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Crisis of attention: vom Touchscreen in die Verwirrung

Mit dem Meinungskapitalismus ist noch ein weiteres Problemfeld eng verbunden, das der Historiker und Philosoph Justin E. H. Smith als Aufmerksamkeitskrise bezeichnet hat. Im Gegensatz zu Studien, die sich hauptsächlich mit den technischen Eigenschaften von Manipulation durch Plattform-Algorithmen beschäftigen, beschreibt Smith in seinem Essay die Folgen für die menschliche Urteilsfähigkeit, die aus Sucht, Abhängigkeitsverhältnissen und verminderter Konzentrationsfähigkeit entstehen.

Mit dem Meinungskapitalismus ist noch ein weiteres Bündel von Problemen eng verbunden, das nicht nur die Äußerung und Vermarktung von Meinungen als Informationen betrifft, sondern auch ihre Bildung aus Informationen und der Umgang mit ihnen. Der Historiker und Philosoph Justin E. H. Smith hat dies als Aufmerksamkeitskrise (crisis of attention) beschrieben, die sich aus der plötzlichen Beschleunigung der Gegenwart entwickelt hat. Noch vor der manipulativen Dynamik der Algorithmen des Internets, seiner undemokratischen Besitz- und Steuerungsmachanismen ( „[…] the internet is aggressively undemocratic.“, Smith, S. 10) sowie seiner Nutzung als Mittel der Überwachung interessiert er sich für den verwässernden Charakter hinsichtlich der Urteilsfindung:

Smith, Justin E. H. (2022). The Internet Is Not What You Think It Is: A History, A Philosophy, A Warning. Princeton & Oxford: Princeton University Press.

First, the internet is addictive and is thus incompatible with our freedom, conceived as the power to cultivate meaningful lives and future-oriented projects in which our long-term, higher-order desires guide our actions, rather than our short-term, first-order desires.

Smith, Justin E. H. (2022). The Internet Is Not What You Think It Is: A History, A Philosophy, A Warning. Princeton & Oxford: Princeton University Press, S. 9.

Smith beschreibt die Aufmerksamkeitskrise als eine Form der Unfreiheit, die mit jener der Drogensucht vergleichbar ist. Darin stimmt er auch mit Jaron Lanier überein, der in seinem Buch Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst ganz direkte Vergleiche mit anderen Abhängigkeiten und Suchtdynamiken zieht.1Lanier, Jaron (2020 [2018]). Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg: Hoffmann und Campe. Wie Nick Srnicek in Plattform-Kapitalismus benennt er die Transformation der (Post-)Industrie als wichtigen Faktor, setzt den Schwerpunkt der Betrachtung aber auf die Perspektive der Konsumenten, die Auswirkungen des Konsums auf ihr Verhalten sowie ihre kognitiven Fähigkeiten und Urteilfähigkeit:

The earth has now moved under our feet in just the past few decades. The largest industry in the world now is quite literally the attention-seeking industry. Just as in the nineteenth and twentieth centuries the global economy was dominated by natural-resource extraction, today the world’s largest companies have grown as large as they have entirely on the promise of providing to their clients the attention, however fleeting, of their billions of users.

Smith, Justin E. H. (2022). The Internet Is Not What You Think It Is: A History, A Philosophy, A Warning. Princeton & Oxford: Princeton University Press, S. 14.

Eine Überfokussierung der Konsumentenperspektive (bzw. Prosumentenperspektive2Streng genommen müsste von Prosumenten die Rede sein, weil Medienkonsumenten auf Meinungsplattformen nicht nur konsumieren, sondern selbst produzieren, indem sie „liken“, teilen, kommentieren usw. Schon in der frühen Phase von „Social Media“ (2010) gab es zu diesem Begriff ergiebige Auseinandersetzungen, vgl. Blättel-Mink, Birgit und Hellmann, Kai-Uwe (Hg.)(2010): Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ) könnte natürlich dazu führen, die Materialität und den Ressourcenverbrauch des Internets zu unterschätzen; zudem führt die gegenwärtige Energie-, Nahrungsmittel- und Versorgungskrise seit der Covid19-Pandemie (ab 2020) und dem (zweiten) Angriffskrieg des populistischen, russischen Putin-Regimes gegen die Ukraine (seit 2022) vor Augen, wie groß und unvermindert die Abhängigkeit von natürlichen, dinglichen Ressourcen ist. Trotzdem ist es ein wichtiges Verdienst Smiths, den Umstand thematisiert zu haben, dass die menschliche Aufmerksamkeit und der Mensch selbst auf eine tatsächlich neue Art als Ressource vermarktet werden — und zudem noch unter dem Label „for free“; so sei auch der Begriff der „Datenkuh“ (data cow) für eine Person entstanden, die ihre Zeit online verbringt und ihre Daten quasi melken lässt:

This then is the first thing that is truly new about the present era: a new sort of exploitation, in which human beings are not only exploited in the use of their labor for extraction of natural resources; rather, their lives are themselves the resource, and they are exploited in its extraction.

Smith, Justin E. H. (2022), a.a.O., S. 15.

Ganz ähnlich, wenn auch aus einer anderen Perspektive, argumentiert auch Jaron Lanier3vgl. Lanier, Jaron (2020 [2018]). Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg: Hoffmann und Campe.. Doch diese Ausbeutung der Aufmerksamkeit, die sich für die Konsumenten während des Konsums wie Freiheit, Freiwilligkeit oder sogar Befriedigung anfühlen mag, geht mit enormen Kosten einher. „Die große Maschine, die sich von unzähligen kleinen Häppchen individueller menschlicher Aufmerksamkeit ernährt“ (S. 16), würde niemals so profitabel funktionieren können, wenn die Gegenwärtigkeit der Konsumentinnen im Internet auf einer reflektierten, zielorientierten, langfristigen Zielsetzung beruhen würde. Smith betont das bereits eingangs genannte, primäre Begehren (first-order desire) als Motivator für die im Internet verbrachte Zeit: Dopamin basierte Belohnung, nicht suchendes Interesse hält die Massen online, was schließlich die generelle Aufmerksamkeitskrise hervorbringt, die eigentlich Allen heutigen Internet-Usern auf die ein oder andere Weise bekannt sein dürfte:

Parents complain of the difficulty of limiting their children’s screen time; the pharmaceutical industry develops new drugs and new avenues of profit in the fight against attention deficit disorders like ADHD; start-ups sell special brain-scanning goggles that shock students back into focus when their attention begins to flag; people of all ages complain that they are no longer able to read a book from cover to cover or even to watch a movie without slipping away to Google some half-remembered trivia about one of its players. The crisis is real, and many-tentacled.

Smith, Justin E. H. (2022), a.a.O., S. 16.

Das Problem reicht aber noch weiter. Indem immer mehr Informationen und digitale Fußabdrücke produziert werden, ist ein Zustand erreicht, den Smith in Bezug auf Yves Citton als „Überproduktion von Kulturgütern“ bezeichnet (Smith, S. 16). Diese Überversorgung von Informationen, die gleichzeitig jedoch nicht angemessen verarbeitet werden können, führt zu so häufigen Gemeinplätzen wie der Rede davon, dass ein Land wie Deutschland auf einmal 80 Millionen Fachleute zu einem bestimmten Thema zur Verfügung habe — was natürlich das genaue Gegenteil persifliert. Laut Smith werden die Grenzen der unbedingt nötigen, intensiven Aufmerksamkeit (close attention) überschritten:

This then is the second new problem of the internet era: the way in which the emerging extractive economy threatens our ability to use our mental faculty of attention in a way that is conducive to human thriving.

Smith, Justin E. H. (2022), a.a.O., S. 17.

Wie diese wenigen Ausschnitte aus Smiths Buch The Internet Is Not What You Think It Is bereits zeigen, bewirkt der gängige Hervorbringungsmodus eine Aufmerksamkeitskrise mit Rückkopplungseffekten auf den gesamten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs. Begriffsverflachungen, -Verwässerungen, Polarisierungen und eine generelle Abnahme von Kritik- und Urteilsfähigkeit sind dadurch zu befürchten. Darum wird es auch in weiteren Beiträgen der Kategorien Neovox und Meinungskapitalismus gehen. Alle Referenzen aus diesem sowie den anderen Beiträgen der Kategorie Meinungskapitalismus.

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