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Autokratie Neopolis

Der Nachhall der türkischen Präsidentschaftswahlen 2023 in Berlin

Während die spannungsgeladene Atmosphäre rund um die Wahlen im Mai inzwischen merklich heruntergekühlt ist, fragt dieser Beitrag noch einmal nach der bleibenden Bedeutung des Wahlverlaufs und seiner Ergebnisse. Dabei wird eine seltener beschriebene Perspektive auf die neopopulistischen Aspekte der Wahlen eingenommen: Alle türkischen Wahlkämpfe der letzten Jahre wurden nicht nur in der Türkei ausgetragen, sondern auch auf dem Balkan, in Deutschland, in den Niederlanden, den USA und weiteren Bühnen. Damit nimmt die Entwicklung in der Türkei auch Einfluss auf die Bildung öffentlicher Meinungen und Haltungen zu Demokratie in den genannten Ländern und ihren Gesellschaften. Wie auch in anderen neopopulistischen Dynamiken kommt es zu einer Weitung und Veränderung des Diskursraums.

So allgegenwärtig die türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 in der deutschsprachigen Presselandschaft waren, so gründlich scheint sich das Thema zwei Monate später aus dem breiteren, öffentlichen Interesse verflüchtigt zu haben. Andererseits haben die Entwicklungen in der Türkei aber in der Fachliteratur, wie zu erwarten, großen Widerhall gefunden (cf. Çopur/Bozay 2023; Öktem 2023; Grigoriadis 2023; Bastian 2023). Diese Analysen knüpfen an einen breiten Bestand einer seit Jahren wachsenden Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Autokratisierung in der Türkei an (Adar 2022; Kaynar 2022; Tekin 2022; Baykan & Somer 2022; Çevik 2022; Alemdaroğlu 2022 [2023 forthcoming]; Schad 2022). All diese Beiträge, ob aus politikwissenschaftlichen, ökonomischen, sozialen, rechtsstatlichen, sicherheits-, menschenrechts-, bildungs-, religionspolitischen oder diplomatischen Perspektiven, kreisen im Kern um folgende Fragen:

Wie konnte sich eine aufzublühen scheinende Demokratie zum heutigen Zustand entwickeln? Wie geht es weiter mit der Türkei? Welche Rolle wird die Stichwahl am 28. Mai 2023, die in der vorläufigen Zementierung des rechtspopulistischen AKP-Regimes und ihres Führers Recep Tayyip Erdoğan mündeten, in den Geschichtsbüchern einnehmen?

Während die spannungsgeladene Atmosphäre rund um die Wahlen inzwischen merklich heruntergekühlt ist, fragt auch dieser Beitrag noch einmal nach der bleibenden Bedeutung des Wahlverlaufs und seiner Ergebnisse, nimmt dabei aber die seltener beschriebene Perspektive auf die neopopulistischen Aspekte ein. Ob auf einer der zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen, im Gespräch auf der Straße, beim Frisör, beim Einkauf, in der Berliner linguistic landscape oder in den Social Media Beiträgen der Journalistin Nalan Sipar, die ihre Videos mit Meinungsbildern regelmäßig über ihren Youtube-Kanal veröffentlicht: der Nachhall der Wahl lässt sich in Deutschland und in Berlin direkt beobachten.

Wie lange im Vorfeld immer wieder betont wurde, sind zu einer Beurteilung der türkischen Präsidentschaftswahlen 2023 nicht nur die Wahlen an sich von Bedeutung: sowohl die unfairen Wahlkampfbedingungen für die Opposition, als auch der gesamte autokratische Progress der letzten Jahre haben das Ergebnis ohne Zweifel maßgeblich mitbestimmt. Der gesamte Verlauf kann und muss deshalb als schlechtes Ergebnis für den demokratischen, politischen Prozess bezeichnet werden – auch wenn Kerem Öktem darauf verweist, dass die türkische Gesellschaft auf ein gewisses demokratisches Erbe (democratic legacy) blicken könne. Darauf fuße auch die (relative) demokratische Resilienz (democratic resilience) von Opposition und Zivilgesellschaft, was zusammengenommen bisher einen so weitreichenden Grad von Autoritarisierung verhindert habe, wie er etwa in Ägypten oder Russland erreicht ist (Öktem 2023). Der dennoch insgesamt schlechte Befund für die Demokratieentwicklung gilt natürlich zuerst für die Türkei, ihre politische Kultur und die Folgen für die Gesellschaft – besonders für Oppositionelle, Minderheiten, Freigeister und Unangepasste.

Doch hier soll es um einen Ausschnitt aus der grenzübergreifenden Arena gehen, die wesentlich für alle Spielarten des zeitgenössischen Neopopulismus ist – welchem der Rechtspopulismus des AKP-Regimes durch Art, Inhalt und Reichweite seiner Sendung zuzurechnen ist: Alle türkischen Wahlkämpfe der letzten Jahre wurden nicht nur in der Türkei ausgetragen, sondern auch auf dem Balkan (Clapp 2018), in Deutschland, den Niederlanden, den USA sowie weiteren Bühnen. Damit nimmt die Entwicklung in der Türkei auch Einfluss auf die Bildung öffentlicher Meinungen und Haltungen zu Demokratie in den genannten Ländern und ihren Gesellschaften. Genau darin besteht der markanteste Unterschied zu „klassischen Populismen“, die hauptsächlicher Gegenstand der kaum noch überschaubaren Fülle von Fachliteratur zum Thema Populismus sind (Mudde & Rovira Kaltwasser 2017; Rosanvallon 2020; Laclau 2005; Mouffe 2018; 2020 ).

Klassische Populisten, so könnte die Unterscheidung zu Neo-Populisten getroffen werden, agieren in einem national eingegrenzten Geltungsbereich, während die Strahlkraft letzterer nationale Grenzen transzendiert — vor allem mittels „neu verdrahteter“ (Oates 2021; Tumber & Waisbord 2021), digitaler Kommunikationstechnologie. Dadurch haben Volumen und Reichweite populistischer Sendungsradien nicht nur zu einem vorher unmöglichen Maß zugenommen und neue Handlungsräume eröffnet, sondern auch zu einem Neuauswertungsbedarf von Begriffen wie ‚Misinformation‘, ‚Desinformation‘ und ‚Propaganda‘ sowie zu einer Reihe inzwischen etablierter Neologismen wie ‚Post-Faktizität‘, ‚Post-Truth‘, ‚Alternative Facts‘, ‚Fake News‘ etc. geführt (Tumber & Waisbord 2021).

(Eine vertiefte Diskussion zur Rolle der Digitaisierung und Medialisierung findet sich unter den Beiträgen der Kategorie NEOVOX, wie zum Beispiel im Blogpost Was ist Plattform- und Meinungskapitalismus?)

Obwohl das grenzübergreifende Handeln türkischer Akteure und (nicht ausschließlich) staatlich koordinierter Diaspora-Organisationen eine seit Jahren immer wieder beschriebene Entwicklung ist (), wird dies selten unter dem Gesichtspunkt grenzübergreifenden Populismus getan, wie auch Imdat Oner und Lana Shehadeh in ihrer vergleichenden Analyse populistischer Sprechakte des türkischen Präsidenten Erdoğan und des früheren venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez (gest. 2013) feststellen (Oner & Shehadeh 2023):

Populist leaders, political parties and mass movements have been critically examined, specifically after the 2016 U.S. election and the surge of populism worldwide as a result. Yet despite the considerable amount of scholarly attention given to the topic, its international dimension and ability to transcend beyond national borders have been rarely studied. The more recent literature on populism has focused predominantly on domestic politics with a significant disregard for the international dimension.

Oner & Shehadeh 2023: 29.

In Deutschland und Berlin wurde die jüngste Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und mitgestaltet. Das liegt nicht zuletzt daran, dass hier eine beträchtliche Anzahl von Einwohnerinnen und Einwohnern mit türkeistämmigem Hintergrund und Wahlberechtigung lebt. Dadurch sind viele Menschen nicht nur auf die ein oder andere Weise betroffen von der Entwicklung im politisch-gesellschaftlichen Feld in der Türkei. Über Mehrfachstaatsbürgerschaften und die Wahlmöglichkeit über die Auslandsvertretungen sind sie auch aktiv Beteiligte. Auch aus diesem Grund setzten in Deutschland unmittelbar nach den Wahlergebnissen kritische öffentliche Diskussionen über das Wahlverhalten ein – oft mit unangenehmen Folgen für türkeistämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen sich manche einem pauschalen Rechtfertigungsdruck für das Wahlverhalten „der Türken in Deutschland“ ausgesetzt sahen (Dalaman 2023; Ernüchterte Berliner Reaktionen auf Erdogan-Wiederwahl 2023; Interview mit Burak Çopur 2023; Interview mit Özgür Özvatan 2023; Kritik von Özdemir 2023; Püttmann 2023).

Diese Diskussionen waren keineswegs überraschend. In ähnlicher (aber viel schärferer) Form hatte es sie bereits seit einigen Jahren gegeben: In Erinnerung geblieben sind zum Beispiel die aufgeregten Debatten rund um das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems 2017, die als einer der Meilensteine im Ausbau autokratischer Herrschaft in der Türkei gelten. Im Vorfeld des Referendums war es durch rechtspopulistische, demagogische Tiraden des AKP-Regimes in Europa zu regelrechten diplomatischen Eklats gekommen: die Niederlande wurden für den Genozid an den Bosniaken Srebrenicas alleine verantwortlich gemacht und als Mörder und Nazis bezeichnet, weil die niederländische Regierung Wahlkampfaustritte im Land untersagt hatte; dies hat auch zu einer kritischen Stellungnahme des Genozidüberlebenden Hasan Nuhanović in Bosnien-Herzegowina geführt (Brech 2017; Nuhanović 2017).

Ebenso wenig vergessen sind die Drohungen des türkischen Präsidenten, Flüchtlinge als Druckmittel zu instrumentalisieren und „gegen Europa“ einzusetzen. Große Verstimmung auf vielen Ebenen hat auch die Geiselhaft des deutschen Journalisten Deniz Yücel erzeugt, der durch seine doppelte Staatsbürgerschaft in eine prekäre juristische Lage geraten war: der Handlungsspielraum der Deutschen Botschaft war trotz Yücels deutscher Staatsbürgerschaft sehr begrenzt. Vom türkischen Präsidenten war Yücel als „Deutscher Spion“, „Terrorist“ und Spionageterrorist“ bezeichnet worden — und im Verlauf des Diskurses wurden die Ausfälle Erdoğans immer heftiger: so drohte er allen „Westlern“, dass „in Zukunft keiner von ihnen noch einen Schritt auf die Straße setzen können wird, wenn sie so weiter machen“ (Erdoğan’dan Avrupa’ya ‚uyarı‘ 2017).

Auch die damals wie heute hitzigen Debatten rund um den türkeistämmigen Fußballprofi Mesut Özil haben zu teils schroffen Auseinandersetzungen geführt, nachdem sich Özil regelmäßig in freundschaftlicher Nähe Erdoğans gezeigt hat: als Özil 2019 in Istanbul heiratete, trat der türkische Präsident sogar öffentlichkeitswirksam als sein Trauzeuge auf (Özil feiert Hochzeit mit Erdogan 2019). Zuletzt ist Özil durch sein Zeigen einer Tätowierung des Symbols der rechtsradikalen Bewegung Graue Wölfe (Bozkurtlar) erneut in die Kritik geraten (Wißing 2023).

Die Diskussionsstränge rund um die Türkei-Wahlen 2023 lassen sich in (mindestens) drei Meinungsfelder untergliedern. Erstens wurde gefragt, wieso dieses Ergebnis Anlass zu lauten, freudigen Auto-Korsos in deutschen Städten gesorgt habe. Wie könne es sein, dass eine so große Anzahl Türkeistämmiger, die in Besitz der türkischen Staatsbürgerschaft sind und ihr Wahlrecht wahrgenommen haben, für Recep Tayyip Erdoğan gestimmt haben? Ob sich diese Wähler:innen denn wirklich darüber im Klaren seien, dass der türkische Präsident ein Feind der Demokratie ist; dass er mit islamistischen, rechtsradikalen, frauen- und minderheitenfeindlichen Parteien im Bund steht; und befürworteten sie tatsächlich seine Weltsicht? Lässt sich das Wahlverhalten als Protest und vielzitierter „Denkzettel“ gegen erfahrene Diskriminierung, Kränkungen, Armutserfahrungen oder ein grundsätzliches Gefühl des Abgehängtseins im Bereich der Bildung und der Berufschancen verstehen? Und was ist dann mit denjenigen, die ebenfalls diese Erfahrungen gemacht haben, aber nicht rechtspopulistisch wählen? Und ähnelt diese Erklärung nicht auch ein wenig den Diskussionen über abgehängte Ostdeutsche während der frühen 1990er Jahre, die sich der Neonazi-Bewegung anschlossen, rassistische Einstellungen pflegten und bis heute erschreckend stabile, rechtsextreme Strukturen etabliert haben?

Zweitens kursierten ebenso schnell Analysen und Ansichten, die betonten, dass die reale (also die relative und absolute) Wahlbeteiligung aller wahlberechtigter türkischer Staatsbürger:innen keineswegs zum Ergebnis führe, dass „die Mehrheit der Türk:innen in Deutschland“ entschlossene Erdoğan-Wähler:innen seien. Ein häufig zu lesender (und berechtigter) Einwand lautete, dass die alleinige Einbeziehung der absoluten Zahlen von Wähler:innen mit türkischem Pass und das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern des rechtspopulistischen Autokraten Erdoğan zu verzerrten Ergebnissen führen müsse; damit würden außerdem anti-türkische, rechtspopulistische Einstellungen verstärkt, ob von Seiten ethnischer Deutscher oder anderer post-migrantischer Communities. Erinnerte nicht schon die Frage „Wie können sie nur…?“ an eine übertriebene Skandalisierung, die gar mit rassistischen Stereotypen zu tun habe? Auch Konflikte wie der türkisch-kurdische könnten durch die Darstellung, „die Türken in Deutschland“ seien generell Nationalisten und Islamisten, befeuert werden.

Drittens schließlich – als ob die Lage nicht an sich schon komplex genug wäre – kursierten Meinungsbilder und Kurzinterviews auf den Sozialen Medien, wie jene der bereits genannten Berliner Journalistin Nalan Sipar, welche jede Einordnung des Wahlverhaltens erschwerten. Ein häufiger anzutreffendes Meinungsbild spiegelte sich etwa im Kurzinterview mit einem türkeistämmigen Kreuzberger Jungen, der angab, in Deutschland die Grünen wählen zu wollen – in der Türkei jedoch auf jeden Fall den Rechtspopulisten Erdoğan. Dieser sei “einfach cool”, wie „ein Playboy“, mache den Islam größer, usw.1Im unten eingebetteten Youtube-Short gibt der junge Mann an, „Merkel“ wählen zu wollen; seine Stellungnahme zu den Grünen ist in diesem Video nicht mehr genauso eindeutig nachvollziehbar wie im ursprünglich kursierenden Video, dass Sipar geteilt hatte (es wird sich womöglich noch im Netz finden lassen, ich habe es nicht überprüft) .

Die Reaktionen in den Kommentarzeilen der Meinungsplattformen zeigen, dass diese Haltung von Außenstehenden (d.h. Menschen ohne Bezug zum türkischen politischen Feld) als widersprüchlich und kurios aufgenommen wurde: grüne und diversitätsbejahende Politik in Deutschland einerseits – und rechtspopulistische, minderheitenfeindliche Politik in der Türkei: das war doch ein klarer Widerspruch!

Diese und weitere Fragen unterstreichen folgendes:

Wenn wir heute in Europa (und weltweit) über Populismus sprechen, dann sprechen wir fast immer von Neopopulismus. Ob das Putin-Regime in Russland mit seinen neoimperialen Ambitionen, Viktor Orbán in Ungarn mit seinem Trianon – Revisionismus, Aleksandar Vučić in Serbien mit seiner verlässlichen Kosovo – Retourkutsche – oder Erdoğan in der Türkei mit seinem neoosmanischen Sendungsbewusstsein: all diese populistischen Bewegungen mögen zwar in einem bestimmten, eingegrenzten Land und der jeweiligen Wählerschaft konzentriert sein. Dennoch ist für sie kennzeichnend, dass sie in Sendung und Wirkungsradius staatliche Grenzen überschreiten – besonders, wenn es eine große Anzahl von wahlberechtigten Staatsbürger:innen, Auswanderern oder „Diaspora“ in anderen Ländern gibt.

Binäre Erklärungsmuster wie links/rechts, liberal/konservativ, rückschrittlich/progressiv erscheinen durch das Kuriosum des AKP-Wählers, der in Deutschland die Grünen wählen würde, sowie weitere, verwässernde politische Haltungen fragwürdig, wenn nicht obsolet. Wenn es darum gehen soll, dem Phänomen der Befürwortung autokratischer, identitärer Herrschaft in einem neopopulistischen, also grenzübergreifenden, mehrsprachigen Kontext auf den Grund zu gehen, reichen diese traditionellen Parameter nicht mehr aus. Wer sich mit den demagogischen Strategien und der Rhetorik des AKP-Regimes beschäftigt, wird den oben genannten Widerspruch schnell weniger grotesk finden und Schnittmengen erkennen zwischen linksliberalem, identitätspolitischem Repertoire einerseits – und rechtspopulistischer, identitärer Demagogie andererseits.

Es kann als ein besonders efolgreicher und geschickter Aspekt autokratischen Lernens gelten, dass sich das AKP-Regime identitätspolitische, im deutschen Kontext zumeist als linksliberal geltende Diskurse und Begriffe wie Islamophobie, Rassismus, Religionsfreiheit und Minderheitenrechte systematisch angeeignet bzw. instrumentalisiert hat. Mit feinem Gespür für instrumentalisierbare Kränkungen greifen weitere (Diaspora-)Institutionen und neue Medien die oben genannten sowie weitere, emotional und affektiv besetzte Themen auf, um sich selbst als “Beschützer” zu inszenieren. In diesem Bereich hat das Regime sogar eine höchst fragwürdige Zusammenarbeit mit internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erreicht, die sich regelmäßig mit Länderstudien am European Islamophobia Report beteiligen. Dieser wurde bis 2019 vom AKP Think Tank SETA herausgegeben, erscheint inzwischen aber (seit 2020) als Publikation des undurchsichtigen Wiener Leopold Weiss Instituts2Das Leopold Weiss (Weiß) Institut (Leopold Weiß Institut zur Erforschung zeitgenössischen muslimischen Lebens und Denkens) scheint nach dem Geburtsnamen des aufklärerischen muslimischen Denkers Muhammad Asad benannt zu sein und hat keinen eigenen Internetauftritt. Die Desktoprecherche legt den Schluss nahe, dass es sich um eine Ausgründung von SETA handelt., wobei die personale Herausgeberschaft gleich geblieben ist. Dass in der Türkei keine dieser linken oder inksliberalen Werte vom AKP-Regime umgesetzt oder auch nur beherzigt werden, scheint in der (selektiven) Wahrnehmung neopopulistischer Unterstützerinnen und Unterstützer des Regimes, ob in Deutschland oder andernorts, nicht ausschlaggebend zu sein. Wie der Fall Özil zeigt, kommt es durchaus vor, dass ein und dieselbe Person Rassismus anprangert, sich aber andererseits einer faschistischen Bewegung und einem rechtspopulistischen Führer zuwendet.

Die Doppelmoral des rechtspopulistischen AKP-Regimes – wobei „Doppelmoral“ auch ein überaus beliebtes, antiwestliches Argument islamistischer Rhetorik darstellt – scheint in einigen Fällen gar nicht erkannt zu werden. Dass diese Dynamik selten als Teil einer illiberalen, rechtspopulistischen, neopopulistischen Rhetorik analysiert wird, dürfte aber auch mit Denkgewohnheiten und eindeklinierten, binären Zuordnungsschemata zusammenhängen, wonach bestimmte Formen der Kritik als „rechts“ oder „links“ zu gelten hätten: Identitätspolitik, derer sich sowohl rechtspopulistische als auch linksliberale Akteure bedienen, in Frage zu stellen, gilt als riskant und wird vermieden; kein aufrichtig links oder linksliberal denkender Mensch will sich dem Verdacht aussetzen, mit rechten oder gar rechtsradikalen Haltungen zu sympathisieren — auch durch die zu befürchtenden Shitstorms über Meinungsplattformen wie (Ex-)Twitter.

Weil sich die grundlegenden Veränderungen des illiberalen Feldes jedoch aller Voraussicht nach nicht mehr von der grenzübergreifenden Ebene auf eine Binnenebene nationalstaatlich eingegrenzter und eingrenzbarer Diskurse mit ihren binären Ordnungselementen verlagern werden, stehen in Zukunft noch zahlreiche Auseinandersetzungen in diesem komplexen Feld der Diskursanalyse an.

Neopopulisten mobilisieren und instrumentalisieren grenzübergreifend Stimmen vor allem aus einem ganz einfachen Grund: sie passen sich schlichtweg den Veränderungen und kommunikationstechnologischen Möglichkeiten unserer Zeit an. Wenn man so will, so könnte man sie auch als aktive Mitgestalter der weltweiten Metamorphose des gesamten politischen Feldes verstehen – welche mit dem Oberbegriff der Globalisierung nur sehr ungenau zu fassen ist. Sie tun gewissermaßen nichts anderes als global agierende Medien, Holdings, Unternehmer, Menschenrechtler, Klimaschützer, liberale politische Aktivist oder Banker. Die Zeiten, da Rechtspopulisten wie das AKP-Regime versuchten, ganze Social Media Plattformen zu sperren, sind längst übergegangen in gezielte, aktive Nutzung.

Dass gerade rechte, identitäre Neopopulisten ebenso globalisiert denken, planen und handeln, erscheint aus einem Grund besonders hervorhebenswert: ihr globaler Blick widerspricht alten Denkgewohnheiten, diese Gruppe – Rechtspopulisten – als engstirnig, eingegrenzt und gegenüber anderen hinter nationalen Grenzen abgeschottet wahrzunehmen. Doch auch das gehört seit langem der Vergangenheit an, wie zahlreiche Bündnisse rechtspopulistischer Parteien (z.B. im EU-Parlament) und Regime (z.B. Russlands, der Türkei, des Irans, Ungarns, usw.), global sendende, neopopulistische Medien (z.B. Sputnik, Russia Today, TRT World, usw.) sowie das gesamte Phänomen autokratischen Lernens zeigen.

Referenzen

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