Kategorien
Neovox

Rezension: Sibylle Bergs Dystopie GRM Brainfuck

GRM: Brainfuck ist der erste Teil einer dystopischen Trilogie einer durch den Neoliberalismus heruntergewirtschafteten Welt. Die Hauptprotagonisten des Romans sind vier Jugendliche namens Hannah, Karen, Don und Peter. Ein ganz zentrales Thema in GRM ist das Überwachungssystem. Die Überwachung funktioniert über Chips, die den Menschen eingepflanzt werden, aber auch über die weitreichende Pazifizierung der Gesellschaft, die über ein Grundeinkommen und Ausflüchte in Virtual Reality ruhig gestellt wird.

Sibylle Bergs Buch GRM: Brainfuck lag erst einmal ein paar Monate bei mir herum, bis ich es wirklich zur Hand genommen habe. Es hat dann wiederum ein paar Wochen gebraucht, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Und um eines gleich vorauszuschicken: ein schönes Leseerlebnis war es nicht. Dem behandelten Stoff wäre dies aber auch unangemessen gewesen, wobei der düstere Duktus meine Leseempfehlung mitnichten schmälert. Die Idee zu einer Inhaltsanalyse kam erst allmählich während der Lektüre auf – obwohl eigentlich schon die ersten zwei Seiten einen direkten, ziemlich brutalen Aufriss eines medial erzeugten Zeitgeists von Pseudo-Wirklichkeit liefern, der viel mit dem Hier und Jetzt zu tun hat:

Das frische Jahrtausend hatte eine Überschrift. Sie hieß ADHS. Kursiv darunter stand: Wir ordnen den Scheiß jetzt neu.
Es war die Zeit, in der Facebook groß wurde. In der viele ältere Leute dachten, das Internet bestünde nur aus dieser Idiotenplattform.
Es war die Zeit der massenhaften Falschmeldungsverbreitung, der Massenmanipulation. Die Menschen wurden unglaublich schnell süchtig nach den Likes ihrer Unbekannten. Die Jugendlichen wurden noch schneller abhängig von einer Erregung, die aus der Mischung von Mobbing, Gewalt, Sex und Bullshit entstand.
Es war die Zeit, in der zur realen Grausamkeit der Menschen noch die virtuelle hinzugefügt wurde.
In der die Sehnsucht nach Verständnis zu einer Wut der Unwissenden wurde.

Sibylle Berg (2020 [2019]). GRM: Brainfuck. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 6.

Ab Seite 207, wo ich schließlich anfing, kleine Haft-Memos in das 634seitige Buch zu kleben, habe ich gesehen, dass in GRM sehr viel mehr steckt als in einem Roman, den man nach der Lektüre einfach wieder weg legt. Der Stoff passt ganz hervorragend in die Kategorie NEOVOX, weil er eine literarische Umsetzung einer sehr real erscheinenden Dystopie ist, die am Ende des entgrenzten Plattform- und Meinungskapitalismus stehen könnte. Auch im Neopopulismus-Projekt geht es schließlich darum, wie der Raum gegenwärtiger Öffentlichkeiten umgepflügt und umstrukturiert wird. Und à propos Dystopie — auf dem hinteren Buchdeckel heißt es dazu:

Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben. Heute. Und vielleicht morgen. Es wird nicht schlimm. Nur – anders. Willkommen in der Welt von GRM.

Sibylle Berg (2020 [2019]). GRM: Brainfuck. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

GRM spielt in einer Überwachungsdiktatur, in der Algorithmen Menschen ersetzen und jeden Tag ein anderes Land im Westen autokratisch wird. Ich muss nicht eigens hinzufügen, wie aktuell Autokratisierungstendenzen sind, die wir seit Jahren beobachten und die sich oft auch noch aktiver oder indirekter Autokratieförderung verdanken (siehe auch Autokratieförderung). Doch während ich diese Zeilen schreibe, scheint diese Entwicklung gerade eine neue Wegmarke zu nehmen (sofern Israel zum Westen gerechnet werden kann). Deshalb hier aus gegebenem Anlass nur ein kurzer Exkurs:

In Israel, so ist im Spiegel zu lesen, opfere Benjamin Netanyahu gerade die Demokratie, um seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Der wegen Untreue, Bestechlichkeit und Betrug angeklagte Premierminister kann durch seine Immunität so lange nicht verurteilt werden, wie er sich an der Macht halten kann. Deshalb habe er das Land an religiöse Fanatiker verkauft, wogegen sich jetzt massenhafter Protest auf den Straßen abzeichnet. Auf dem Spiel steht zuerst die Abschaffung der unabhängigen Gerichtsbarkeit. Das Ziel der religiösen Fanatiker ist die Herstellung eines rein jüdischen Staates, in dem nur noch die Gesetze der Halacha gelten. Für Minderheiten — wie die große arabische Minderheit, Frauen, LGBTQ und Freigeister — ist es ein Alptraum, der jedoch nicht vom Himmel gefallen ist: für den israelischen Religionswissenschaftler Tomer Persico (zit. nach Spiegel) ist die Entwicklung zwar ein Novum, das den Staat Israel in etwas Vergleichbares wie die Theokratie der Islamischen Republik Iran transformieren könnte; nur eben unter jüdischen Vorzeichen.

Doch die Entwicklung hin zu diesem Zustand hat sich lange angebahnt, und letztlich hat die Bevölkerung Israels selbst im November 2022 Netanyahu gestärkt.1Heyer, Julia Amalia und Rettberg, Felix: Staatskrise in Israel: „Vorwärts ins Mittelalter“, in: Spiegel vom 27.1.2023, URL: https://www.spiegel.de/ausland/staatskrise-in-israel-kampf-um-die-demokratie-a-061d69a8-135b-4ff0-b8db-92b5790f57f2 (zuletzt abgerufen am 29.1.2023). Es war seit Jahren für jedermann offensichtlich, dass Benjamin Netanyahu ein dreister Populist ist, einer von sehr vielen, und es gab seit langem warnende Stimmen — die jedoch oft wie an einer teflonbeschichteten Oberfläche abzuprallen scheinen. Sibylle Bergs Roman GRM: Brainfuck kann wie eine solche warnende Stimme gelesen werden, auch wenn der Ort der Handlung im nordenglischen Rochdale und in London liegt – irgendwann nach dem populistischen Brexit-Referendum.

Sibylle Berg bringt sich als Kolumnistin im Spiegel regelmäßig zu aktuellen Themen wie Überwachung, vor allem aber zum Generationenkonflikt ein, um den es auch in GRM: Brainfuck geht. So schrieb sie in ihrer letzten Kolumne aus dem November 2022 (Erfindung einer neuen Empfindsamkeit) über das Auseinanderdriften in der wechselseitigen Verständnisbereitschaft zwischen Jungen und Älteren. Dabei fängt sie die hitzigen Debatten rund um die Klimaproteste der Letzten Generation ein und würdigt die Abgrenzung der Jüngeren als eine Notwendigkeit — warnt aber auch davor, sich in den vielen Proxy-Diskussionen zu verlieren. Am Ende empfiehlt sie

(…) all den Essayisten und Kolumnisten, die jetzt gerade am millionsten Text über Kunst, Kleber, Gendern sitzen – lasst es einfach. Untersucht die Gefahren der Überwachung, des Lobbyismus, prangert die Lügen einiger PolitikerInnen an, beruhigt die Menschen, bringt sie wieder dazu, miteinander zu reden, oder macht Mittagsschlaf. Und träumt von der Beantwortung der Frage: Ist denn euer Leben wirklich so großartig, dass ihr es vor der Jugend verteidigen müsst?

Berg, Sibylle: Erfindung einer neuen Empfindsamkeit, in: Spiegel vom 26.11.2023, URL: https://www.spiegel.de/kultur/jugendbewegung-erfindung-einer-neuen-empfindsamkeit-kolumne-von-sybille-berg-a-5f80ab54-f0d9-47bc-a88a-44b0aa11323e (zuletzt abgerufen am 29.1.2023).

Doch damit nun endlich zum Plot des Buches GRM.

Plot, Genre, Milieu: eine neoliberale Dystopie

GRM: Brainfuck ist der erste Teil einer dystopischen Trilogie einer durch den Neoliberalismus heruntergewirtschafteten Welt. Wie Berg in einem Beitrag auf Arte (Metropolis vom 31. Mai 2019) erklärt, waren die realen Orte Rochdale mit den „Seven Sisters“ genannten Hochhäusern sowie London geradezu prädestiniert, um die Handlung ihres Gedankenexperiments dort anzusiedeln: das Vereinigte Königreich kann als Vorreiter in der neoliberalen Privatisierung, Überwachung und Verelendung in Westeuropa gesehen werden. Dort sei stärker als anderswo in Europa ein Zustand der Verrohung erreicht, den man von England vielleicht gar nicht unbedingt erwarten würde. Dieser Zustand, in GRM schrill auf die Spitze getrieben, hüllt das gesamte Buch in eine teils schwer erträgliche Finsternis.

Das Rathaus und der Gebäudekomplex „Sieben Schwestern“ in Rochdale. Paul likes pics, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Die Hauptprotagonisten des Romans sind vier Jugendliche namens Hannah, Karen, Don und Peter. Aus unterschiedlichen Gründen haben sie sich von ihren Familien getrennt und schließen sich zusammen. Sie stellen eine Liste der Personen zusammen, an denen sie Rache nehmen wollen und versuchen, außerhalb des Systems zu leben. Von Rochdale, wo die Geschichte beginnt, verlagern sie sich nach London, wo sie sich mit Hackern zusammen tun, ohne jedoch dem System wirklich entkommen zu können.

Wer die britische Serie Top Boy gesehen hat, wird sich die Atmosphäre im Rochdale von GRM vielleicht besser vorstellen können. Die Parallelen sind nicht unbedingt Zufall. Der Titel GRM unterstreicht schließlich, dass es sich um ein Milieu handelt, in dem Grime gehört wird, eine britische Rap-Variante. In einem eigenen Beitrag des Crack Magazines (What did Top Boy do for grime?) werden die Zusammenhänge mit dem neuerlichen Grime Revival und der Serie Top Boy erörtert, die in einem sozialen Brennpunkt und Drogendealer-Milieu in England spielt (der top boy ist das tonangebende Gang-Mitglied). Top Boy wurde in vier zeitlich weit voneinander entfernt liegenden Staffeln produziert, zunächst in zwei Staffeln für den britischen Kanal Channel 4 und dann, nach langer Pause, in zwei weiteren für Netflix. Vielleicht ist es nur ein verzerrter Eindruck, aber mir schien im ersten Drittel des Buches, dass die Autorin unbedingt unter dem Einfluss der Serie Top Boy gestanden haben muss, als sie das Milieu für GRM schuf. Jedenfalls erinnert die Stimmung in Rochdale an die Trostlosigkeit der fiktiven Siedlung Summerhouse im London von Top Boy – wo es zwar so etwas wie sozialen Zusammenhalt durchaus noch gibt, wo aber der Neoliberalismus, spätestens in der dritten und vierten Staffel, die Erosion der Gesellschaft von innen vorantreibt.

Überwachung und Ruhigstellung: Chippung und Grundeinkommen

Ein ganz zentrales Thema in GRM ist das Überwachungssystem. Die Überwachung funktioniert über Chips, die den Menschen eingepflanzt werden, aber auch über die weitreichende Pazifizierung der Gesellschaft, die über ein Grundeinkommen und Ausflüchte in Virtual Reality ruhig gestellt wird. Es gibt keine Amokläufe oder nennenswerte Aufstände mehr (S. 336). Die Überwachung stellt sich in GRM eher als etwas dar, was sich über indirekten Zwang aufgebaut hat: die Leute lassen sich entweder chippen, oder sie lassen es bleiben; andere wiederum wissen das Chip-System zu manipulieren, indem sie Leichen ihrer Chips berauben. Andererseits werden besonders solche Menschen überwacht, die sich nicht überwachen lassen wollen, und „werden nur überwacht, weil sie nicht gechippt sind.“ (S. 425)

Während Rochdale und London in GRM zwar zahlreiche Parallelen zu heute aufweisen, gibt es auch wesentliche Unterschiede, die das Dystopische des Romans ausmachen. Die Todesstrafe ist wieder eingeführt. Das Punktesystem mit Minuspunkten für abweichendes Verhalten erinnert an Praktiken aus dem heutigen China (S. 325). Der Brexit, hie und da als markanter Wendepunkt erwähnt, erklärt sich in GRM ungenau als Abfolge koordinierter Terroranschläge und Destabilisierungskampagnen, was eine Prise von Verschwörungstheorie in das Buch einstreut. Ein „schwitzender Mann“ mit einer Würmer-Phobie, zwanghafter Sexualität und kreditunwürdigem, spielsüchtigem Status wird als Spindoktor, Internetstratege und letztlich „Krisenmanager“ aufgeführt. Seine Aufgabe ist es jedoch nicht, Krisen zu verhindern oder zu bewältigen, sondern sie einzuleiten und eskalieren zu lassen – die Shock Doctrine (Naomi Klein) lässt grüßen. Der Krisenmanager habe jahrelang in ausländischem Auftrag islamistischen Terror „re-brandet“, selbst Anschläge „kuratiert“ und die Pressearbeit koordiniert, um den Verfall der europäischen Wirtschaftszone zu befeuern (S. 409-410).

In Naomi Kleins Shock Doctrine, auf Deutsch als Schockstrategie erschienen, wird nachgezeichnet, wie das neoliberale Wirtschaftsprogramm über den gezielten Einsatz von schockierender und traumatisierender Gewalt umgesetzt werden konnte — angefangen mit den Aktivitäten der Chicago Boys in Chile. Klein, Naomi (2007). Die Schockstrategie. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag

Viele Menschen in GRM fühlen sich überflüssig in der ihnen fremd gewordenen Gegenwart. Eine systemische Wertschätzung ihrer Tätigkeiten und ihres Daseins gibt es längst nicht mehr. Das Schicksal der beiden Personen Berta und Henry „eignet sich erstklassig für ein Sozialdrama, das auf Filmfesten mit Sicherheit Preise erhalten würde“: Henry war einmal Bauzeichner, doch den Beruf gibt es nicht mehr; anschließend war er Straßenreiniger, bis auch diese Tätigkeit weg automatisiert wurde. Weil das Gesundheitssystem auch nicht mehr existiert – die Bereiche Onkologie und Kardiologie, Orthopädie und Kieferchirurgie wurden an eine chinesische Holding verkauft – musste er Crowdfunding betreiben, um Geld für seine erst krebskranke, dann querschnittsgelähmte Frau zu besorgen. (S. 417-418)

Die Entwicklung hin zum Überwachungsstaat erzählt die Geschichte des neoliberalen Paradoxons einer immer lauter nach Individualisierung rufenden Gesellschaft: Gerade der überbordende Individualismus („Jeder (…) Vollidiot glaubt, ihm stünde eine Gerechtigkeit zu…“, S. 426) führt zum Ruf nach der harten, männerischen Hand, was mit einer religiösen Renaissance einhergeht: „Und höret, wir müssen den Menschen wieder Regeln geben und einen Gott.“ (S. 427) Die Figur MI5 Piet, der als Überwacher arbeitet, findet das beruhigend:

Das Land, sein Land, befindet sich fast wieder in einem Idealzustand. In einer zufriedenen Aufgeräumtheit. Vergessen die Unruhen, das Ungleichgewicht, der absurde Drang, sein Leben zu einem Shoppingevent zu machen und durchzudrehen, wenn man mal aus Versehen keinen billigen Plastikscheiß aus Afrika kaufen kann. Durchzudrehen, weil Menschen einer Religion oder Hautfarbe den anderen ihren Shoppingspaß missgönnen. In der kurzen Zeit des Experimentes sind doch bereits erstaunliche Erfolge zu verzeichnen. Sie halten sich und die Straßen sauber, respektieren Regeln und Termine.

GRM, S. 427.
Quelle: Monnse, Hanns Rolf (1988): Platte, Tonband und Kassette. Leipzig: VEB Fotokinoverlag, S. 30.

Neo-Patriarchat und sexuelle Gewalt

GRM strotzt nur so vor Neopatriarchat und sexueller Gewalt – denn alles, was in das geräumige Register frauenfeindlicher, neokonservativer Agitation passt, war von Erfolg gekrönt. Homosexualität ist inzwischen verboten, nachdem populistische Akteure aus unterschiedlichen Ländern eine effektive Art der Zusammenarbeit gefunden haben, wie am Beispiel des Vaters der (homosexuellen) Figur Thome deutlich wird:

Dazu muss man wissen – Thomes Vater ist seit über zehn Jahren Mitglied in der nationenübergreifenden Organisation zur Wiederherstellung der natürlichen Ordnung, die gegen Widernatürlichkeit agiert. Begonnen hatten sie mit dem Netzwerk „Agenda Europe“. Das meint: mit viel Geld und allen legalen Mitteln Fakten herstellen. Die polnische Gesetzesvorlage zum Abtreibungsverbot, die Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen in mehreren mitteleuropäischen Ländern und unzählige andere Siegeszüge der christlichen Ideen. Denn: Homosexualität und Frauen, die leitende Positionen einnehmen, sind der erste Schritt zur Anarchie. Zu der Vereinigung gehören der Vatikan, ein irischer Senator, Europaparlamentarier, die Leiterin der Anti-Abtreibungsorganisation European Dignity Watch, Handlanger eines mexikanischen Milliardärs, Erzherzog Imre von Habsburg-Lothringen, und neben Thomes Vater ist auch Herr Hylton, ein Ex-Vermögensverwalter von Sir Michael Hintze, einem Klimawandelleugner, mit dabei.

GRM, S. 536.

Das ganze Buch hindurch ziehen sich brutale Szenen von sexuellem Kindesmissbrauch, die in brachialer Ausdrucksweise benannt werden. So ist immer wieder von einer „achtjährigen Nutte“ die Rede (z.B. S. 385). Auch eine der Hauptprotagonistinnen, Hannah, ist in GRM systematischer Vergewaltigung ausgesetzt. Peters polnische Mutter gerät in eine prostitutionsähnliche Beziehung zu einem reichen Russen, und Thomes Vater führt eine Beziehung mit einer sehr viel jüngeren russischen Frau, die ebenfalls eher an ein Prostitutionsverhältnis als an eine Ehe erinnert.

Verlust von Authentizität und Glaubwürdigkeit

In der Welt von GRM gibt es Menschen, die sich ähnlich wie heutige Slacktivisten in einer fragwürdigen Art von Online-Aktivismus engagieren – auch, um dafür Bonuspunkte zu sammeln. So wie eine Studentin:

Online engagiert sich die Studentin gegen: Beschneidung, Schächtung, Massentierhaltung, den Klimawandel, das Finanzsystem, die Minimalbesteuerung für Einkommensmilliardäre, Fracking und Atomkraftwerke, Atomwaffen und Überwachung. Sie hat die Symbole der Kohle- und Fracking- und Atomkraftgegner in ihrem Social-Media-Profil.

GRM, S. 451-452.

Diese Form des Engagements erinnert an das, was Hans-Georg Moeller und Paul J. D’Ambrosio als einen Verlust des Authentizitätsbegriffs und seinen Ersatz durch „Profilizität“ in der Folge von Social Media beschrieben haben.2Moeller, Hans-Georg and D’Ambrosio, Paul J. (2021): You and Your Profile: Identity After Authenticity. New York: Columbia University Press. Wichtiger als das durchdachte Ziel des Engagements oder die Sache an sich ist die Möglichkeit ihrer geglückten Inszenierung:

Die Studentin inszeniert in kleinen Off-Spaces Stücke mit Geflüchteten, die Leid erfahren haben. Sie hat kurz über ein Stück mit Kindern aus sozialen Brennpunkten nachgedacht, aber das war ihr unattraktiv erschienen. Da kommt ihr nichts in den Sinn, denn die Armen im Land sind nicht arm in einem Flüchtlingssinn. Sie sprechen Englisch. Sie haben sich ihre Situation selber zuzuschreiben.

GRM, S. 454.
Beispiele für Slacktivism und Profilizität. Quelle: Politikundwirtschaft, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Auch die Hipster von einst sind in GRM allmählich ins Alter gekommen und werden zu „Nutzern von Sharing Apps“ (S. 509-510). Wie die Studentin entspricht beispielsweise Alt-Hipster Jon, der als extrovertiert und leicht beeinflussbar bei übersteigertem Narzissmus beschrieben wird, der Dynamik des immer wieder scheiternden Drangs nach Authentizität:

„Ich wollte immer nur schreiben“, hört sich Jon sagen, er hört, wie dämlich dieser Satz klingt, so ein 2000er Satz, als fast alle schreiben wollten, weil es Harry Potter gab. Jede Woche schoss damals ein neu entdeckter Shootingstar auf die Bestsellerlisten. Die Menschen lasen schon damals nicht mehr, aber der Besitz von angesagten Büchern war ein Label. Und sich labeln war damals das Ding der Stunde gewesen. Es war das letzte Sichaufbäumen des sogenannten individuellen Menschen.

GRM, S. 511-512.

Dieser Verlust von Authentizität und Glaubwürdigkeit erfolgt, wie könnte es anders sein, in einem Zusammenhang mit Social Media – denn „zehn Jahre Soziale Medien haben eine immense geistige Verwüstung hinterlassen.“ (S. 458)

Leben in ausgesuchten Pseudo-Wirklichkeiten

Die Menschen in GRM leben in völlig unterschiedlichen Formen von Wirklichkeit:

Bots pushen jeden Scheiß, aber die Menschen haben sich auch daran gewöhnt, beziehungsweise es interessiert kaum einen, ob er reale Nachrichten sieht oder gefälschte, ob er mit einem Bot plaudert oder mit einem Menschen. Hauptsache, irgendeiner hört einem zu.

GRM, S. 447-448.

Eine alleinstehende Person namens Kevin traut zwar „nicht einmal den Leuten aus der Flat Earth Society“, obwohl er für sich erkannt hat, dass die Erde auf gar keinen Fall eine Kugel ist, nachdem er „Zetetic Astronomy: Earth Not a Globe“ (1865) des Autors Samuel Rowbotham gelesen hat.3Gründer der Zetetic Society, der Vorgängerorganisation der Flat Earth Society. Infolge der Lektüre hat ihn die Wahrheit „wie ein Schlag auf den Kopf getroffen und – Sein Vertrauen in alles vernichtet.“ (S. 394) Nicht alle wählen einen so radikalen Rückschritt in die grobe Vereinfachung der Welt wie die Figur Kevin; doch zahlreiche weitere Menschen sehnen sich in GRM, wo es an jeder Ecke Virtual Reality Angebote gibt, nach einer anderen, einfacheren Welt. Besonders betrifft das Menschen, die das Leben vor dem Internet kannten:

Dr. Brown hat die Welt vor dem Internet gekannt. Sie war ungerecht, sie war dunkel und langweilig, aber behaglicher. Die Menschen saßen vor ihren Häusern und betrachteten – in Ermangelung anderer Aufregung oder Netflix – Autos. Sie sprachen miteinander. Und wenn man einen erschlug, weil es das Menschenrecht gab, jemanden zu erschlagen, dann war das ein persönlicher, gleichsam liebevoller Akt. Heute wird auch das von Maschinen erledigt. Das Töten.

GRM, S. 439.

Schluss

Das Buch zieht sich schier endlos hin, was man teilweise wie unnötige Längen empfinden kann. Immer wieder kommt es zu Wiederholungen, der Stil Bergs ist gewöhnungsbedürftig – wobei man sich tatsächlich schnell an ihn gewöhnt hat. Jede Figur wird mit einer kurzen Zusammenfassung der Überwachungsdaten ihrer Profile eingeführt, oft mitten in einem Satz, wobei Sätze oft abrupt enden. Diese Schreibweise ist so abgehakt und aufgelöst wie der gesellschaftliche Zusammenhang in GRM, der nicht aus Überwachung besteht. Satzzeichen und Absätze werden relativ willkürlich gesetzt, jedenfalls ohne erkennbare Logik und Systematik. Zwischendurch verwendet die Autorin immer wieder Interjektionen wie naja oder dito; die Sprache erscheint stellenweise wie eine Persiflage einer Art von Newspeak, die vielleicht aus den Verheerungen der Social Media geboren wurde. Es ist ein Buch der Beiläufigkeiten, der Versatzstücke, die aufgeschrieben worden zu sein scheinen, weil sie heraus mussten. Berg scheint sehr darauf bedacht gewesen zu sein, alles, angefangen beim Wetter, möglichst hässlich darzustellen – was ihr auch gelingt. Irgendwann ab Seite 400 fragte ich mich, wo eigentlich die Handlung abhanden gekommen war. Doch um die Handlung scheint es der Autorin in GRM gar nicht wirklich zu gehen, sondern eher um das Wie. Wie gesagt: schön ist das nicht. Aber ein lesenswertes Gedankenexperiment, das auch auf RCE. #RemoteCodeExecution gespannt macht, den zweiten Teil von Bergs dystopischer Trilogie.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.