Idee & Konzept

Das Projekt Neopopulismus: Revisionismus und Meta-Katastrophe ist das erste von drei Teilprojekten von Hermannova: Grounded Theory from Berlin and Bosnia. Hermannova erforscht eine komplexe, globale Komplizenschaft in lokalen Kontexten, die meistens in mehr oder weniger voneinander abgetrennten Disziplinen in ihren einzelnen Aspekten bearbeitet wird. Dem wissenschaftlichen Prinzip des ergebnisoffenen Forschungsprozesses von Grounded Theory verpflichtet, sucht das Gesamtprojekt Hermannova in einem Mehr-Methoden-Ansatz nach Lösungen.

Das erste Teilprojekt Neopopulismus, in dem es um eine vertiefte Problemanalyse geht, kann noch keine eindeutigen, praktischen Antworten auf völlig ungelöste Problematiken bieten: darunter metamorphe Nationalstaatlichkeit, zunehmende Kosmopolitisierung und eine generelle „Metamorphose der Welt“, wie sie Ulrich Beck (2016) am Ende seiner Betrachtung genannt hat, die aus einer — historisch betrachtet — rasanten Inkubationszeit der Industriemoderne und Risikoproduktion (Beck 1986) entstanden ist. Heute wird dieser Prozess oft auch als Anthropozän bezeichnet (Tanner 2022). Vor diesem (unter Theorien & Methoden) noch genauer zu beschreibenden Hintergrund setzt sich das Teilprojekt Neopopulismus aus multidisziplinärer Perspektive mit folgenden Fragen auseinander:

  • Wo ist fakten- und relevanzbasierte Revision von Geschichtsbildern und Geschichte sinnvoll, und worin besteht der Zusammenhang mit neopopulistischem Revisionismus?
  • Wie hängen naturräumlicher Klimawandel und illiberaler Progress (z.B. Demokratieabbau und Autokratieförderung in europäischen Staaten und global) miteinander zusammen?
  • Wie sind die Auswirkungen der Digitalen Revolution, insbesondere der Kommunikationstechnologie und der Stand der digitalen Mündigkeit, mit der populistischen Hochkonjunktur in öffentlichen Meinungsbildungsprozessen verknüpft?
  • Was hat der Trend von Identität und Identitarismus unterschiedlicher Couleur mit Angst vor Weltverlust zu tun, wie er sich zum Beispiel in Phänomenen wie Doomismus oder neoreligiösen Bewegungen1Dazu wären zum Beispiel die evangelikalen Bewegungen in den Amerikas und Afrika, zahlreiche der neueren islamistischen Bewegungen, orthodoxe Strömungen etc. zu rechnen äußert?

Die zu diesen (sowie mit ihnen verbundenen, weiteren) Fragen zusammengetragenen Forschungsergebnisse können einerseits als eigene Arbeit gelesen und genutzt werden. In diesem Sinn können sie in einer hybriden Monographie, aber auch als Science Blog mit öffentlich zugänglichen Ressourcen Verwendung finden — ob in der Forschung, im Unterricht, oder als Plattform für den weiteren Austausch. Genauer werden die Potenziale und Herausforderungen rund um Open Science auf der Seite Open Science Inkubator sowie in den Blog Posts der Kategorie Open Science erörtert.

Doch anders, als die vorläufige Tagline der Projektseite — Revisionismus und Meta-Katastrophe — vielleicht suggerieren könnte, geht es beim Forschungsansatz von Hermannova nicht darum, „nur“ einen katastrophischen Progress festzustellen, indem dieser aus allen möglichen, unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Ohne einen normativen Ansatz könnte dadurch sogar das zeitgeistige Phänomen des Doomismus (dt. Klima-Weltuntergangsstimmung) unterfüttert werden, das der neopopulistischen Dynamik indirekt und unbeabsichtigterweise weiteren Vorschub bieten könnte.2Die Bloggerin Doreen Brumme definiert den Neologismus Doomismus (auf einer kommerziellen Website) folgendermaßen: Der Begriff Klima-Doomismus ist dem englischen Ausdruck “climate doomism” entlehnt. Darin stecken die englischen Wörter “climate” und “doomism” beziehungsweise “doom”.“Doom” lässt sich mit “Untergang”, “Verhängnis” und “Unheil” übersetzen. Auch “Verderben”, “Schicksal”, “Verdammnis” und “Todesurteil” sind als Übersetzung geläufig. Sehr bekannt ist die Vokabel “Doomsday”, die für “Weltuntergang” beziehungsweise “Weltuntergangstag” steht. “Doomism” ist dementsprechend die “Weltuntergangsstimmung” beziehungsweise das “Untergangsdenken”. Demnach geht es beim Klima-Doomismus rein begrifflich um den Klima-Weltuntergang beziehungsweise um die Klima-Weltuntergangsstimmung.“

Um die Notwendigkeit einer interdisziplinären Herangehensweise nur beispielhaft zu erläutern: zahlreiche Populismusstudien gehen bei der Analyse des nativistischen Populismus in Westeuropa begründeterweise davon aus, dass der Nativismus, der auf eine starke Akzentuierung von Ausgrenzungsdynamiken angeblich „Etablierter“ gegen „Außenseiter“ setzt, mit der zahlenmäßig starken, historischen Zuwanderung während des 20. Jahrhunderts zu tun habe (Arbeitmigrationen, postkoloniale Migrationsprozesse, Asylsuche, Flucht usw.) — während sich andererseits das Element des „Führers mit starker Hand“ dort überlebt habe; gerade weil es vergleichbare demographische Dynamiken in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes nicht gegeben habe, gestalte sich dort der Populismus eher als „klassischer“ Populismus, der stärker dem plebiszitären Cäsarismus des frühen 20. Jahrhunderts gleiche. Doch eine (hinterfragungswürdige) Begrenzung der Analyse auf diese historischen Aspekte könnte unbeleuchtet lassen, welche Rolle mögliche andere Faktoren spielen — wie zum Beispiel die Auswirkungen des Klimawandels, der neoliberale Abbau des Sozialwesens, neoreligiöse Sendung, Flucht in irrationale Weltbilder, Emotionen und Affekte, oder die schiere Reichweite jeder polarisierender Sendung durch „social media“ und digitale Souveränitätsdefizite.

Das Gesamtprojekt Hermannova verfolgt einen normativen, lösungsorientierten Ansatz. Unter Einbeziehung der kosmopolitischen, globalen Dimension, die durch den ersten Projektteil bereitgestellt werden soll, wird daraufhin in lokalen Kontexten Mittel- und Südosteuropas gefragt:

  • Welche Resilienzen und Strategien müssen Gesellschaften und politische Gemeinwesen entwickeln, um sich gegen den illiberalen Trend in eine überhitzte Zukunft durchzusetzen?
  • Wie können eine globale Perspektive und grenzübergreifendes Lernen helfen, dabei die Interessen aller Erdbewohner zu berücksichtigen — menschliche gleichermaßen wie nichtmenschliche?
  • Kann der historisch-anthropologische Erfahrungsschatz erprobter Differenzgemeinschaften nützlich sein, um Policies für die Gegenwart zu entwickeln?

Dieser Ansatz wird im unter Theorien & Methoden noch genauer herausgearbeitet.

Interdisziplinarität und Open Science

Aus der oben genannten, komplexen Komplizenschaft, so die Leithypothese des Projekts, speist sich die Welle von Neopopulismus, die sich besonders seit den jüngeren Internetgenerationen und dem Aufkommen der sogenannten social media auf globaler Ebene beobachten lässt. Dieser neue Populismus geht mit schwerwiegenden gesellschaftlichen und naturräumlichen Krisen, Teil-Katastrophen sowie noch unsichtbaren Konfliktpotenzialen einher. Das Feld für die Erforschung dieser Zusammenhänge ist theoretisch und praktisch ein kosmopolitisches: die gesamte Erde ist davon betroffen. Doch besonders deutlich treten die sozialen Verwerfungen in vulnerablen Differenzgemeinschaften der Gegenwart hervor — ob in Berlin, in Bosnien oder anderswo. Nur über eine interdisziplinäre, gleichzeitig transparente und möglichst verständliche Durchdringung des Gesamtzusammenhangs der genannten Komplizenschaft, so der Ansatz des Gesamtprojekts, lässt sich eine zukunftsabgewandte, illiberale Dynamik schließlich aufbrechen.3Prinzip und Entscheidung für Open Science wird auf der Seite Open Science Inkubator ausführlicher dargelegt sowie unter den Blog Posts der Kategorie Open Science bearbeitet. Die Spannungsverhältnisse der neopopulistischen Dynamik lassen sich in folgenden vier Gegensatzpaaren raffen, die auch strukturierend für den Aufbau des Hermannova-Teilprojekts Neopopulismus sind.

Geschichte: was hinter dem Neopopulismus steht

Erstens steht die unbewältigte, aber notwendige Revision über die Wendezeit zum Ende des 20. Jahrhunderts dem reaktionären, populistischen Revisionismus der Gegenwart gegenüber. Deshalb spielt Geschichte eine zentrale Rolle, und zwar sowohl in einem historiographischen Sinn, nämlich auf der Ebene der historischen Gewordenheit eines kosmopolitischen Prozesses, der zur heutigen Situation geführt hat, als auch auf diskursanalytischer und sozialpsychologischer Ebene – wenn Geschichte instrumentalisiert, selektiv geformt und therapeutischen oder politischen Bedürfnissen entsprechend umgeschrieben wird. Dieser Bereich wird hier mit der Kategorie NEOSTORY bezeichnet.

Politische(s) Gemeinwesen in Metamorphose

Zweitens befindet sich das politische Organisationsprinzip von Nationalstaatlichkeit in hoher, kosmopolitischer Metamorphose unter den Bedingungen der progressiven Meta-Katastrophe des anthropogenen Klimawandels — während gleichzeitig die Trägheit der Institutionen und das Denkparadigma des methodologischen Nationalismus fortwirken. Beiträge zu diesem Bereich finden sich unter der Kategorie NEOPOLIS.

Digitale Transformation öffentlicher Meinungsbildung

Drittens gedeiht auf dieser Grundlage ein (Neo-)Populismus, der zwar grundsätzlich dem klassischen Muster von Mobilisierung der vox populi gegen die (vermeintliche) Elite folgt, aber durch die Digitale Revolution und den Plattform- und Meinungskapitalismus neuen Gesetzmäßigkeiten und entgrenzten Dynamiken unterliegt. Eine große Zahl politisch mündiger Bürger:innen — mündig im klassischen Sinn, wie im jungen Politik-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung zusammengefasst — ist mit der Funktionsweise digitaler Kommunikationstechnologie jedoch nur auf einer oberflächlichen Ebene vertraut. Davon ebenfalls berührt ist der Wissenschaftsbereich, weshalb das Forschungsdesign dieses Projekts als Open-Science-Projekt versucht, dem Rechnung zu tragen. Dazu mehr unter den Bereichen und Kategorien NEOVOX und Open Science.

Emotionen und Affekte

Viertens und mit den digitalen Kommunikationsmöglichkeiten und Reichweiten verbunden, instrumentalisieren grenzübergreifende Neopopulisten in destruktivem Maß Emotionen und Affekte, was durch einen Mangel an politischen Zukunftsperspektiven, ungestillten spirituellen Bedürfnissen, unaufgearbeiteten Kränkungen und Traumata verstärkt werden kann. So setzen neopopulistische Akteure auf ein breites Repertoire sozialpsychologischer, religiöser, transzendenter, geschlechtlicher und weiterer affektiver Kategorien, die Zukunfts- und Weltverlustängste zu ihren eigenen Gunsten verstärken. Beiträge zu diesem Bereich sind unter der Kategorie NEOMOTION zu finden.

Hermannova: Grounded Theory from Berlin and Bosnia

Neopopulismus ist das erste von drei Teilprojekten von Hermannova: Grounded Theory from Berlin and Bosnia. Nachdem unter Neopopulismus eine vertiefte Problemanalyse auf das Zusammenspiel von Geschichtsrevisionismus, Klimawandel und die illiberalen, populistischen Bewegungen in Europa sowie weltweit erfolgt ist, geht es in Teil zwei (Berlin) und Teil drei (Bosnien) des Projekts um zwei unterschiedliche Mikro-Ebenen: zum einen um Erfahrungswerte im superdiversen Berlin (mit Schwerpunkt Neukölln), zum anderen in den erprobten Differenzgemeinschaften des Balkans (mit Schwerpunkt Krivajatal in Bosnien-Herzegowina). In der Synthese aller dreier Projekte sollen Policies und Empfehlungen für das interspezifische Zusammenleben in Differenz unter Berücksichtigung der Bedingungen der Meta-Katastrophe Klimawandel erarbeitet werden.