Zuerst schrieb ich aus einer Position des gegängelten Denkens und Schreibens heraus, was zu monatelangem Nicht-Schreiben bzw. unfreiem Schreiben geführt hatte: „Aus sehr vielen Gründen ist es an der Zeit, vollkommen frei von gedanklichen Gängeleien über das Klima nachzudenken…“ — aber das ist natürlich stilistisch wie inhaltlich der reinste Unsinn. Bei Themen wie dem naturräumlichen und sozialen Klimawandel sollte immer radikal und niemals pragmatisch, subordiniert unter eines der tonangebenden Stabilitätsparadigmen gedacht werden. Nennen wir letzteres so: Denken in der Box — und stellen es paradigmatisch Hannah Arendts Denken ohne Geländer gegenüber. Oder warum kommen wir nicht (auch noch aus gegebenem Anlass) auf Immanuel Kants Mündigkeit zurück? Kant, von dem es heißt, Arendt habe seine Schriften bereits als Teenagerin inhaliert, ist auch eine von drei zentralen (um nicht zu sagen: die zentralste) Referenzen in Omri Boehms Buch Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität. Um dieses Buch geht es in diesem Response Paper.
Weil ich mit dem Klimawandel angefangen habe, stellt sich eingangs aber auch gleich die Frage, ob in dieser Hinsicht überhaupt noch etwas Neues herauskommen kann: Die totale soziale Tatsache des Klimawandels und seiner präsenten und noch kommenden Verheerungen liegt facettenreich ausgebreitet vor aller Augen auf dem Tisch. Mit dabei: das déroulement von Demagogie, Neopopulismus, Identitarismus/Identitätismus und das Ende der Demokratie in einer wachsenden Zahl von Ländern. Und, ja: Trump und Bolsonaro sind (vorerst) nicht mehr Präsident. Polen bewegt sich. In der Türkei schöpfen manche vorsichtig Hoffnung. In Deutschland werden Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Demokratie auf den Weg gebracht.
Nicht nur ist dieser kurze Lichtblick sehr verkürzt und ignoriert die andernorts beschriebene Autokratieförderung und den überproportionalen Normalzustand nicht-demokratischer Regime auf der Erde. Es wäre außerdem naiv, zu glauben, dass mit den genannte Beispielen jetzt eine Kehrtwende eingetreten wäre. Wie Omri Boehm in seinem neuesten Buch Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität feststellt — und Andere vor ihm haben den neoliberalen Progress (den Boehm nicht so nennt) schon früher beschrieben, wenn auch weniger brilliant — geht das janusköpfige Phänomen Identitarismus/Identitätismus (eigene Begrifflichkeiten, nicht Boehms) aus einem weit in das 20. Jahrhundert, eigentlich sogar bis in das 18. Jahrhundert zurückreichenden Irrweg hervor. Ich würde hinzufügen, dass mit dem Klimawandel, der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als krisenbeschleunigender Elefant zunächst weitgehend unbehelligt im Raum stand, lange Zeit niemand wirklich rechnen wollte. Ich kürze hier ab.
Boehm jedenfalls versteht das Phänomen Trump / Trumpismus als Ergebnis einer historischen Kontinuität, die unauftrennlich mit der intellektuellen Geschichte und der dominanten Ausprägung des pragmatischen amerikanischen Liberalismus zusammenhängt, die stark von Denkern wie John Dewey und später John Rawls geprägt wurde (um an dieser Stelle nur zwei wichtige Namen zu nennen, das Ganze ist noch ausführlicher darzustellen):
Es ist nur angemessen, dass dieses libertäre Zeitalter in der Figur Trump gipfelte, einem „opportunistischen, prinzipienlosen Populisten“.
(Boehm 2024, 102)
Boehm formuliert hier übrigens eine Kritik an der Kritik von Identität und Identitätspolitik in den USA, was den Bezug zum US-amerikanischen Politikwissenschaftler Mark Lilla im anschließenden Zitat erklärt, dem er im Prinzip nichts anderes als methodologischen Nationalismus vorwirft, womit Lilla glaubt, die Verirrungen der Identitätspolitik bekämpfen zu können:
In den Jahren, die seit den erregten Debatten um Lillas Intervention vergangen sind, hat Trump das Präsidentenamt verloren, der Trumpismus aber ist zum Mainstream geworden. Gleichzeitig hat der Identitätsjargon noch aggressivere, polarisierende und extremere Züge angenommen.
(Boehm 2024, 103)
Das ist in etwa der Zustand, wo wir immer noch stehen. Man kann dam Ganzen zusehen wie einer langsam über den Salat ziehenden Nacktschnecke, die im Großen und Ganzen niemand auf ihrem Weg stört. Stellt man ihr Hindernisse in den Weg, zieht sie sich zurück, nur um bald darauf wieder magnetisch vom Salat angezogen zu werden. Nahrungsangebot im Überfluss ist vorhanden. Vielleicht ist eine „Verschleierung“ des Kleinteiligen über eine solche Metapher erst einmal hilfreich, um sich die extreme Unübersichtlichkeit und Komplexität der Lage unserer Zeit als Ganzes vor Augen zu halten, die ich im Neopopulismus-Projekt als Meta-Katastrophe veruscht habe, zu erfassen. Andere Forscher:innen sprechen inzwischen von einer Polykrise. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung definiert eine Polykrise so:
Das Forschungsteam der in der Fachzeitschrift Global Sustainability veröffentlichten Studie definiert eine globale Polykrise als „kausale Verflechtung von Krisen in mehreren globalen Systemen, die die Perspektiven der Menschheit erheblich verschlechtern“. Globale Krisen entstehen, wenn kurzfristige und schnelllebige Auslöser wie politische Unruhen, starke Preisanstiege oder klimatische Extremereignisse mit langsameren und dauerhafteren Belastungen wie wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten oder der Klimaerwärmung kombiniert werden. Diese Entwicklungen können ein globales System wie die Nahrungsmittelproduktion, die globale Sicherheit oder die Finanzmärkte aus dem Gleichgewicht bringen und in eine Krise stürzen. In Verbindung mit anderen kriselnden globalen Systemen kann eine Polykrise entstehen, die nach Ansicht der Autoren als Ganzes und nicht isoliert verstanden und gelöst werden sollte.
Quelle: https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/covid-19-klimawandel-bewaffnete-konflikte-die-krisen-der-welt-koennen-zu-miteinander-verbundenen-polykrisen-fuehren vom 17.01.2024 (zuletzt abgerufen am 20.04.2024).
Der Anspruch bzw. die „Ansicht der Autoren“ — lese nur ich hier eine sogenannte „Hecke“ (hedge), eine prophylaktische Vorsicht gegenüber dem vorherrschenden Denken in der Box heraus? — liegt ganz im Sinne dieses Forschungsprojekts, dem übrigens bei einer Projektpräsentation aus einer Haltung der Kleinteiligkeit heraus Anmaßung und „zu großes Denken“ vorgeworfen wurde; ich halte diesen Vorwurf für einen symptomatischen Effekt falscher Komplexitätsreduktion. Wenn eine Krise aber tatsächlich eine Polykrise ist (wie vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung oben skizziert), dann kann sie gar nicht anders gelöst werden denn als Ganzes. Grundvoraussetzung dafür ist natürlich, dass erst einmal das Ganze zusammen gedacht wird — womit wir dem Universalimus einen Schritt näher wären und uns vom Identitätsparadigma bereits meilenweit entfernt hätten.
Ich bin auf ein zweites, interessantes Forschungsprojekt gestoßen, das sich ebenfalls mit der Polykrise beschäftigt und an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist. Hier wird auch auf das Problem der Komplexitätsreduktion gedeutet und stärker auf die sozialwissenschaftlichen Herausforderungen der Polykrise im wissenschaftlichen Feld eingegangen. Komplexitätsreduktion ist hier nicht als falsche Verkürzung zu verstehen, sondern offenbar als notwendiges Postulat einer Konzeptionalisierung durch Begriffe, Theorien und Methoden:
In den letzten Jahren hat die Welt verschiedenartige Krisensituationen erlebt, die als komplexes System aus parallelen, sich überlagernden und miteinander verbundenen Krisen verstanden werden können. Diese Polykrisen können potentiell das Versagen gesellschaftlicher und politischer Systeme verursachen, sind aber bislang konzeptionell sowie in ihrer Wirkung wissenschaftlich unterbeleuchtet. Dieses interdisziplinär angelegte Projekt zielt darauf ab, das Spannungsfeld zwischen komplexen Krisen und der notwendigen gesellschaftspolitischen Reduktion dieser Komplexität zu untersuchen. Denn gerade die Komplexitätsreduktion birgt das Risiko Krisenkommunikation scheitern zu lassen oder gesellschaftliche Diskurse zu polarisieren.
Im Zeitalter der Polykrise: Wie komplexe Krisen entstehen und wie wir ihnen begegnen können / Heidelberger Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.hadw-bw.de/junge-akademie/win-kolleg/komplexitaetsreduktion/polykrise (zuletzt abgerufen am 21.04.2024).
Einigermaßen ratlos attestiert die Projektskizze den schieren Mangel an Ansätzen im wissenschaftlichen Feld, die Polykrise konzeptionell und theoretisch zu erfassen:
Bislang gibt es keine theoriegeleitete konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Begriff Polykrise in den Sozialwissenschaften. Die bislang erfolgte Anwendung auf empirische Beobachtungen ist nicht ausreichend theoretisiert und somit bleibt es analytisch nebulös, wie eine Polykrise erkannt werden kann und welche Einzelkrisen in welcher Form ein komplexes System aus systemischen Risiken bilden. Wir sehen daher in der sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierung von Polykrisen eine Möglichkeit der Komplexitätsreduktion. Darüber hinaus gibt es bislang kaum empirische Analysen bezüglich des Verlaufs, dem Management sowie den Konsequenzen von Polykrisen für Gesellschaften und Staaten. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass die Wissenschaft noch keinen Konsens über eine adäquate Konzeptionalisierung von Polykrisen erreicht hat. Zum anderen zeigt sich aber bei den wenigen empirischen Untersuchungen, dass die Analyse von Polykrisen und deren Komplexitätsreduktion methodisch herausfordernd ist.
Im Zeitalter der Polykrise: Wie komplexe Krisen entstehen und wie wir ihnen begegnen können / Heidelberger Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.hadw-bw.de/junge-akademie/win-kolleg/komplexitaetsreduktion/polykrise (zuletzt abgerufen am 21.04.2024).
Genau da drückt der Schuh: wie kommen wir weg vom kleinteiligen Denken in der Box — und wie ist zu erklären, dass verbreitet genau das Gegenteil des Denkens im Ganzen stattzufinden scheint? Mir kommt es so vor, als würde inzwischen sogar wieder vermehrt gegängelt und eingeschränkt gedacht und geschrieben. Mein weiterer Eindruck dazu ist, dass sich Menschen quasi freiwillig in eine Art der Ein-Nordung begeben, um einem Bedarf nach vermeintlicher Ordnung nachzukommen; nach Ordnung, wo Ordnung freilich gar keinen Bestand hat. Ich bin mir außerdem ziemlich sicher, dass dieses Suchen nach falscher Stabilität keinerlei positiven Effekt haben kann — ja sogar: dass wir uns in dieser Gemengelage Denken in der Box am allerwenigsten leisten können. Dieses Bewegen in die Box hinein kann ganz unterschiedliche Formen annehmen; oft bedeutet es, wie in quasi allen beobachteten neopopulistischen Bewegungen, dass eine sehr starke Fürsprache restaurativer Nostalgie stattfindet.
Worin die gesamte Unordnung in den alten Koordinaten besteht, die zur Deutung der sozialen und naturräumlichen Lebenswelt früher so selbstvergewissernd herangezogen werden konnten, heute aber kaum mehr etwas taugen, muss ich nicht in einem Rutsch zusammenfassen. Den meisten Menschen ist sowieso längst „klar“, was damit gemeint ist: dass nämlich niemandem mehr irgendetwas klar ist. Es ist daher auch gar nicht überraschend, dass gerade ein journalistischer Trend zu beobachten ist: in gespielter Coolness wird allenthalben suggeriert, Katastrophismus sei jetzt gerade genau das Falsche. Die Warnung vor einem katastrophischen Zeitgeist, den ich für unaufhaltsam halte, mag darauf hinaus wollen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Nur so könnten die dringend benötigten, klugen Entscheidungen getroffen, Klimaziele erreicht, Emissionen gesenkt werden. Der kühle Kopf sei eben nicht in heller Panik in den Sand zu stecken, während alte und junge Demokratien vor Autokratie und Autoritarismus geradezu queue machen.
Andere Stimmen — ob aus dem alten Links, ob aus einem noch älteren Rechts — rufen zu angeblich kathartischer Selbstgeißelung: Die Zustände und das Wesen der liberal-demokratischen Gesellschaften seien dermaßen skandalös, korrumpiert und von Innen heraus so zerrottet, dass einzig und allein Identität und Identitarismus zu Besinnung führen könnten. Weil alles andere — nämlich echte Gleichberechtigung — ohnehin unerreichte, mithin unrealistische Utopie sei, wird argumentiert, dass auch jene Konflikte, die mit Identität begründet werden, sich nur mit Identität werden lösen lassen.
Allein: Das Problem mit der erhofften Katharsis, die in identitätspolitischen Diskursen litaneienhaft wiederholt wird, besteht darin, dass sie nie eintritt. Seit Identitätspolitik und ihre immer wieder neuen, normativen Postulate an die Sprache so hohe Konjunktur hat, ist ein kongruenter, sogar stärkerer Diskurstrend auf der Seite identitärer Populismusbewegungen zu beobachten. Beide Seiten scheinen sich gegenseitig hochzuschaukeln. Es muss nicht nur befürchtet werden, dass beide Seiten völlig in die Irre führen, sondern grundsätzlich zusammengehören. Wie Omri Boehm am Beispiel Dr. Martin Luther Kings und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zur Befreiung und Gleichstellung schwarzer Amerikaner:innen zeigt, waren wir schon einmal weiter. King und seine Unterstützer haben sich auf einen universellen Humanismus berufen, nicht primär auf Identität. Aus diesem Grund lohnt sich die Auseinandersetzung mit der vollständigen Argumentation Boehms zum radikalen Universalismus — aber nicht mehr in diesem Beitrag.
Referenzen
Boehm, Omri (2024 [2023]): Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität. Berlin: Ullstein.