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Was ist Plattform- und Meinungskapitalismus?

Der Begriff Meinungskapitalismus ist kein etablierter Begriff. Er wird in diesem Open Science Projekt in Anlehnung an den Begriff des Plattformkapitalismus verwendet, der ab ca. 2014 im deutschsprachigen Raum auftaucht und durch Nick Srnicek 2016 das erste Mal in seinem Buch Plattform-Kapitalismus theoretisch konzeptualisiert worden ist. Ich werde versuchen, in diesem ersten Beitrag den Zusammenhang zwischen der streng binären Meinungsbildung im digitalisierten öffentlichen Raum einerseits und der Art und Logik ihrer Erzeugungsweise über sogenannte „Social Media“ andererseits aufzuzeigen.

Anfang des 20. Jahrhunderts war die Printpresse noch das meinungsbildende Leitmedium: aus dieser Zeit stammt auch der Begriff der Stereotype, den der Journalist, Medienwissenschaftler und neoliberale Vordenker Walter Lippmann 1922 ausgehend von der mechanischen Druckerpresse geprägt hatte.1Walter Lippmanns Public Opinion von 1922 hat sich an anderer Stelle eigene, kritische Auseinandersetzung verdient. Doch unabhängig davon, wie man zu seinen Hinterlassenschaften im Feld der Kommunikations- und Politikwissenschaft, für das westliche Verständnis über Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, zur Rolle von Journalisten und sogenannten Gatekeepers im öffentlichen Diskurs sowie zu seiner aktiven Rolle als früher Vertreter des Neoliberalismus u.v.m. stehen mag: den auch heute noch gebräuchlichen Begriff der Stereotype hat er geprägt. Lippmann, Walter (2009 [1922]): Public Opinion. New Brunswick/London: Transaction Publishers. Durch die rasante technologische Entwicklung der Kommunikationstechnologie, zunächst über den Rundfunk (Radio und Fernsehen), wurden Printmedien allmählich immer weiter marginalisiert, bis auch letztere überholt waren. Geblieben sind bis heute die Stereotypen — die im digitalen Medienzeitalter in neuer und zuvor undenkbarer Geschwindigkeit und Voluminosität durch den diskursiven Raum rasen. Die Digitale Revolution hat allerdings nicht nur Beschleunigung und riesige Sendungsvolumina gebracht, sondern geht — insbesondere seit den jüngeren Internetgenerationen und mobilen Endgeräten — mit einer Entwicklung einher, die von den traditionellen politischen Institutionen des Nationalstaats schwer gestaltbar erscheint: dem Meinungskapitalismus.

Der Begriff Meinungskapitalismus ist kein etablierter Begriff. Er wird in diesem Open Science Projekt in Anlehnung an den Begriff des Plattformkapitalismus verwendet, der ab ca. 2014 im deutschsprachigen Raum auftaucht und durch Nick Srnicek 2016 das erste Mal in seinem Buch Plattform-Kapitalismus2Der Buchtitel in der deutschen Übersetzung lautet Plattform-Kapitalismus, ich verwende aber im Folgenden die Schreibweise Plattformkapitalismus, wenn es nicht um den Buchtitel, sondern das Phänomen geht. theoretisch konzeptualisiert worden ist. Ich werde versuchen, in diesem ersten Beitrag den Zusammenhang zwischen der streng binären Meinungsbildung im digitalisierten öffentlichen Raum einerseits und der Art und Logik ihrer Erzeugungsweise über sogenannte „Social Media“ andererseits aufzuzeigen. Weil sich hinter der problematischen Bezeichnung Social Media Vermarktungsplattformen verbergen, spreche ich von Meinungsplattformen und Meinungskapitalismus. Dieser erste Beitrag zu Plattform- und Meinungskapitalismus soll nur einer ersten Einführung des Begriffs dienen und in Zukunft um weitere Beiträge ausgebaut werden (Plattformkapitalismus; Meinungskapitalismus).

Plattformkapitalismus und Meinungsbroker

Nick Srnicek beschreibt in Plattform-Kapitalismus zunächst eine bemerkenswerte Entwicklung des Kapitalismus hin zur Digitalwirtschaft. Diese wird oft gleichgesetzt mit der Techbranche oder kurz Tech. Doch dies erfasse die Dimensionen der Digitalwirtschaft laut Srnicek nur ansatzweise, denn Tech war zum Zeitpunkt des Verfassens seines Buches anteilsmäßig (d.h., hinsichtlich der Beschäftigtenzahlen) ein eher kleiner Teil der US-Ökonomie, von der er ausgeht. Dennoch standen dieser geringen Beschäftigtenzahl große Verkaufswerte entgegen: WhatsApp hatte 55 Angestellte, als es für 19 Milliarden Dollar an Facebook (heute Meta) verkauft wurde; für Instagram arbeiteten nur 13 Personen, als es für immerhin 1 Milliarde Dollar übernommen wurde. Insgesamt ist festzustellen, dass der heutigen Tech-Branche vergleichbare Unternehmen in dern 1960er Jahren Hunderttausende Beschäftigte hatten (Srnicek: 10-11).

Srnicek, Nick (2018 [2017]): Plattform-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition.

Trotzdem ist es laut Srnicek nicht damit getan, den Tech-Sektor zu betrachten, wenn es darum geht, die Digitalwirtschaft und ihre Funktionslogik, den Plattformkapitalismus, zu verstehen: alle Unternehmen (und dazu gehört auch die öffentliche Verwaltung), die bei ihren Geschäftsmodellen zunehmend auf Informationstechnologie, Daten und das Internet setzen, rechnet er dazu. Als dynamischstes Wirtschaftsfeld durchdringt sie alle anderen Bereiche der Wirtschaft und macht digitale Technologie zunehmend systemrelevant — was schon daran deutlich wird, dass der Zusammenbruch der digitalen Infrastruktur verheerende Folgen hätte (Srnicek: 10-11).

Nach einer konzisen Rückschau auf die Entwicklung des globalen Kapitalismus als „langen Niedergang“ (S. 14-17), beginnend mit dem „Ende der Nachkriegsausnahme“ vom wirtschaftlichen Abschwung (der eigentlich schon eingesetzt hatte, S. 17-22), über die Dotcom-Blase der 1990er Jahre (S. 23 ff.) und die nicht überwundene Krise des Jahres 2008 (S. 28-37) baut der Autor seine zentrale These auf:

Die These dieses Buchs lautet, wegen der seit Langem sinkenden Profitabilität der Produktion habe sich der Kapitalismus den Daten zugewandt, als Möglichkeit, wirtschaftliches Wachstum und Vitalität angesichts eines lahmenden Produktionssektors zu erhalten. Im 21. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der Veränderungen bei den digitalen Technologien, sind Daten für die Unternehmen und ihre Beziehungen zu den Arbeitnehmer_innen immer wichtiger geworden. Die Plattform ist als neues Geschäftsmodell aufgetaucht. Damit können immense Mengen von Daten gewonnen und kontrolliert werden, und diese Wende brachte den Aufstieg großer Monopolunternehmen. (…)

Srnicek, Nick (2018 [2017]): Plattform-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition, S. 11.

Besonders zentral an Srniceks Plattformkapitalismus ist die überproportionale Bedeutung von Daten und Informationen im Verhältnis zu Dingen und Dienstleistungen. Neben personenbezogenen Daten, Konsum-, Krankheits-, Verhaltensdaten etc. bestehen Daten und Informationen zu einem meines Erachtens bisher vernachlässigten Anteil aus Meinungen, Meinungsprofilen und Meinungskohorten, die mit politischen Meinungen, Meinungen über Fakten, Meinungen über wissenschaftliche Versatzstücke und Theorierepertoire, oder auch gemeinten historischen Wirklichkeiten kapitalisiert werden. Die Kapitalisierung erfolgt auf Meinungsplattformen, wo Meinungen teils direkt, teils indirekt mit Kapitalia (Fiatgeld, soziales Kapital, politisches Kapital, usw.) konvertibel sind (vgl. Bourdieu 1983).

Weil über nicht-politische, private und grenzübergreifend-global agierende Plattformen wie Twitter, Meta (Facebook, Instagram) u.v.a. diese zeitgenössische vox populi als öffentliche Meinungen und (mit Hashtags versehenen) Stereotypen kanalisiert und vermarktet wird, werden in diesem Teil des Forschungsprojekts neben allen praktischen Aspekten und Chancen der Digitalen Revolution die problematischen Effekte entgrenzter Meinungsproduktion analysiert, deren Diffusion über Plattformen erfolgt, die in problematischem Ausmaß außerhalb des politischen Prozesses agieren. In Anlehnung und Erweiterung Srniceks Plattformkapitalismus gehe ich deshalb also von einem Meinungskapitalismus aus, dessen Vektor algorithmisch arbeitende Plattformen sind.

Diese Plattformen bilden in zunehmendem Maße Monopole, was sogar Insider der Techbranche wie Jaron Lanier ganz direkt ansprechen:

Wir alle wussten, dass diese Funktionen und viele andere über kurz oder lang gebraucht werden würden. Aber wir hielten es für klüger, diese Lücken von Unternehmern aus der freien Wirtschaft füllen zu lassen, anstatt diese Aufgabe dem Staat zu überlassen. Was wir dabei nicht bedachten, war der Umstand, dass diese digitalen Grundbedürfnisse aufgrund von Netzwerkeffekten und Lock-in-Phänomenen zum Entstehen von riesigen Monopolen führen würden. Wir haben blöderweise die Voraussetzungen für neue globale Monopole geschaffen und auch noch den schwierigsten Teil der Arbeit für sie erledigt.

Lanier, Jaron (2020 [2018]). Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 35.

Ich würde allerdings noch viel weiter gehen und heute von einer neuen Art der Oligarchie sprechen. Darüber habe ich im letzten Jahr einen kurzen Beitrag verfasst, nachdem Elon Musk entschieden hatte, der Ukraine über Starlink Internet aus dem All zur Verfügung zu stellen — was an und für sich nichts schlechtes ist. Es zeigt aber, dass inzwischen eine unglaublich geballte Machtfülle in der Hand von Privatunternehmern liegt, die sich anmaßen, Rollen in geopolitischen Konflikten zu übernehmen, die früher durch staatliche Monopole eingehegt waren. Heute dagegen gäbe es gar keinen staatlichen Akteur, der etwas vergleichbares wie Musk in so kurzer Zeit und ohne langwierige parlamentarische Entscheidungsfindungsprozesse tun könnte.

Constanze Kurz vom Chaos Computer Club hat die problematischen Zusammenhänge zwischen Meinungsplattformen, Bildung öffentlicher Meinungen und die Auswirkungen auf politische Gemeinwesen (Staaten, Demokratien, Gesellschaften) bereits vor einigen Jahren klar benannt: von großen Desinformationskampagnen und dem damit im Zusammenhang stehenden Aufschwung von Populismus besonders betroffen sind solche Länder, in denen Facebook sehr verbreitet ist. Außerhalb Europas betrifft dies zum Beispiel auch Indien oder Brasilien (Kurz 2018).

Zahlreiche weitere Analysen und Berichte über den problematischen Zusammenhang zwischen Demokratiegefährdung und der Wirkung digitaler Plattformen verdichten sich in den letzten Jahren, unterstützt von Ereignissen wie den Erstürmungen des Capitols in Washington (2021) und in Brasilia (2023). Besonders gut dokumentiert ist die Rolle der Plattform Twitter für das populistische Massenphänomen Trump in den USA. Weil der soziale Charakter angesichts der Tatsache, dass Meinungsplattformen eigentlich Werbeplattformen seien, sprach sich Kurz schon einige Jahre vor der Capitol-Stürmung zu Washington gegen den Begriff „Social Media“ oder „soziale Netzwerke“ aus (Kurz 2018).

Weitere Auseinandersetzungen mit der Thematik des Meinungskapitalismus sind in Arbeit. Darin sollen einige der weiteren, typischen Erscheinungsformen des Meinungskapitalismus diskutiert werden, die über die hier genannten, sehr plakativen und prominenten Beispiele hinaus gehen. Ich empfehle dazu unter anderem die Lektüre von Sibylle Bergs Roman GRM: Brainfuck, wo die Autorin diese Effekte des Zeitgeists auf eine literarische Weise einfängt; Jaron Laniers bereits erwähntes Buch Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst, sowie Justin E. H. Smiths geschichtsphilosophisches Buch The Internet Is Not What You Think It Is. Es gibt im englisch- wie deutschsprachigen Bereich aber eine ganze Bandbreite hervorragender Auseinandersetzungen mit dem Thema, die sich unter anderem in den Kolumnen oder auf Podcasts von DLF, in den Publikationen des CCC (Chaos Computer Club) oder auf netzpolitik.org finden. Alle Referenzen befinden sich als dynamisches Verzeichnis auf der Hauptseite Plattform- und Meinungskapitalismus.

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