Kategorien
Neopolis

Response Paper II: Über die Dekonstruktion von Identitätspolitik zu einem Dritten Weg?

Im zweiten Beitrag zu Boehms Argument für einen radikalen Universalismus werde ich hinterfragen, inwieweit es über eine erneute Gewichtung des kantischen Prinzips der absoluten Würde aller Menschen gelingen kann, die Demokratie gegen den Neopopulismus zu verteidigen. Im Argument gegen Identitätspolitik will ich am Ende versuchen, zu einer Synthese zu gelangen: einem Dritten Weg, der auf dem humanistischen Universalismus aufbaut, ihn aber um eine lebensweltliche Komponente erweitert

Dass die liberale Demokratie seit einiger Zeit in der Krise steckt, ist ein Gemeinplatz. Auch diesem Forschungsprojekt mit regional verankerter, globaler Perspektive liegen die progressiven Auswirkungen der Polykrise bzw. Meta-Katastrophe als Ausgangspunkt und Motivator zugrunde (vgl. Response Paper I). Auf der Suche nach Lösungen werde ich in diesem zweiten Response Paper Omri Boehms Argument für einen radikalen Universalismus genauer betrachten. Ich werde hinterfragen, inwieweit letzterer über eine Neubewertung des kantischen Prinzips der absoluten Würde aller Menschen beitragen kann, die Demokratie zu retten. Ich werde seine Argumentation gegen die antiuniversalistischen Propositionen der Identitätspolitik abwägen und diskutieren — wobei ich versuchen werde, die partiellen Richtigkeiten identitätspolitischer Forderungen von sektiererischen Irrwegen zu unterscheiden. Am Ende der Auseinandersetzung (d.h. nicht in diesem Beitrag) werde ich versuchen, zu einer Synthese zu gelangen: zu einem Dritten Weg. Dieser Dritte Weg baut auf dem humanistischen Universalismus auf, erweitert ihn aber außerdem um eine interspezifische (tierische, pflanzliche, lebensweltliche) Komponente.

In den ersten der folgenden Abschnitte werde ich weniger nah an Boehms Text noch einmal ein paar grundsätzliche Probleme von Identitätspolitik aufzeigen. Ab der Überschrift Intellektuelle Angriffe auf den Universalismus? werde ich sehr nah an Boehms Text arbeiten und einzelne Zitate kommentieren.

Identitätspolitik und die Auflösung von „rechts“ und „links“

Ist tatsächlich davon auszugehen, dass Tiefe und Tücke des intellektuellen Dilemmas hinter der Krise der Demokratie in unseren begrifflichen und gedanklichen Gewohnheiten unzureichend oder nur einseitig erkannt werden? Steckt neben den „üblichen Verdächtigen“ — bekanntlich sind das unverhohlene oder verkappte Gegner der Demokratie, der freiheitlichen Grundordnung und des Prinzips der Gleichheit aus dem rechtsradikalen Lager — im Diskursfeld der Identitätspolitik eine zweite, sogar komplizenhafte Denkfalle, wie die schärfsten Kritiker der Identitätspolitik argumentieren? Und wenn ja — wovon Omri Boehm wie andere überzeugte Universalisten ausgeht: Wie lässt sich dann erklären, dass die besonders in Deutschland nach wie vor sehr dominanten Vertreter:innen von Identitätspolitik selbst davon so überzeugt sind, linke, emanzipatorische, kurzum: gerechte Werte zu vertreten? Diese Fragen sind alles andere als einfach zu beantworten. Beginnen wir mit einigen provokativen Positionen gegen Identitätspolitik, und zwar aus linken bzw. nicht-rechten Perspektiven.

Kritische Stimmen über Identitätspolitik

Astrid Zimmermann kommt im Magazin Jacobin etwa zu folgendem, vernichtenden Urteil:

Die zahnlose Identitätspolitik der letzten Jahre und das Erstarken der Rechten sind zwei Symptome derselben Krise.

(Zimmermann 2022)

Es ist angesichts der erbitterten Grabenkämpfe zwischen unterschiedlichen Fraktionen von Identitätspolitik (aber auch zwischen ihnen und ihren universalistischen Kritiker:innen) freilich fragwürdig, ob „zahnlos“ das zutreffende Prädikat für den Diskurs ist. Auch Achille Mbembe, der in Deutschland in einer tatsächlich sehr deutschen „Debatte“ des Antisemitismus beschuldigt worden ist, hat bereits 2018 eine versöhnlichere, aber nicht weniger vernichtende Ansicht über Identitätspolitik geäußert:

Einst war Identitätspolitik ein Mittel der Emanzipation, etwa in der Frauenbewegung, und ein Mittel der Inklusion, um mehr Menschen zu vereinen. Heute wird sie für das Gegenteil instrumentalisiert: zur Ausgrenzung. Die möglichen Verlierer innerhalb der Gesellschaft werden gegen die äußeren mobilisiert. Und benutzt werden dabei die üblichen Muster wie die Religion und die Rasse. Identitätspolitik ist dadurch eine Bedrohung der Demokratie geworden. Wer die liberale Demokratie zerstören will, muss in Identitätspolitik investieren.

(Mbembe 2018)

Die Frage nach dem Scheideweg — also ab wann Identitätspolitik von einem „Mittel der Emanzipation“ zu „ihrem Gegenteil“ gerät — wird noch zu erörtern sein. Die „Causa Mbembe“, wie die Anschuldigungen gegen den renommierten kamerunischen Denker in Deutschland schnell genannt wurden, treffen mitten ins Zentrum eines emotional höchst aufgeladenen Diskursraumes. Im Mittelpunkt steht ein durch und durch deutsches, identitätspolitisches Thema, das in Deutschland von vielen Vertreter:innen konservativer wie linker Identitätspolitik nahezu wie ein Tabu behandelt wird — und auf das Omri Boehm in einem anderen Buch (Israel: Eine Utopie) ausführlich eingeht: Kritik an israelischer Politik und Besatzung.

Im Kern drehten sich die Vorwürfe, die der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein gegen Achille Mbembe erhoben hatte, um dessen Vorgehensweise, Kritik an israelischer Politik, eine (gar nicht neue) Kontextualisierung von Kolonialismus mit letzterer, sowie das größte aller deutschen Nazi-Verbrechen, die Shoah, in einem Absatz zu behandeln. Die Kritik daran bezieht sich unter anderem auf ein Zitat aus seinem Buch Politik der Feindschaft. Im deutschen Diskurs ist so ein Vorgehen — also in einem Absatz über Kolonialismus, das Apartheidsregime in Südafrika sowie die Vernichtung der europäischen Juden nachzudenken — gewagt. Er betrachtet diese historischen und aktuellen Geschehnisse zwar ausdrücklich als verschiedene Dinge, dennoch aber als Manifestationen einer Politik der Feindschaft oder Nekropolitik:

„Im kolonialen Kontext war die permanente Trennungs- und damit Differenzierungsarbeit zum Teil die Folge der von den Kolonisten empfundenen Angst vor Vernichtung. Man war zwar zahlenmäßig unterlegen, aber mit gewaltigen Zerstörungsmitteln ausgestattet und lebte dennoch ständig mit der beängstigenden Vorstellung, ringsum von bösen Objekten umzingelt zu sein, die das eigene Überleben und die eigene Existenz bedrohten – von der einheimischen Bevölkerung, von wilden Tieren, Reptilien, Mikroben, Mücken, der Natur, dem Klima, von Krankheiten oder sogar von Hexern. Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.“

Zit. nach: Aleida Assmann und Susan Neiman zur Causa Mbembe: Die Welt reparieren, ohne zu relativieren. In: Deutschlandfunk vom 26.04.2020, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/aleida-assmann-und-susan-neiman-zur-causa-mbembe-die-welt-100.html (zuletzt abgerufen am 24.04.2024).

Achille Membe wurde von zwei ausgesprochenen intellektuellen Autoritäten in Deutschland gegen den Nicht-Intellektuellen Felix Klein verteidigt: Aleida Assmann und Susan Neiman. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat sich zusammen mit ihrem kürzlich verstorbenen Ehemann Jan Assmann wie keine andere um Erinnerungskultur und kulturelles Gedächtnis verdient gemacht. Außerdem engagiert sie sich öffentlich gegen Antisemitismus. Die jüdisch-amerikanische Philosophin Susan Neiman ist nicht nur eine überzeugte Universalistin und Kant-Rezipientin, sondern auch eine der besten Kennerinnen des deutschen Umgangs mit der eigenen Geschichtsaufarbeitung. Über letztere sagt sie, die amerikanische und andere Gesellschaften könnten von ihr lernen.1Vgl. Neiman, Susan (2019): Learning from the Germans. New York: Farrar, Straus, & Giroux. Diese Verteidigung hat der Rufschädigung Mbembes in Deutschland allerdings wenig genutzt — obwohl am Ende freilich die Frage im Raum steht, wem die Anschuldigungen gegen Mbembe am meisten geschadet haben: dem Wissenschaftler aus dem früher von Deutschland kolonisierten Kamerun — oder dem internationalen Ansehen Deutschlands.

Doch die Causa Mbembe ist noch in einer anderen Hinsicht äußerst aufschlussreich über identitätspolitische, nicht-universalistische Diskurse: Unter den identitätspolitisch argumentierenden Aktivist:innen, die sich leidenschaftlich mit „Israelkritik“ beschäftigen, finden sich tatsächlich zahlreiche antisemitische Stimmen. Israelbezogener Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung: er existiert querbeet durch einander ansonsten verfeindet gegenüberstehenden, identitätspolitischen Lagern, von denen die einen als rechtsradikal, als islamistisch, oder sogar als „links“ eingestuft werden. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass sich außerdem schräge, dabei immer fragile Koalitionen unter diesen identitätspolitischen Lagern bilden.

Weil sich Identitätspolitik immer in einem gedanklichen Gefäß entfaltet, dass von Trennungen, Begrenzungen und sichtbar zu machenden Unterschieden strukturiert ist, muss sie früher oder später mit einem anderen identitätspolitischen Konstrukt in Konflikt geraten. Weil eine argumentative Auseinandersetzung qua Identität ab einem bestimmten Punkt immer ins Leere führen muss, hat sich eine fragwürdige Praxis eingestellt: die andere Seite wird nicht durch Argumente dekonstruiert, sondern gecancelt. Die Auseinandersetzung findet nicht mehr ad argumentum, sondern ad personam statt: Nicht mehr das Argument des Professors ist schwach und verdient Kritik — sondern der Professor ist böse, um es durchaus realistisch zu überzeichnen.

Grenzen von ‚links‘ oder ‚rechts‘ spielen in diesem antipolitischen Gegeneinander keine echte Rolle mehr. Amna Khalid und Jeffrey Aaron Snyder aus den USA stellen zur Diskursentwicklung in ihrem Land deshalb fest, dass die sogenannte Cancel Culture rechts wie links existiere und im Wachsen begriffen sei. Sie publizieren auf der von Khalid gehosteten Plattform Banished („verbannt“, „vertrieben“), die sich als Medium versteht, wo Opfer einer in den USA um sich greifenden, neuartigen und sich hauptsächlich über Social Media entfaltenden Zensur weiter publizieren:

We are living in censorious times. A tidal wave of Anti-CRT laws that restrict “the freedom to read, learn and teach.” Book bans galore, from Maus and The Bluest Eye to Gender Queer and the 1619 Project. On college campuses: trigger warnings, speech codes, Bias Response Teams and speaker disinvitations. Everything we just mentioned, in our view, is cancel culture.

(Khalid/Snyder 2022)

Cancel Culture, deren Existenz von identitätspolitisch motivierten Journalist:innen gerne abgestritten oder in Gänze der jeweils entgegengesetzten, identitätspolitischen Seite zugeschlagen wird, ist eng verbunden mit Identitätspolitik. Auch hierzulande stellt sie ein immer übergriffigeres Phänomen dar. Wie in den USA, von wo ein großer Teil des identitätspolitischen Begriffsapparats mit immer neuen Neologismen importiert wird (teils über starke Verzerrungen, teils über belehrende Kommmentierungen), findet auch in Deutschland das sogenannte Canceln auf „rechter“ wie „linker“ Seite statt. Auf die jüngsten Auswüchse in Deutschland, die im selben Diskursraum angesiedelt sind wie die Angriffe gegen Mbembe, bin ich bereits in einem anderen Kommentar auf meinem „alten Blog“ eingegangen (und was sich schier endlos vertiefen ließe).

Als Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass mit der Cancel Culture die eingangs angesprochene Schwelle, ab der sich Identitätspolitik von ihrem emanzipatorischen Anspruch in ihr Gegenteil verkehrt hat, bereits eindeutig überschritten wurde. Wie ich im Bereich NEOVOX — und dort insbesondere unter den Beiträgen zu Meinungskapitalismus erforsche, lässt sich diese Schwelle nicht verstehen, ohne die Logik des Plattform- und Meinungskapitalismus zu durchdringen. Diese für einige Demagog:innen und Autor:innen extrem profitable Logik ist dafür verantwortlich, dass nicht nur die Büchertische mit immer neuen, identitären Publikationen überschwemmt werden, sondern insbesondere der Prozess der öffentlichen Meinungsproduktion über weitaus kürzere posts und threads auf sogenannten Social-Media-Plattformen in „alternativlose“ Polarisierungen getrieben wird.

Sehr kurzer Blick auf die weitere Kritik an Identitätspolitik

Omri Boehm ist also bei Weitem nicht der Einzige, der sich in seinem Buch Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität an eine Dekonstruktion identitätspolitischer Diskurse gemacht hat, die sich selbst als links und emanzipatorisch in einem durchaus traditionell linken Sinn verstehen — aber in einer entscheidenden Grundhaltung der linken Kernidee widersprechen. Gemeint ist natürlich das Primat von Identität über den Universalismus. Letzterer aber liegt dem Prinzip der internationalen Solidarität ebenso zugrunde wie der kantischen und aufklärerischen Idee der absoluten Würde aller Menschen. Unter der wachsenden Zahl neuerer Kritiker:innen von Identitätspolitik wären neben Boehm und den oben zitierten Stimmen Susan Neimans, Aleida Assmanns, Amna Khalids und Jeffrey Aaron Snyders außerdem Catherine Liu, Yascha Mounk, John McWhorter, Hans-Georg Möller und Paul J. D’Ambrosio u.v.m. zu nennen (Boehm 2024; Khalid/Snyder 2022; Liu 2020; McWhorter 2021; Moeller/D’Ambrosio 2021; Mounk 2024; Neiman 2023). Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig (ganz unten befinden sich noch ein paar weitere Referenzen, ebenfalls nicht erschöpfend).

Das Grundproblem: Entweder/Oder

Die oben dargestellte Problematik betrifft die Kritik an Identitätspolitik an sich. Doch bevor ich auf Boehms tiefer gehende Kritik und seine Position für den Universalismus als echte Alternative genauer eingehe, will ich noch ein weiteres Grundproblem von Identitätspolitik skizzieren, das sich insbesondere für Menschen stellt, die sich selbst als „links“ verstehen, aber glauben, sie müssten sich durch ihren durchaus aufrichtigen Humanismus identitätspolitisch verhalten, weil Kritik an Identitätspolitik mit rechten und menschenfeindlichen Positionen gleichzusetzen sei. Es wird nämlich oft davon ausgegangen und durch identitätspolitisch argumentierende Aktivist:innen mehr oder weniger erfolgreich suggeriert, dass es angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen wie weltpolitischen Dilemmata nur zwei Seiten gäbe, auf die man sich berufen könnte und in denen sich überhaupt noch Möglichkeiten fänden, Politik zu gestalten.

Über diese Positionierung aber wird Identitätspolitik nicht zu einem Zweck, sondern zu einem Ziel: Es werden neue, moralisch-ethisch aufgeladene und exklusive Identitätskonzepte geschaffen, die wiederum im Verhältnis zu ihren jeweiligen Anderen konfliktträchtig sind. Wie das Beispiel identitätspolitischer Sprachpolitiken zeigt, steckt dahinter keine böse Absicht: Es ist vielmehr so, dass das ursprüngliche Ziel ins Hintertreffen gerät, während die Konstruktion eines sozialen Habitus als Kennzeichen eigener Identität vordergründig wird. Aber kommen wir noch einmal auf eine ganz grundsätzliche Dichotomie zurück, die der Grund dafür ist, dass immer noch die Rede von „linker Identitätspolitik“ und von „rechtem Identitarismus“ ist — obwohl beide Seiten viele Gemeinsamkeiten teilen.

Die erste Seite, so die Suggestion, sei jener Teil der Menschheit, der Identität feiert und dabei „links“ ist. Menschen, die jener identitätspolitisch motivierten Fraktion der Menschheit angehören argumentieren außerdem grundsätzlich, die Probleme der Welt realistischer einschätzen zu können, als es weltfremden Universalisten je gelingen könne. Entweder wird programmatisch Position für eine wie auch immer definierte Minderheit genommen, oder aber aus der eignenen Position einer nun endlich sichtbar zu machenden, zu empowernden Minderheit heraus gehandelt. Wer nicht auf der falschen, gegnerischen Seite der liberalen Demokratie stehen oder von dort wegkommen wolle, weil sie/er gegen den um sich greifenden Rechtspopulismus ist, müsse quasi automatisch die allmählich normativ werdenden Positionen identitätslinker Akteure einnehmen.

Das allmähliche normativ Werden ist Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen, da es entweder abgestritten oder der anderen Seite vorgeworfen wird. Identitäre Gebote, ob links oder rechts, drücken sich auch äußerlich aus. Sie tendieren dazu, von ihren Vertreter:innen zur Vorschrift gemacht zu werden. Im deutschen Sprachraum hat sich sogenannte linke Identitätspolitik zum Beispiel stark auf die Sprache konzentriert, weil es in der deutschen Sprache, besonders in den Pluralformen von Kollektiva, geschlechtliche Kategorien wie das generische Maskulinum gibt, von denen geglaubt wird, sie müssten unbedingt abgeschafft oder verändert werden, um die Gesellschaft gerechter zu machen. Die Gesellschaft über die dauerhafte, strukturelle Sichtbarmachung unterrepräsentierter Gruppen gerechter machen zu wollen, ist natürlich zuerst einmal ein sehr nachvollziehbares Argument, und ich persönlich nehme es auch nicht als „Triggerpunkt“ wahr, wenn jemand „gendert“. Ich verwende zum Beispiel auch die Lösung, einen Doppelpunkt zu setzen, wenn ich bei der Verwendung eines Kollektivums wie etwa einer Berufsgruppe (o.ä.) explizit alle Geschlechter meinen will (z.B. Lehrer:innen, Partisan:innen).

[Diese Beispiele sind unvollständig und werden noch erweitert]

Es geht bei der großen Aufregung, die das „Gendern“ erregt, meines Erachtens gar nicht so sehr darum, dass sich Menschen, die nicht gendern, automatisch gegen die Gleichberechtigung aller Geschlechter aussprechen. Es geht meiner Wahrnehmung nach vielmehr um einen habituellen Code — und es ist dieser Code, der triggert, was er aber nicht von sich aus tut, sondern vor allem aus dem Grund, dass Vertreter:innen des „Genderns“ dazu tendieren, letzteres zu einem moralisch-ethischen Code des Anstands machen zu wollen — was Catherine Liu in ihrem polemischen Buch Die Tugendpächter (Virtue Hoarders: The Case against the Professional Managerial Class) genauer beschrieben hat. Anstand oder Tugendhaftigkeit, die sich zueigen gemacht wird, kann laut Liu zu einer Art des Kapitals werden, das anderen (gewollt oder ungewollt) vorgehalten wird und Zurücksetzungen erzeugt. Doch nicht nur das: meine Beobachtung aus Gesprächen mit Jugendlichen in Berlin zum Beispiel, die sich gegen das Gendern aussprechen, hat gezeigt, dass hinter der Habitusunverträglichkeit teilweise ganz andere Konflikte stehen. Der Konflikt ist also oft eher ein Proxy-Konflikt, was aber eine tiefere Ausführung und Diskussion verdient.

Doch was ist dieser habituelle Code? Am deutlichsten kann er über den sich herausgebildeten Soziolekt erfassen lassen, den viele Vertereter:innen inzwischen angenommen haben. Dieser Soziolekt ist im deutschen Sprachraum durch ein bestimmtes Vokabular geprägt, das stark von englischen Vokabeln durchwirkt ist, aber insbesondere auch durch die Betonung und sogenannte Sichtbarmachung geschlechtlicher Kategorien in der geschriebenen Sprache. Dies wird entweder über den Asterisken (wie in Gäst*innen), den inzwischen seltener gewordenen Unterstrich (Gäst_Innen), das Binnen-I ohne Unterstrich (GästInnen), oder den Doppelpunkt (Gäst:innen) realisiert. Seit wenigen Jahren wird auch in der gesprochenen Sprache der hörbare Glottisschlag in der Aussprache zum Ausdruck gemacht — mit dem das eigene Bewusstsein über die Existenz unterschiedlicher Geschlechter sowie ihrer bisherigen Unterdrückung für Andere nicht nur sichtbar, sondern auch noch hörbar gemacht wird.

Das sehr viel umfangreichere Repertoire des angeblich linken, identitätspolitischen Habitus ist damit zwar nur unvollständig beschrieben, aber über eines seiner markantesten Merkmale benannt. Das Beispiel des sprachlichen Habitus linker wie rechter Identitätspolitik ist außerdem besonders interessant, weil es auf diesem Gebiet klar feststellbare Merkmale des eigenen normativ Werdens und der Polarisierung gegenüber dem jeweils entgegengesetzten Lager gibt. Die Einen werfen den Anderen vor, eine Art „Sprachpolizei“ zu bilden, und das Beispiel des bayerischen Genderverbots vom 19. März 2024 ist unter zahlreichen Beispielen nur das plakativste.2Gendern verboten: Bayern zensiert Sprache in Behörden. Deutschlandfunk vom 20.03.2024, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/genderverbot-bayern-100.html (zuletzt abgerufen am 24.04.2024).

Weniger brachiale Beispiele, die sich im Gegensatz zum bayerischen Normierungsversuch links oder bürgerlich verorten, finden sich aber auch in Handreichungen und Vorschriften zum Sprachgebrauch an anderen Behörden, durch Arbeitgeber oder in Bildungseinrichtungen. Eine Kampagne des Gleichstellungsbüros im Auswärtigen Amt etwa hat 2021 einen Leitfaden für eine geschlechtergerechte Sprache entwickelt. Der Leitfaden schreibt Mitarbeiter:innen nicht direkt vor, wie sie „gendern“ müssen — was einer der zahlreichen, denglischen Neologismen aus dem identitätspolitischen Repertoire ist; es wird aber nahegelegt, wie man besser schreiben sollte und wie nicht. Auch dies ist ein Beleg, der zeigt, dass Identitätspolitik dazu neigt, normativ zu werden — wodurch Konflikte vorprogrammiert sind.

Beiden identitätspolitischen Fraktionen, die sich auf dem Feld der Sprachnormierung abarbeiten, ist gemein, dass sie das Konzept der präskriptiven, normativen Grammatik gegenüber deskriptiven, analytischen Grammatikkonzepten bevorzugen. In den sprachlichen Homogenisierungsprozessen west- und mitteleuropäischer Hochsprachen — was im Zusammenhang mit der zunehmenden Herausbildung von Nationalstaatlichkeit in der Linguistik auch als Sprachnationalismus bezeichnet wird — blickt das erstgenannte Konzept der präskriptiv-normativen Grammatik auf eine lange, teils noch unreflektierte Tradition zurück: Über „Purismus“, also das sogenannte „Säubern“ der angeblich „reinen“ Hochsprache von „falschen“ oder „fremden“ Wörtern, Flexionen, Phonetik, Schreibweise und anderen schriftlichen wie mündlichen Ausdrucksformen von Sprache, sollte eine einheitliche Sprache geschaffen und an den Bildungseinrichtungen verbindlich gelehrt werden. Meistens mit großem Erfolg: Dialekte wurden in vielen Ländern Europas stigmatisiert und abgewertet, Regional- und Minderheitensprachenteilweise auch ganz ausgelöscht.

Die zweite Seite, die Gegenspieler der vermeintlich (und deklarativ) prodemokratischen Seite, sind demnach nativistische, völkische, rechtsradikale, ethnonationalistische, rechtspopulistische Gruppen, Überzeugungen und Bewegungen. An der Demokratiefeindlichkeit der letztgenannten Gruppe kann kein Zweifel bestehen. Diese Seite braucht an dieser Stelle keine weitere Dekonstruktion: Ihre Vertreter:innen und Programme unterschiedlichster Couleur werden in diesem Forschungsprojekt, hauptsächlich ausgehend vom um sich greifenden Phänomen der restaurativen Nostalgie und des Geschichtsrevisionismus, ohnehin beschrieben.3Ein inzwischen zu erweiternder Überblick mit Referenzen zu verschiedenen Beispielen befindet sich im Syllabus zu Revision/Revisionismus.

Grundsätzlich recht haben

Doch wie sieht es mit dem Umgang mit Kritik an identitätspolitischen oder identitätslinken Positionen durch deren Verteter:innen aus, wenn diese Kritik nicht aus einer rechten, sondern universalistischen Position kommt? Die identitätslinke Seite steht einer verbreiteten, vor allem aber ihrer eigenen Annahme nach für die richtige, prodemokratische Sache. Antidiskriminatorische, emanzipative und befreiende Politik werden in diesem Sinne quasi ohne weitere Diskussion der identitären Linken zugeschlagen. Kritik an der eigenen Position, die nicht aus dem oben genannten Feld der Rechten kommt, sondern vornehmlich von Proponentinnen eines globalen und humanistischen Universalismus, wird tendenziell mit einem immer gleichen Argument zurückgewiesen. Ein Beispiel dafür findet sich bei Samira El Ouassil und Friedemann Karig, die in ihrem Buch Erzählende Affen folgendes konstatieren:

Kritiker der sogenannten Identitätspolitik — wie sie heute als Gattungsbegriff für alle Arten von Liberalisierung, Antidiskriminierung und Ermächtigung von Marginalisierten gefasst wird — bringen unter anderem das Argument vor, sie richte sich gegen die Idee eines demokratischen Egalitarismus — gegen die aufklärerische Vorstellung also, dass jede Stimme gleiches Gewicht hat und jeder Mensch unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Klasse eine gleichwertige Sprecherinnenposition innehat. Aus Sicht der Kritiker widersprechen identitätsbezogene Partikularinteressen der Idee des Universalismus: Wie sind denn alle Menschen gleich, wenn jemand aufgrund seines Geschlechts oder seiner Herkunft bevorzugt angehört, eingeladen, besetzt, befördert, sichtbar gemacht wird? Sollte das alles nicht besser keine Rolle spielen?

(El Ouassil/Karig 2023, 452)

Genau hier liegt aber nicht nur ein großes Missverständnis vor, was damit zu tun hat, dass selbst so kluge Verfechterinnen der Identitätspolitik wie El Ouassil und Karig universalistische Argumente mitsamt ihrer Proponentinnen im Grunde gar nicht ernstnehmen. Diesen wird schnell unterstellt, „gar nichts verstanden zu haben“, wie in den „sozialen Medien“ oft zu lesen ist. Es wird ihnen Weltfremdheit und Realitätsferne attestiert, indem argumentiert wird — und zwar häufig aus einer durchaus privilegierten Position heraus:

Hier wird das Dilemma erkennbar: zwischen der Idee einer Aufklärung, die nach universeller Gleichheit strebt, und einer alltäglichen Realität, in der paradoxerweise um die Sichtbarmachung von Heterogenität und Unterschieden gekämpft werden muss, um überhaupt auf die bestehenden Ungleichheiten hinweisen zu können. Es existiert das Narrativ, wonach durch das Benennen dessen, was uns unterscheidet, diese Unterschiede überhaupt erst geschaffen werden; dass Menschen, die auf die Unterrepräsentation von Hautfarben hinweisen, die wahren Rassisten seien, da sie überhaupt auf so etwas wie Hautfarben achten. Dieses Narrativ verwechselt jedoch Boten und Nachricht.

(El Ouassil/Karig 2023, 453)

Aus einer solchen Perspektive wird eine Alternativlosigkeit des Entweder-Oder konstruiert; die heute so dringend benötigte dritte Perspektive dagegen wird verbaut — indem etwa nicht einmal in Erwägung gezogen wird, dass sich die angesprochenen Unterschiede und Ungleichheiten auch jenseits von Identitätspolitik treffen lassen. El Ouassil und Karig argumentieren vom angeblichen Ursprung des Begriffs der Identitätspolitik her (der jedoch viel älter ist) — nämlich von einem emanzipatorischen, amerikanischen Frauenkollektiv vom Ende der 1970er Jahre, dem Combahee River Collective. Die Errungenschaften dieser Aktivistinnen sind natürlich ohne Frage beachtlich und müssen auch in ihrer Würdigung nicht geschmälert werden, indem man die problematische Seite des Begriffs der Identitätspolitik benennt.

Doch gerade dies unterlassen El Ouassil/Karig in ihrer sehr knappen, oberflächlich geratenen Diskussion und Positionierung für Identitätspolitik: sie gehen auf den aktuellen Stand des identitätspolitischen Diskurses und der Kritik daran gar nicht ausführlich ein, obwohl sich dieser in den vergangenen vier Jahrzehnten seit der Auflösung des Combahee River Collectives 1980 tiefgreifend verändert hat. Das ist insofern ebenso überraschend wie enttäuschend, da El Ouassil/Karig in den vorangegangenen Kapiteln eine ganz erstaunliche Leistung geliefert haben (an anderer Stelle womöglich bald mehr dazu). In aller Ausführlichkeit gehen sie zum Beispiel auf das Phänomen des Neotribalismus ein, welches sich so umfassend mit den identitätspolitischen Folgen und Identitätskategorien verbunden hat. Doch genau diese Problematik kommt in ihrem Catch-all-Ansatz völlig zu kurz.

Was sie ebenfalls bei ihrer Kritik des Universalismus ausblenden: Protagonisten wie Dr. Martin Luther King oder W.E.B. Du Bois — und besonders letzterer wird heute, ganz zurecht, kontrovers wahrgenommen — haben sich ganz explizit auf universalistische Prinzipien berufen, und nicht primär auf Identität und identitäre Differenzen. Wie immer noch weithin bekannt sein dürfte, hatte sich Dr. Martin Luther King auf einen Traum (I have a dream) berufen — doch Träume und Utopien gelten Vertreter:innen der Identitätspolitik heute eher als Ausschlusskriterium denn als Inspirationsquelle. Aus heutiger Sicht sollte man sich die Frage stellen, ob der Erfolg der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nicht gerade auf den universalistischen Ansatz zurückzuführen ist — und im Umkehrschluss: wie lassen sich nun eigentlich die Erfolge antiuniversalistischer Identitätspolitik bemessen?

[[File:Civil Rights March on Washington, D.C. (Dr. Martin Luther King, Jr. and Mathew Ahmann in a crowd.) – NARA – 542015 – Restoration.jpg|thumb|Civil Rights March on Washington, D.C. (Dr. Martin Luther King, Jr. and Mathew Ahmann in a crowd.) – NARA – 542015 – Restoration]]

Das größte Versäumnis aber betrifft den Zustand des Planeten, der ganz bestimmt nicht durch erfolgreicheres Erzählen in attraktiveren Plots gerettet werden kann, wie man El Ouassils/Karigs Lösungsvorschlag in ihrem Kapitel zum Klimawandel lesen könnte (S. 400 ff.) — während der Universalismus zu einer netten Idee — einer Träumerei — degradiert wird, die neben den Stärken der Identitätspolitik regelrecht taugenichtsig daherkommt. Ganz von allein drängt sich die Frage auf, wie das Klein-Klein einer immer kleinteiliger werdenden Suche nach Gerechtigkeit einzelner Identitätsgruppen, die sich zudem in immer unüberschaubarer werdenden, immer „besseren“ Begrifflichkeiten austarieren und einander gegenüberstellen, denn nun das Große, Globale und Systemische angehen will.

Die notwendige dritte Perspektive

Die dritte Perspektive, für die ich hier argumentiere, umfasst sowohl und prioritär das universalistische Prinzip der Gleichheit Aller, als auch gruppenbezogene Besonderheiten und Rechte ethnischer, religiöser, geschlechtlicher, sexueller und anderer Gruppen. Doch diese unbedingt notwendige „Modernisierung einer abstrakten Menschheitsidee und eines absoluten Gesetzesbegriffs“ (Boehm 2024, s.u.) geht, wie ich im Sinne interspezifischer Sicherheit argumentieren werde, noch über die Sphäre des Zwischenmenschlichen hinaus.

Diese aktualisierte Idee wird zuerst noch weggehen müssen vom überholten Wachstumsparadigma der „nachhaltigen Entwicklung“, wie es momentan in Gestalt der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) nach wie vor von den Vereinten Nationen vertreten wird. Diese „dritte“ Idee knüpft an das Paradigma Human Security (Menschliche Sicherheit) an, welches in den 1990ern von den UN vertreten wurde und auf den Prinzipien des Kantischen Universalismus aufbaut; sie erweitert es letztlich um die nicht-menschliche Sphäre des einzigen Lebensraums der Menschheit. Doch auf diese Diskussion werde ich erst später in einem eigenen Beitrag zurückkommen, nachdem ich im Folgenden Boehms Argument dargestellt und kommentiert haben werde.

Intellektuelle Angriffe auf den Universalismus?

Boehm stellt sich ganz entschieden in eine Position, die das Kantische universalistische Prinzip nicht nur gegen „intellektuelle Angriffe“ verteidigt, sondern auch ganz aktiv und praktisch vertritt. Doch kommen wir zuerst zu einer interessanten Beobachtung Boehms und zur Frage, ob man tatsächlich von einem intellektuellen Angriff auf den Universalismus sprechen kann. Er argumentiert, dass sowohl identitäre, rechtspopulistische Akteure, als auch identitätslinke Akteure eine grundsätzliche Gemeinsamkeit teilen: Beide bekämpfen die Idee des Universalismus.

Doch die liberale Demokratie steckt bereits seit Jahren in der Krise. Die einschlägigen intellektuellen Angriffe auf ihre geistigen und moralischen Grundlagen — Aufklärung, Universalismus, Vernunft — verfangen jenseits hochtrabender intellektueller Debatten und abgehobener Philosophie-Fachbereiche zunehmend auch in politischen Kreisen. Was in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Provokation aus Paris mit unüberhörbaren Anleihen aus dem Schwarzwald der zwanziger und dreißiger Jahre begann, beeinflusst heutzutage die Politik weit über die amerikanischen >>Culture Studies<< der achtziger Jahre hinaus.

(Boehm 2024, 12)

Während Martin Luther King oder auch W.E.B. Du Bois als wichtige Protagonisten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung durchaus einen universalistischen Traum verfolgten, habe sich die zeitgenössische „Linke“ davon abgewandt:

Solche Träume gelten Linken wie Rechten gleichermaßen als Illusionen, denn in einem Punkt immerhin sind sie sich einig: Das Problem mit dem universalistischen Projekt der Aufklärung besteht nicht darin, dass es gescheitert ist, sondern dass man es überhaupt versucht hat. Und so wetteifern beide politischen Lager darum, den Maßstab des abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen: Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Er wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten.

(Boehm 2024, 12-13)

Boehm beschreibt, welch schrille Züge das Ganze mittlerweile in den USA angenommen hat. Nicht zuletzt diese Aufheizung der Stimmung habe zur Folge, dass jede Kritik an Identitätspolitik als Offenbarung weißer Verletzlichkeit (white fragility) reflexhaft zurückgewiesen werde (S. 13). Wie auch in der Grundannahme dieses Forschungsprojekts postuliert und im ersten Response Paper über die Polykrise bzw. Meta-Katastrophe bereits skizziert worden ist, erfordere auch laut Boehm die globale Perspektive zwangsläufig, eine universalistische Perspektive einzunehmen. Aufgrund der Relevanz und Dringlichkeit des rechtspopulistischen Progresses sei es daher auch wesentlich, welcher Stellenwert universalistischen Perspektiven in einer Gesellschaft eingeräumt werde:

Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie in Europa zu stärken und den Aufstieg rechtsextremer Politik und eines ethnischen Nationalismus zu bekämpfen haben, zudem mit globalen Katastrophen und Migrationswellen konfrontiert sind, macht es einen Unterschied, ob wir an der Idee des universellen Humanismus als einen Kompass, sogar als einer Waffe festhalten, oder ob wir eine Gesellschaft hervorbringen, in der diese Idee verspottet und verachtet wird.

(Boehm 2024, 13-14 )

Es sei außerdem kennzeichnend für den postmodernen Trend zur Identität, dass es zu einem Übergewicht oder einer Priorisierung von Rechten gegenüber Pflichten gekommen sei. Nicht zuletzt sei „der Begriff des Rechts modern und säkular, der Begriff der Pflicht hingegen vormodern und religiös“ (S. 14). Unter Pflicht — und das wird im Laufe des Buchs noch genauer ausgebreitet — versteht Boehm wie Kant und Arendt die Pflicht zur Mündigkeit und zu selbständigem Denken. Das aber erfordert, sich nicht irgendwelchen Dogmen, Ideologien oder Denkgewohnheiten unterzuordnen.

Boehm wendet sich aber auch gegen Pseudo-Universalisten oder solche Liberale (und man beachte den Unterschied zwischen „liberals“ im Englischen und „Liberale“ im Deutschen), deren Begriff von Universalismus nur mehr eine „leere Hülle des Begriffs“ (S. 14) sei. Darunter befänden sich der „erklärte Anti-Universalist“ und Philosoph Richard Rorty, der dem Identitätsbegriff im engeren Sinn jenen des Nationalstolzes im weiteren Sinn entgegengesetzt hat (S. 15); aber auch der Politikwissenschaftler Mark Lilla und die Historikerin Jill Lepore (S. 15). Den Rahmen der (amerikanischen) Nation als scheinbare Alternative zu identitären Sektierereien weist Boehm als überholt und unnütz zurück, sofern es wirklich darum gehen sollte, den Universalismus zu verteidigen (S. 16). Boehm setzt entschieden auf Kant:

Für all jene, die immer noch hoffen, den Universalismus verteidigen zu können, bleibt Kant der unverzichtbare Denker. Er begriff, dass die Aufklärungsbewegung, die ihm vorausgegangen war, keine universalistische Bewegung gewesen war, sondern in Wirklichkeit die gefährlichste Feindin des Universalismus. Ihre positivistische Reduktion des Menschen auf die blinde Natur ersetzte die Menschheit durch das, was Nietzsche als >>kluge Tiere<< bezeichnen sollte — Objekte nicht der Würde, sondern der Beherrschung und des Besitzes, der Ausbeutung und der Versklavung. Gegen diese aufgeklärte Reduktion bestand Kant darauf, dass der Begriff der Menschheit abstrakt bleiben müsse: frei von jeder Beimengung biologischer, historischer und soziologischer Tatsachen.

(Boehm 2024, 16)

Dass er sich hier gegen die Vorstellung der Menschen als „kluge Tiere“ wendet, ist ein bemerkenswerter Gegensatz zu El Ouassil/Karig, die ihrem Buch den Titel Erzählende Affen gegeben haben.4Was noch einmal zu genauerer Betrachtung verleitet, obwohl die Wahl dieses Titels aus anderen Gründen erfolgt ist, a.a.O. ggf. mehr. Kants Menschheitsidee ist jedenfalls metaphysisch, ohne religiös im Sinn der alten abrahamitischen Religionen zu sein, an deren erzählerischem und mythischem Repertoire er sich trotzdem gewinnbringend bedient:

[W]as Kants Leistung zu einem epochalen Einschnitt machte, war seine Fähigkeit, die biblische Idee ins säkulare Denken zu übersetzen, ohne in religiösen Glauben oder eine wissenschaftliche Reduktion zurückzufallen. Bei Kant wurde die Idee der Menschheit erstmals als moralischer Begriff formuliert: Was Menschen menschlich macht, ist keine natürliche Eigenschaft, sondern ihre Freiheit, ihrer Verpflichtung auf moralische Gesetze zu folgen. Weil menschliche Lebewesen offen für die Frage sind, was sie tun sollen, sind sie selbst Subjekte von absoluter Würde.

(Boehm 2024, 16-17 )

Der Universalismus Kants besteht im Kern darin, „einem Gesetz zu folgen, das nicht von Menschen gemacht ist“ (S. 17) und gerade deswegen universell ist:

Nur ein Gesetz oder eine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Konventionen ist, ist universell in seinem oder ihrem Geltungsbereich und nicht relativ zu den Interessen, Wünschen und >>guten Ideen<< derjenigen, die über die Macht gebieten, in der menschlichen Gesellschaft Gesetze zu erlassen. Mehr noch: Nur ein solches Gesetz ist auch universell in seiner Autorität statt nur in seinem Geltungsbereich — es geht über die Legitimität menschlicher Vereinbarungen hinau, die ja durchaus ungerecht sein können.

(Boehm 2024, 17)

Ein besonders schwerwiegender Vorwurf gegen die genannten Pseudo-Universalisten sowie gegen identitäre Linke lautet, dass sie letzten Endes einen Prozess befördern, der entweder tatsächlich zu einer „Identitätspolitik für weiße Männer“ (S. 17) führe, oder aber — und Letzteres ist sehr viel schwieriger zu durchschauen und bedarf weiterer Auseinandersetzung und Klärung — zur Reproduktion ungerechter Ungleichheitsstrukturen. Auch auf die Gefahr unnötiger Wiederholung des soeben Gesagten gebe ich deshalb zur besseren Nachvollziehbarkeit Boems Argument im originalen Wortlaut wieder:

In diesem Punkt wäre sich Kant mit den >>Identitätslinken<< einig: Scheitert die Modernisierung einer abstrakten Menschheitsidee und eines absoluten Gesetzesbegriffs, dann ist die Rede vom Universalismus Identitätspolitik für weiße Männer. Sie erlaubt es den Mächtigen, die Hülse einer entleerten moralischen Sprache auszunutzen, um ungerechte Machtstrukturen zu erhalten, die abzuschaffen dringend geboten ist.

(Boehm 2024, 17)

Die identitäre Linke ist gewissermaßen gefangen in einer ewig andauernden Diskussion über die Frage nach dem richtigen oder falschen Umgang und der adäquaten Dekonstruktion von Kategorien wie „Rasse“ (Anm.: hier wird nicht davon ausgegangen, dass der deutsche Begriff ‚Rasse‘ und der amerikanische Begriff ‚race‘ derselbe sind, aber auch diese Diskussion kann nicht hier ausgeführt werden) und Geschlecht, wobei es immer darum geht, eine Kategorie als biologische Kategorie zu überwinden, ihr aber eine soziale Kategorie beizustellen.

Das Folgende ist meine Ergänzung: im deutschsprachigen Diskurs kann man sich das gut an den Beispielen sex/gender und Rasse/race veranschaulichen. Die Kategorie „Sex“ wird aus dem Englischen übernommen und substituiert „Geschlecht“ als biologisches Geschlecht; die Kategorie „gender“ wird ebenfalls aus dem Englischen übernommen und substitutiert „soziales Geschlecht“, womit das konstruierte Geschlecht gemeint ist.

Der Begriff „Rasse“ gilt im Deutschen, aus gutem Grund, als kompromittiert. Dennoch taucht „Rasse“ trotzdem weiterhin im Grundgesetz auf, was stark kritisiert wird. Dies wird im Deutschen durch Proponentinnen der Identitätspolitik zurückgewiesen. Im gleichen Zug wird im identitätslinken Diskurs immer wieder darauf hingewiesen, dass race im Englischen dagegen mehrdeutig sei: dort könne er zum Einen auch ethnische Abstammung und Phänotyp bezeichnen; Race werde aber dort vornehmlich als soziale Kategorie verwendet, wobei ihm ihm die völkische Komponente dort fehle, die ihn im Deutschen ja kompromittiert hat.

Kurzum: im Deutschen ist die Verwendung des Wortes „Rasse“ rassistisch — d’accord! — während im Englischen die Verwendung von race nicht racist ist. Wer innerhalb des deutschen Diskurses zwar der ersten Aussage vollumfänglich zustimmt, an der Kohärenz der zweiten aber dennoch ernstgemeinte Zweifel formuliert, wird schnell mit dem Vorwurf konfrontiert, „gar nichts verstanden zu haben“ (eigene Beobachtunng aus den Social Media, Anm. TS). Der Diskurs neigt in diesem Sinne jedenfalls dazu, die biologische Kategorie zu dekonstruieren, um eine soziale Kategorie aufzubauen:

So wie die falschen Universalisten in Wirklichkeit ihre eigene Identitätspolitik verfolgen, hat leider auch die identitäre Linke mehr mit dem flaschen Universalismus gemein, als sie sich gerne eingestehen würde. Antiuniversalistische Theorien neigen dazu, einen intellektuellen Bezugsrahmen zu entwickeln, in dem Rasse oder Geschlecht als biologische Begriffe dekonstruiert werden. Die entsprechenden Diskussionen konzentrieren sich darauf, die Aufklärung — oder Kant — als Erfinder der wissenschaftlichen Idee der Rasse zu überführen, und widmen sich Fragen wie der, ob Du Bois das biologische Verständnis jenes Konzepts völlig überwunden hat oder nicht, oder der, ob wir uns nur mit der biologischen >>Bedeutung von Rasse<< oder auch mit >>ihrer Wahrheit<< (und gegebenenfalls Falschheit) beschäftigen sollen.

(Boehm 2024, 17-18)

Doch was ist nun mit dem Begriff der Menschheit? Was geschieht mit allem Menschlichen, das es jenseits dekonstruierter biologischer Kategorien und konstruierter sozialer Kategorien als umfassende Kategorie — eben Menschheit — wohl zweifellos weiterhin gibt? Laut Boehm verhält es sich in der identitätspolitischen Argumentation in diesem Fall genau umgedreht: während Sex/Rasse dekonstruiert werden, um Gender/race als konstruierte soziale Begriffe zu betonen, wird die Menschheit nur als biologische Kategorie hochgehalten:

Die dabei zugrunde gelegte Annahme lautet, dass die Menschheit im Gegensatz zu Rasse (oder Geschlecht) ein biologischer Begriff ist. Doch ist es kaum sinnvoll, einen entmenschlichenden Rassebegriff zu dekonstruieren, während man gleichzeitig die Zerstörung des Begriffs der Menschheit feiert. Der Kampf gegen systemische Ungerechtigkeit und falschen Universalismus kann nur im Namen des wahren Universalismus geführt werden. Und nicht im Namen der Identität.

(Boehm 2024, 18)

Soweit mein Response Paper zum Prolog in Boehms Buch, in dem er sein Argument bereits formuliert, ohne es vollständig zu entfalten. Dies geschieht in den nachfolgenden drei Kapiteln, in denen er untersucht, wie drei Texte ineinandergreifen: erstens, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (und nicht die amerikanische Verfassung); zweitens, Kants Essay „Was ist Aufklärung?“; sowie drittens, die alttestamentarische Erzählung von der „Opferung“ Isaaks, die er jedoch in der jüdischen Tradition als „Bindung Isaaks“ erzählt.

An dieser Stelle muss ein weiterer, durchaus wichtiger Einwand gegen Immanuel Kants Universalismus noch kurz angesprochen werden; kurz nur aus einem einzigen Grund, der nichts mit Verharmlosung zu tun hat: Kant hat sich immer wieder rassistisch geäußert, was nicht zu relativieren ist. Darauf geht Boehm in seinem Buch ausführlich ein, und darauf werde ich auch noch zurückkommen — doch die rassistischen Äußerungen Kants widersprechen Kant selbst. Für eine angemessene Auseinandersetzung damit war im Rahmen dieses Posts noch nicht Platz.

Außerdem kann ich an dieser Stelle schon anmerken, dass mir durch den verwendeten Begriff des „Dritten Weges“ noch eine weitere Idee durch den Kopf geistert, was sehr viel mit der „jugoslawischen Schule“ zu tun hat: Identitätspolitik und ihr Scheitern ist durchaus nichts Neues. Die Geschichte des opferreichen Siegeszuges ethnonationalistischer Identitätspolitik in der nachhaltigen Zerstörung Bosniens zeigt, dass die Oberhand des identitären Prinzips nicht Emanzipation, sondern Feindschaft gebiehrt.

Referenzen

Aleida Assmann und Susan Neiman zur Causa Mbembe: Die Welt reparieren, ohne zu relativieren. In: Deutschlandfunk vom 26.04.2020, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/aleida-assmann-und-susan-neiman-zur-causa-mbembe-die-welt-100.html (zuletzt abgerufen am 24.04.2024).

Boehm, Omri (2024 [2023]): Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität. Berlin: Ullstein.

El Ouassil, Samira/Karig, Friedemann (2023 [2021]): Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien: Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein.

Im Zeitalter der Polykrise: Wie komplexe Krisen entstehen und wie wir ihnen begegnen können / Heidelberger Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.hadw-bw.de/junge-akademie/win-kolleg/komplexitaetsreduktion/polykrise (zuletzt abgerufen am 21.04.2024).

Khalid, Amna / Snyder, Jeffrey Aaron: Cancel Culture: It’s real and on the rise, on the left and the right, in: Banished vom 25.7.2022, URL: https://banished.substack.com/p/cancel-culture (zuletzt abgerufen am 30.12.2022).

Kramatschek, Claudia: Achille Mbembe: „Politik der Feindschaft“ – Vom Kolonialismus bis zum „Krieg gegen den Terror“. In: deutschlandfunk vom 09.10.2017, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/achille-mbembe-politik-der-feindschaft-vom-kolonialismus-100.html (zuletzt abgerufen am 24.04.2024).

Liu, Catherine (2020): Virtue Hoarders: The Case against the Professional Managerial Class. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Malik, Kenan: Racism rebranded: how far-right ideology feeds off identity politics. In: The Guardian vom 08.01.2023, URL: https://www.theguardian.com/world/2023/jan/08/racism-rebranded-how-far-right-ideology-feeds-off-identity-politics-kenan-malik-not-so-black-and-white (zuletzt abgerufen am 21.04.2024).

Mbembe, Achille: „Identitätspolitik ist Opium für das Volk“. In: Augsburger Allgemeine vom 10.5.2018, URL: https://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Achille-Mbembe-Identitaetspolitik-ist-Opium-fuer-das-Volk-id51077901.html (zuletzt abgerufen am 15.9.2018).

McWhorter, John (2021). Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America. New York: Portfolio/Penguin.

Moeller, Hans-Georg and D’Ambrosio, Paul J. (2021): You and Your Profile: Identity After Authenticity. New York: Columbia University Press.

Neiman, Susan (2019): Learning from the Germans. New York: Farrar, Straus, & Giroux.

Neiman, Susan (2023): Left Is Not Woke. Cambridge/Hoboken: Polity Press.

Neiman, Susan (2023). Links ist nicht woke. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin Verlag.

Nutt, Harry: „Links ist nicht woke“ von Susan Neiman – Mit Kant und Diderot gegen die „woke“ Party, in: FR vom 22.08.2023. URL: https://www.fr.de/kultur/literatur/links-ist-nicht-woke-von-susan-neiman-mit-kant-und-diderot-gegen-die-woke-party-92474927.html (zuletzt abgerufen am 27.8.2023).

Shaller, Caspar: Professorin über Wokeness: „Raus aus den Kulturkämpfen!“, in: taz vom 6.7.2023, URL: https://taz.de/Professorin-ueber-Wokeness/!5941899/ (zuletzt abgeurfen am 8.7.2023).

Trum, Jochen: Francis Fukuyama „Identität“, Deutschlandfunk vom 4.2.2019, URL: https://www.deutschlandfunk.de/francis-fukuyama-identitaet-100.html (zuletzt abgerufen am 3.7.2022).

Woke isn’t right for the left mind field: Identity politics thwarts real social change by dividing people. In: Times of India vom 21.10.2023, URL: https://timesofindia.indiatimes.com/blogs/toi-editorials/woke-isnt-right-for-the-left-mind-field-identity-politics-thwarts-real-social-change-by-dividing-people/ (zuletzt abgerufen am 21.04.2024).

Zimmermann, Astrid: Kulturkämpfe kann man nicht gewinnen. In: Jacobin vom 08.12.2022, URL: https://www.jacobin.de/artikel/kulturkaempfe-kann-man-nicht-gewinnen-identitaetspolitik-neoliberalismus-rechtsruck-ungleichheit-astrid-zimmermann (zuletzt abegruefen am 21.04.2024).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.