1. Neostory

„The twentieth century began with utopia and ended with nostalgia.“

– Svetlana Boym

Geschichte spielt im neopopulistischen Diskurs auf zwei Ebenen eine zentrale Rolle: erstens in einem historiographischen Sinn, und zweitens aus diskursanalytischer und sozialpsychologischer Perspektive. Für die Historiographie ist die Ergründung der historischen Gewordenheit der geopolitischen und technologischen Wende von zentraler Bedeutung: diese facettenreiche Wende muss nicht nur als Teil eines kosmopolitischen Prozesses gesehen werden, sondern ist bedingend und grundlegend für die Hervorbringung des heute vorherrschenden Neopopulismus. Deshalb gilt es, in den betrachteten und unterschiedlichen Ländern sowohl den je eigenen, als auch den verbindenden, globalen Kontext zu beachten. Auf der Meta-Ebene der historischen Diskursanalyse und hinsichtlich der Rolle von Geschichte in sozialpsychologischen Zusammenhängen gestalten sich die Herausforderungen für die interdisziplinäre Forschung besonders komplex: Geschichte — in diesem Fall schwerpunktmäßig die Zeitgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — kann und muss zu gegebener Zeit einer Relevanz- und Fakten-basierten Revision unterzogen werden. Andererseits wird Geschichte von neopopulistischen Geschichtrevisionisten für politische Bedürfnisse instrumentalisiert, selektiv geformt und für populistische Manipulationsstrategien missbraucht. Obwohl der neopopulistische Missbrauch von Geschichte einer visionslosen Flucht in die Vergangenheit gleichkommt, schmälert dies keineswegs den Bedarf nach kritischen Geschichtszugängen für die Gegenwart und Zukunft: nur über faktenbasierte, kritische Geschichte ist die Genese aktueller und zukunftsgewandter Probleme verstehbar. Entsprechend dieser vielschichtigen Problemlage rund um das Thema Geschichte sind die Beiträge der Kategorie Neostory in die folgenden sechs Unterkapitel gegliedert.

Bildquelle: Wikipedia1ADN-ZB-Ludwig-10.11.89-Bez. Erfurt: Reiseregelung-Der Verkehr auf der Autobahn Magdeburg-Marienborn wird von Stunde zu Stunde dichter. Trotz zügiger Abfertigung von DDR-Bürgern am Grenzübergang Wartha im Kreis Eisenach kam es zu erheblichem Stau.

1.1 Wende & Zeitenwende

Der weltweit zu beobachtende Neopopulismus muss vor dem Hintergrund der Wende begriffen werden, die ihn hervorgebracht hat, die ihn immer wieder aufs Neue hervorbringt und die sich auch in der Art und Weise ausdrückt, wie im neopopulistischen Diskurs kommuniziert wird. In Europa, wo die bipolare Teilung des Kalten Krieges quer durch den Kontinent verlief, werden nach wie vor in erster Linie die späten 1980er und die 1990er Jahre als entscheidende, transformative Wendezeit erinnert: kein Wunder, verlief der sogenannte Eiserne Vorhang doch manchmal direkt vor der eigenen Haustür, durch die eigene Stadt oder innerhalb der eigenen Familie. Doch auch heute ist wieder von einer Wende die Rede — gar von der Zeitenwende und einem neuen, erdgeschichtlichen Zeitalter: dem Anthropozän.

Bildquelle: T. Schad2Teufelsberg in Berlin, August 2002.

1.2 Neopopulismus & Medialisierung

Der Übergang vom „klassischen“ Populismus zum gegenwärtigen Neopopulismus steht in einem unauftrennlichen Zusammenhang mit der fortschreitenden Medialisierung und Weitung des Raumes von Öffentlichkeit. Klassische Definitionen von Populismus betrachten vor allem sprachlich und nationalstaatlich eingegrenzte Diskursräume. Der jüngere Neopopulismus, der ohne die jüngeren Internetgenerationen und Meinungsplattformen kaum denkbar wäre (s. NEOVOX), gestaltet sich dagegen zunehmend als grenz- und sprachübergreifendes Phänomen, indem mehr als eine nationale Öffentlichkeit angesprochen wird.

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1.3 Geographie & Teilprojekte

Die gegenwärtige und in diesem Forschungsprojekt untersuchte Komplizenschaft zwischen Neopopulismus, Geschichtsrevisionismus und Relativierung der Klimawandelfolgen ist nicht nur auf Europa beschränkt, sondern global zu beobachten. Die empirische Datenerhebung in diesem Projekt erstreckt sich vorerst auf den mittel-, ost- und südosteuropäischen Raum: die drei Deutschlands, die post-jugoslawischen Länder, den post-sowjetischen Bereich (Schwerpunkt Russland/Ukraine), sowie die Türkei — wobei diese Teilräume nicht abgetrennt voneinander, sondern in ihren Überlappungen betrachtet werden. Diese Multiperspektivität soll am Ende erlauben, Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Logik neopopulistischer Diskurse herauszustellen, zu verallgemeinern und mit anderen neopopulistischen Diskursen außerhalb Europas in Beziehung zu setzen.

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1.4 Revision & Historiographie

Wie das prominente Beispiel des deutschen Historikerstreits (1986/87) sowie die unter dem Titel Historikerstreit 2.0 ausgetragene (Online-) Debatte aus dem Jahr 2021 über den Platz von Nationalsozialismus und Kolonialismus im deutschen Geschichtsbewusstsein zeigen, kommt es unter bestimmten Umständen — zum Beispiel durch neue Erkenntnisse oder das Aufkommen neuer Relevanzfragen — zum Ruf nach Revision etablierter Geschichtsbilder und ihrer Auslassungen. Im Fall des vorliegenden Projektes und der Frage danach, was unter der Wende zu verstehen ist, müssen vor allem zeitgeschichtliche Annahmen über die Wendezeit der 1980er-1990er Jahre in Europa sowie ihre Auswirkungen hinterfragt werden. Dazu gehören die Dekonstruktion neoliberaler Sackgassen der Wachstumsideologie ebenso wie die Revision einer insgesamt weitestgehend anthropozentrischen Historiographie, in der stets die Geschichte der Menschen im Zentrum stand. Dies hatte eine Unterrepräsentanz nicht-menschlicher Umwelt zur Folge, was sich im (insgesamt gesehen) geringen Bestand von Umwelt- und Katatstrophenhistoriographie spiegelt.

Bildquelle: T. Schad, Istanbul 2016.

1.5 Revisionistische Flucht

Im Gegensatz zum relevanz- und faktenbasierten Verfahren in Debatten zur Revision von Geschichte greifen neopopulistische Revisionisten typischerweise auf Themen der Vergangenheit zurück, die sie ihren politischen Projekten anpassen und mit ihrem Gespür für die therapeutische Wirkung ihrer Sendung kombinieren. Revisionistischen Schlagwortprojekten wie der Serbischen Welt, der Russischen Welt, dem Neoosmanismus, der Reichsbürgerbewegung, den Querdenkern und Pegidisten, aber auch zahlreichen anderen europäischen und globalen Revisionismusprojekten ist gemein, dass ihre Sendung auf jeweils ethno-national eingrenzbare Sender zurückführbar ist3So geht das Projekt der Serbischen Welt auf serbische, das der Russischen Welt auf russländische, der Neoosmanismus auf türkische, die Reichsbürgerbewegung auf deutsche Ursprünge und Sender zurück und so fort.; andererseits stellen genau diese Sender aber Grenzen in Frage, richten sich an eine vox populi außerhalb des eigenen politischen Gemeinwesens, arbeiten in supranationalen Verbänden zusammen (wie zum Beispiel im EU-Parlament) und lernen effektiv von einander im Kontext des autokratischen Lernens.

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1.6 Narration, Identität & Zukunft

Geschichten zu erzählen ist maßgeblich für die Ausbildung von Identität, so der französische Philosoph Paul Ricœur — und damit ein menschliches Grundbedürfnis. Doch welche Geschichten erzählen wir uns? Und wie gehen wir angesichts der Meta-Katastrophe des menschlich induzierten Klimawandels damit um, dass vieles von dem, was „normal“ war oder sogar als anstrebenswert galt, in den katastrophischen Progress führte? Ausgehend von der Beobachtung, dass alle revisionistischen Geschichtsprojekte in die umgekehrte Richtung führen, sucht dieses Projekt nach alternativen, tragfähigen Geschichten aus der sozialen Wirklichkeit der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft. Diese Geschichten werden in den anderen beiden Teilprojekten von Hermannova in den erprobten Differenzgemeinschaften des Balkans und der turbulenten Geschichte der heute super-diversen, deutschen Hauptstadt Berlin gesucht.