerischen Grundeinstellung machen. Gerade weil das aufklärerische Denken seit seinen frühesten Anfängen vom Antisemitismus heimgesucht wurde — inbesondere aufgrund seiner permanenten Versuchung, Juden als ein mythisches „Anderes“ zu behandeln –, läuft die Unterdrückung öffentlicher Kritik am jüdischen Staat Gefahr, in eine vertraute Falle zu gehen.

Boehm, Omri (2023): Israel — Eine Utopie. Propyläen. Berlin: Propyläen, S. 13.

Das Paradox, dem sich am Ende zu stellen sein wird, besteht indes darin, dass die eigentliche Komplizenschaft rechter und „linker“ Akteure in der Übernahme des Paradigmas der Identität liegt — was besonders in den USA eine dominante Strömung zu sein scheint — und den Universalismus gleichsam als Wurzel von Rassismus und gruppenspezifischer Ungleichwertigkeit zu erklären. Insbesondere die mit dem Universalismus untrennbar verbundene Aufklärung und ihr gesamtes intellektuelles Werk wird wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.6Besonders die von Yascha Mounk beschriebenen Beispiele aus dem studentischen und weiteren intellektuellen Milieus in den USA zeigen dies, aber auch Omri Boehms Plädoyer für radikalen Universalismus. Beide autoren beschreiben ausführlich, dass Universalismus und Aufklärung in US-Diskussionen oft explizit angegriffen und quasi zum Bösen schlechthin erklärt werden. Vgl. Mounk, Yascha (2024). Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta sowie Boehm, Omri (2024 [2023]): Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität. Berlin: Ullstein. Heutige selbsternannte Linke oder Progressive, die sich allein aufgrund des Gleichklangs im angeblich postkolonialen Vokabular, der verwendeten Hashtags und der vermeintlichen Übereinstimmung einer grundsätzlich binären Weltsicht mit identitären Rechten wie dem AKP-Regime, anderen islamistischen Formationen, oder auch mit dem Putin-Regime gemein machen (darin besteht kein wesentlicher Unterschied), irren sich genauso schrill und fatal wie eine Reihe alter „Linker“ und Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Man denke nur an Jean-Paul Sartres Haltung zu Mao oder Peter Handkes zornige Allianz mit Milošević. Sie stehen für eine viel größere Gruppe von Denkern, die Autokraten und Menschenfeinde hofierten, obwohl sie hätten begreifen können, wes Geistes Kinder ihre Verbündeten waren — und welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf ihre Rechnung gehen.

Neopopulisten mobilisieren und instrumentalisieren grenzübergreifend Stimmen vor allem aus einem ganz einfachen Grund: weil sie es können. Sie passen sich schlichtweg den Veränderungen und kommunikationstechnologischen Möglichkeiten unserer Zeit an. Wenn man so will, könnte man sie auch als aktive Mitgestalter der weltweiten Metamorphose des gesamten politischen Feldes verstehen – welche mit dem Oberbegriff der Globalisierung nur sehr ungenau zu fassen ist. Sie tun gewissermaßen nichts anderes, als global agierende Medien, Holdings, Unternehmer, Menschenrechtler, Klimaschützer, liberale politische Aktivist oder Banker. Die Zeiten, da Rechtspopulisten wie das AKP-Regime versuchten, ganze Social Media Plattformen zu sperren, sind längst übergegangen in gezielte, aktive Nutzung.

Doch die kommunikationstechnologischen Werkzeuge bilden nur eine Seite der Möglichkeiten. Die andere, mit den Eigenheiten des meinungskapitalistischen Kommunizierens eng verbundene Seite, besteht aus dem Vorhandensein und der Massenhaftigkeit von Empörung, Ressentiment und Kränkung. Der Treibstoff für Neopopulisten besteht wortwörtlich aus Shitstorms, die recht schnell zu globalen Shitstorms werden können, und aus Affekten wie Empörung und Ressentiment sowie emotional-psychologischen Grundlagen wie Kränkungen — ob vorhanden oder produziert — bestehen. Das gekränkte Ich (Heller 2020) wird in autokratischen und populistischen Kontexten schnell zum gekränkten Wir und kann zu einer kriegerischen Waffe missbraucht werden, wie in jüngerer Zeit der russische Autokrat Putin das Jahr 2022 hindurch immer wieder demonstriert hat (Baberowski/Lüpke 2022). Reinhard Haller (2015) stellt zur Macht der Kränkung fest, dass Kränkungen jedes Individuum betreffen, außerdem aber einen uralten Menschheitsstoff bilden, der schon in mythischen Grundtexten auftaucht, und nicht weniger als eine „psychologische Großmacht“ darstellt. Amin Maalouf (2000) betrachtet die Auswirkungen von Kränkungen auf die Identität vor dem Erfahrungshintergrund des libanesischen Bürgerkriegs. Im Fall des türkischen Neopopulismus und seiner Sendung ist am Beispiel der Causa Özil zu sehen, dass Rassismuserfahrung, Diskriminierung und dadurch verbreitete Kränkungen nicht nur angesprochen, sondern gezielt ausgebaut werden — weil man es kann und weil diese Kränkungen mobilisieren.

Dass gerade rechte, identitäre Neopopulisten ebenso globalisiert denken, planen und handeln, erscheint aus einem Grund besonders hervorhebenswert: ihr globaler Blick widerspricht alten Denkgewohnheiten, diese Gruppe – nennen wir sie beim alten Namen Rechtspopulisten – als engstirnig, eingegrenzt und hinter nationalen Grenzen abgeschottet wahrzunehmen. Doch das gehört seit langem der Vergangenheit an, wie zahlreiche Bündnisse rechtspopulistischer Parteien (z.B. im EU-Parlament) und Regime (z.B. Russlands, der Türkei, des Irans, Ungarns, usw.), global sendende, neopopulistische Medien (z.B. Sputnik, Russia Today, TRT World, usw.) sowie das gesamte Phänomen autokratischen Lernens zeigen (Schad 2022). Diese Regime haben sich als lernfähig im Sinne autokratischen Lernens erwiesen — und sie haben Strategien vorzuweisen.

Hoffentlich ohne in überflüssigen Alarmismus zu verfallen, kann und sollte man es dennoch beunruhigend finden, dass sich der Demokratie verpflichtete Staaten offenbar schwer tun, brauchbare, glaubwürdige und funktionierende, eigene Strategien der öffentlichen Diplomatie zu entwickeln. Diese müssten freilich echte Alternativen sein zu den trostlosen, immer wieder misslingenden Versuchen, sich über Etikettenpolitik irgendwie „instagramfähig“ zu machen oder „auch auf TikTok anzukommen“. Bedenkt man, dass die gegenwärtige deutsche Außenpolitik das identitätspolitische Paradigma übernommen hat — ohne es, wie Simone Schmollack 2022 in der taz festgestellt hat, selbst richtig erklären zu können — besteht im oben genannten Sinn auch wenig Grund, von einer baldigen Veränderung auszugehen.

Referenzen

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