Methodologischer Nationalismus

Unter Methodologischem Nationalismus wird verstanden, dass auch die Art und Weise, wie wir soziale und politische Wirklichkeit wahrnehmen, durch nationalstaatliche Institutionen und Konzepte geformt, geprägt, strukturiert und finanziert wird. Wenn sich jedoch die Welt in einem Prozess der globalen Metamorphose befindet, so muss jede Wahrnehmung des Lokalen und Nationalen immer gleichzeitig global bzw. glokal sein. Um dem methodologischen Nationalismus eines allzu eingeengten Blicks auf Wirklichkeit zu entgehen, wird deshalb auch in der Analyse des Neopopulismus multiperspektivisch gearbeitet: es werden unterschiedliche Beispiele von Neopopulismus erfasst und auf strukturelle Übereinstimmungen und Analogien untersucht.

Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen den „klassischen“ Ausprägungen des Populismus aus der inzwischen metamorph gewordenen, nationalstaatlichen Ära — und dem Neopopulismus von heute. Wie im Kapitel Neovox (Meinungs- und Plattformkapitalismus) genauer thematisiert wird, kann eine erste Zäsur mit dem Aufkommen des Web 2.0 in den Nullerjahren und der stärkeren, kollaborativen Verzahnung über nationalstaatliche Grenzen hinweg angesetzt werden. Ein regelrechter Schub erfolgte mit den sogenannten sozialen Netzwerken von Online-Plattformen, deren Besitzer mit den höheren Übertragungsraten des mobilen Internets zu den umsatzstärksten und mächtigsten Global Players aufstiegen.

Durch diese kommunikationstechnologischen Veränderungen wurde die Welt auch für Populisten anders wahrnehmbar und nutzbar. Frühere Populisten konzentrierten sich hauptsächlich auf das innere Spannungsverhältnis zwischen Volk (populus) und (angeblicher) Elite. Der Referenzrahmen war weitgehend national, auch wenn bereits in den frühen Phasen des Nationalismus und der Nationswerdungsprozesse diasporische Netzwerke und Einflüsse von außen eine große Rolle spielten. Man versuchte, innerhalb des nationalstaatlichen Elektorats die Stimme des Volkes (vox populi) zu eigenen Gunsten zu beeinflussen.

Heutige Neopopulisten und Autokraten hingegen bauen aktiv ihre globale Wirkungsmacht aus, zum Beispiel über mehrsprachige mediale Ausgründungen: Russia Today (Russische Föderation), TRT World (Türkei), FOX Broadcasting Company (USA), Al Jazeera (Katar), Press TV (Iran) sind nur einige Beispiele. Auch aktive Wahlkampfmanipulationen in anderen Nationalstaaten spielen dabei eine große Rolle, wie die anhaltenden Diskussionen über die russischen Einmischungen in die Trump-Wahl in den USA (2016) zeigen. Ein weiteres Instrument ist die gezielte Mobilisierung diasporischer Gruppen und des Elektorats mit Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Dadurch werden soziale Spannungen erzeugt, deren Ursache und Dynamik aber nur erkannt werden können, wenn der Blick über den nationalstaatlichen Tellerrand hinaus erfolgt.

Die Forderung, vom methodologischen Nationalismus als einengender Perspektive zugunsten eines kosmopolitischen Blicks abzurücken, darf keinesfalls bedeuten, die Relevanz von Nationalstaatlichkeit in der Vergangenheit und Gegenwart auszublenden. Gerade hinsichtlich der CO2 Emissionen schlägt die Bilanz europäischer Nationalstaaten, der USA, Chinas oder der Golfstaaten viel stärker zu Buche als etwa anderer bevölkerungsreicher Staaten des globalen Südens, wie zum Beispiel Pakistans, die zu den Hauptleidtragenden des Klimawandels gehören. Auch werden weiterhin nationalstaatlichen Sicherheitskonzepten Vorrang eingeräumt, was die uneinheitliche Außenpolitik der EU gut illustriert. Auch Forschungslandschaften sind, trotz aller Bestrebungen nach Internationalisierung im Inneren, oft noch stark von staatlich oder regional festgelegten, mehr oder wenig getrennten Förderprogrammen strukturiert. Viele weitere Fakten unterstreichen die Relevanz von Nationalstaatlichkeit als modus operandum und modus operatum. Trotzdem — oder gerade aufgrund der fortbestehenden Aktualität — muss dieser Rahmen als problematisch und verengend für die Gegenwart und Zukunft der Erde als locus vivendi erkannt und erweitert werden.

Referenzen (Auswahl):
  • Beck, Ulrich und Edgar Grande: Jenseits des methodologischen Nationalismus: Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne, in: Soziale Welt , 61. Jahrgang, Heft 3/4, Variationen der Zweiten Moderne (2010), S. 187- 216. 
  • Beck, Ulrich (2016): The Metamorphosis of the World. Cambridge/Malden: Polity Press.
  • Bhabha, Homi K. (2004): The Location of Culture. London and New York: Routledge.
  • Chernilo, Daniel: Social Theory’s Methodological Nationalism. Myth and Reality, in: European Journal of Social TheoryFebruary 2006, Vol. 9, No. 1, pp. 5-22.
  • Chernilo, Daniel (2011). The critique of methodological nationalism: Theory and history, in: Thesis Eleven 106 (1), pp. 98-117.
  • Gupta, Akhil/Nugent, David and Shreyas Sreenath (2015). State, corruption, postcoloniality: A conversation with Akhil Gupta on the 20th anniversary of „Blurred Boundaries“, in: American Ethnologist, Vol. 00, No. 0, pp. 1-11.
  • Sharma, Aradhana and Gupta, Akhil (Eds.)(2006).The Anthropology of the State. Malden/Oxford/Carlton: Blackwell Publishing.
  • Wimmer, Andreas and Glick Schiller, Nina (2003). Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration: An Essay in Historical Epistemology, in: International Migration Review  Volume 37 Number 3 (Fall 2003): pp. 576-610.