Coverbild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1110-038 / Ludwig, Jürgen / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons
Die theoretischen Bezüge und die Wahl der Methoden, sowohl für das Teilprojekt Neopopulismus als auch das Gesamtprojekt Hermannova, sollen in den folgenden Abschnitten begründet werden. Dadurch sollen die unter Idee & Konzept dargestellten Teilbereiche vertieft und besser verständlich werden. Auf den Überblicksseiten der vier Teilbereiche 1. Neostory, 2. Neopolis, 3. Neovox und 4. Neomotion sollen diese theoretischen und methodologischen Bezüge erweitert und über Beobachtungen aus der Praxis ausführlicher und vollständiger abgebildet werden. Methodisch wird dies über Science Blogging erfolgen: unter den gleichnamigen Kategorien sollen diese Ergänzungen in Gestalt von Blog Posts hinzugefügt werden. Dieser prozessuale und offene Umgang mit theoretischen Angeboten und der Auseinandersetzung durch andere Forscher:innen beruht auf der Erfahrung des Autors in vorangegangenen Forschungsprozessen: auch wenn die Auseinandersetzung mit Theorien und Methoden in Graduiertenprogrammen am Anfang des Forschungsprozesses steht, zeigt sich, dass die Informierung durch Theorien ein anhaltender Prozess ist, der besonders während des Forschungsprozesses gewinnbringend sein kann. Das Wechselspiel von Induktion und Deduktion ist auch im methodologischen Ansatz von Grounded Theory (Alheit 1999; Corbin & Strauss 1990; Krotz 2005; Pandit 1996) zentral.
Wie bereits auf den Überblicksseiten angelegt ist, entsteht dort eine mit der Zeit anwachsende Bibliographie, aber auch der Zugang zu anderen Ressourcen wie Science Blogs, Datenbanken, Institutionen, Multimedia-Seiten oder Projektportalen. Referenzen und Ressourcen dienen nicht nur dem wissenschaftlichen Beleg, sondern auch dem freien Nachschlagen und Nutzen durch andere, thematisch interessierte User an der Seite Neopopulismus. Dafür soll in Zukunft noch ein geeigneteres Format gefunden werden, zum Beispiel als Neopopulismus-Wiki oder als Toolbox.1Anregungen dazu finden sich u.a. beim Iranistik-Projekt Vezvez-e kandu von Vincent Vaessen oder bei der Südosteuropa-Research Toolbox von Đorđe Tomić. Weil die Referenzen und Ressourcen zum Thema Open Science — wie im Open Scientist Handbook (Caron 2020) dargestellt — eine ganz zentrale und innovative Bedeutung für das Projekt Hermannova (und seine Teilprojekte) einnehmen, wird dies auf der Seite Open Science Inkubator eigens diskutiert. Außerdem entsteht dazu eine Serie von Blog Posts unter der Kategorie Open Science. Die folgenden Abschnitte beginnen mit dem Projektbereich Neostory, chronologisch gefolgt von den übrigen, im Menü nummerierten Reitern Neopolis, Neovox und Neomotion.
1. Wendezeiten, der Drang in klare Vergangenheiten und der Aufschwung des Neopopulismus
Der Zusammenhang zwischen Wendezeiten und dem Aufschwung von Populismus erfordert einerseits die Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung seit der späten und ausgehenden Industriemoderne im 20. Jahrhundert und insbesondere seit der Wendezeit der 1980er-1990er Jahre (Bluhm 2017; Bluhm 2023; Ther 2016). Dabei verdienen die „Roaring Nineties“ (Stiglitz 2004), die Transitionswirtschaftsphase mit dem Ende der staatssozialistischen Planwirtschaft in Ost- und Südosteuropa (Lavigne 1999), sowie die Geschichte des Neoliberalismus (della Porta 2017; Fraser 2017; Illouz 2017) Revision: die (Miss-)Erfolgsgeschichte der neoliberalen Konjunktur ab den 1980er Jahren beginnt vor den „regressiven“ Bewegungen (Nachtwey 2017) der Gegenwart — und beide sind, allein mit Blick auf die Medienbesitzstrukturen des neoliberalisierten Felds der Medienlandschaften neopopulistischer und autokratischer Sendegebiete, miteinander zutiefst verwoben (China’s pursuit of a new world media order).
Hier fließt ebenso der beständig wachsende Bestand an Literatur über Populismus ein (Mudde & Rovira Kaltwasser 2017; Mudde 2004; Rosanvallon 2020), wobei besonders die Unterschiede zwischen den in dieser Literatur getroffenen Unterscheidungen zwischen rechten, linken, nativistischen und anderen Populismusspielarten kritisch diskutiert und herausgearbeitet werden sollen. Schließlich baut die Besonderheit des Begriffs Neopopulismus — der als grenzübergreifender Populismus verstanden wird, in dem mehr als nur ein populus bzw. eine national eingegrenzte vox populi adressiert werden — auf dieser Auseinandersetzung auf. Dazu bestehen auch schon eigene Vorarbeiten auf diesem Blog.
Natürlich müssen die Besonderheiten der unter Geographie und Teilprojekte behandelten Kontexte besondere Beachtung finden — zum Beispiel Ost- und Ostmitteleuropas (Kopeček 2008; Tomić 2012), der Türkei (Duran 2019), Südosteuropas (Stojanović 2017) und Deutschlands (Sauerbrey 2017). Abgesehen davon ist allen neopopulistischen Dynamiken neben ihren spezifischen (und durchaus unterschiedlichen) Sendungen, Texten und Visionen gemein, dass von neopopulistischen Akteuren eine Revision etablierter bzw. vormals hegemonischer Geschichtsbilder gefordert wird — dass diese Revision jedoch unter revisionistischer, nicht-faktenbasierter, selektiver Herangehensweise versucht wird, umzusetzen. Dazu werden Grundlagentexte zu den Phänomenen Revisionismus behandelt (Tucker 2008; Pető 2015), wozu sich im offenen Syllabus einer Lehrveranstaltung an der Universität Regensburg weitere Referenzen finden (auf diesem Blog). Außerdem bestehen weitere, eigene Vorarbeiten dazu, die im Rahmen des Public-History-Projekts Histoire pour la liberté im Laufe des Jahres 2021 entstanden sind, wofür es eine eigene Übersichtsseite mit Einzelbeiträgen und weiterführenden Links zu den stattgefundenen Panels und entstandenen Berichten auf einem anderen Blog gibt.2Das Projekt Histoire pour la liberté wurde im Rahmen des EU-Programms Europa für Bürgerinnen und Bürger gefördert und unter Leitung von Udruženje KROKODIL (Belgrad) gemeinsam mit dem Verein Udruženje za modernu historiju (UMHIS, Verband für moderne Geschichte, Sarajevo), dem Kliofest (Zagreb) und dem Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt. Projektbeteiligte seitens der Humboldt-Universität zu Berlin waren Prof. Dr. Hannes Grandits, Dr. Ruža Fotiadis, Dr. des. Thomas Schad sowie Dr. Marija Vulesica. Lucija Bakšić, Doktorandin am selben Lehrstuhl, hat über die Berliner Veranstaltung zum Thema Vernetzte Historiographien in Südosteuropa und Deutschland einen Bericht auf Connections verfasst.
Auch das Phänomen der Nostalgie, der restaurativen Nostalgie und das Streben in die Vergangenheit muss für das Phänomen des Neopopulismus besondere Beachtung finden (Bauman 2017; Boym 2001; Boym 2007; Lowenthal 2015). Die Unausweichlichkeit, sich durch den augenscheinlichen Bedarf nach „narrativer Identität“ der Bedeutung von Narrativen nachzugehen — sowie die Frage danach, welche Geschichten über die Geschichte in die Zukunft führen sollen und welche Geschichten sich dann erzählt werden sollen — gehört ebenfalls in diesen Themenkomplex (Ricoeur 1985; Meuter 1995; Welzer 2014 [2008]). Mit dem Dilemma, einen katastrophischen Progress beschreiben zu müssen, ist das nächste Feld betreten, wo es um die epochalen, aber keineswegs plötzlich eingetretenen Veränderungen der Gegenwart geht — die in der Industriemoderne des 19. und 20. Jahrhunderts wurzeln.
Referenzen
Alheit, Peter (1999): „Grounded Theory“: Ein alternativer methodologischer Rahmen für qualitative Forschungsprozesse. Göttingen. S. 1-19.
Appadurai, Arjun: Demokratiemüdigkeit, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 17-35.
Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Berlin: Edition Suhrkamp.
Bauman, Zygmunt: Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 37-56.
Bluhm, Katharina: Zur Genese des neuen russischen Konservatismus, in: RUSSLAND-ANALYSEN NR. 330, 17. 02. 2017.
Bluhm, Katharina (2023): Russland als Pionier eines neuen illiberalen Konservatismus? Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Zur Kritik und Zukunft des liberalen Skripts“, Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)“. Abrufbar von der Mediathek DLF Nova / Hörsaal, URL: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/wertvorstellungen-russland-als-partner-der-konservativen-rechten (zuletzt abgerufen am 15.4.2023).
Boym, Svetlana (2001): The future of nostalgia. New York: Basic Books.
Boym, Svetlana: Nostalgia and Its Discontents, in: The Hedgehog Review, Summer 2007, 7-18.
China’s pursuit of a new world media order. Reporters without borders: for freedom of information, 2019. URL: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/News/Downloads/en_rapport_chine_web_final.pdf
Corbin, Juliet und Anselm Strauss: Grounded Theory Research: Procedures, Canons, and Evaluative Criteria, in: Qualitative Sociology, Vol. 13, No. 1, 1990.
della Porta, Donatella: Progressive und regressive Politik im späten Neoliberalismus, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 57-76.
Duran, Hazal (2019). Populism on the Rise in Turkey. Politics Today. URL: https://politicstoday.org/populism-on-the-rise-in-turkey/ (last retrieved 27.1.2021).
Fraser, Nancy: Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 77-91.
Illouz, Eva: Vom Paradox der Befreiung zum Niedergang der liberalen Eliten, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 93-116.
Kopeček, Michal (Ed.)(2008): Past in the Making: Historical Revisionism in Central Europe after 1989. Budapest/New York: Central European University Press.
Krastev, Ivan: Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur?, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 117-134.
Krotz, Friedrich (2005): Neue Theorien entwickeln: Eine Einführung in die Grounded Theory, die Heuristische Sozialforschung und die Ethnographie anhand von Beispielen aus der Kommunikationsforschung. Köln: Herbert von Halem Verlag.
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Caron, B. R. (2020). Open Scientist Handbook. Open Scientist Handbook. https://doi.org/10.21428/8bbb7f85.35a0e14b
Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp.