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Theorien & Methoden (2): Zeitenwende, Metamorphose der Welt und Anthropozän

„(…) wir sind uns nicht sicher über die Beschaffenheit oder, besser, die Konsistenz der Welt, in der wir handeln sollen. Sie ist uns fremd geworden. Wir sind buchstäblich „nicht mehr bei uns“. Ungeachtet der Bewegungen und Gegenbewegungen der vorangegangenen Epochen kann man sagen, dass sie „wussten, wo sie hingehen“, da sie sich modernisierten.“

(Bruno Latour und Nikolaj Schultz)

Hinsichtlich der Frage nach der sich transformierenden Staatlichkeit, die sich vom Prinzip der Nationalstaatlichkeit auf eine nicht eindeutige Weise entfernt und unter Neopolis erforscht wird, nimmt dieses Projekt ursprünglich Anleihen bei Ulrich Becks Diktum der Metamorphose der Welt, wie er sein letztes und unvollständig gebliebenes Werk übertitelt hatte (Beck 2016). Diese Metamorphose bedeutet mitnichten, dass Nationalstaatlichkeit als soziale und politische Realität irrelevant geworden wäre — wie sich besonders im Fortwirken nationalstaatlicher Institutionen, Gestaltungs- und Finanzierungsmöglichkeiten zeigt. Deshalb setzt sich das Projekt zunächst mit dem widersprüchlichen Phänomen des methodologischen Nationalismus auseinander, der auch wichtige Fragen wissenschaftlicher Fokussierung und Perspektivsetzung berührt (Beck/Grande 2010; Beck/Sznaider 2006; Wimmer/Glick-Schiller 2003). Darin besteht zwar einerseits ein paradigmatischer Widerspruch zur Kosmopolitisierungsthese Becks; die fortwirkende Relevanz von Nationalstaatlichkeit kann jedoch andererseits nicht unbeachtet lassen, dass es mit dem anthropogenen Klimawandel (Thunberg 2022) ein globales — und damit ein genuin kosmopolitisches — Problem gibt. „This Changes Everything“, wie Naomi Klein im Anschluss an den zuvor von ihr beschriebenen Aufstieg des „Katastrophenkapitalismus“ beschreibt (Klein 2014) — wenn auch zu ganz unterschiedlichen Kosten und in je unterschiedlichem Ausmaß in den stark und schwach industrialisierten Staaten, sowohl was die Folgenresilienz, als auch die Verantwortung betrifft (Thunberg 2022: 166 ff. / „Wir sitzen nicht alle im selben Boot“). 

Bereits vor 50 Jahren (1972) kam der Club of Rome mit seiner Studie Die Grenzen des Wachstums — Bericht des Clubs of Rome zur Lage der Menschheit zur Prognose, dass es zwangsläufig zu einem Prozess des Umdenkens würde kommen müssen. Daran knüpfen auch Franz Alt und Ernst Ulrich von Weizsäcker mit ihrem Buch Der Planet ist geplündert: Was wir jetzt tun müssen an (Alt/Weizsäcker 2022). Die inzwischen auch morphologisch (das heißt: geologisch) feststellbare Metamorphose der Welt hat dem (in der Geologie weiterhin umstrittenen) Begriff des Anthropozäns weitere Verbreitung gebracht hat (Benner/Lax/Crutzen(†)/Pöschl/Lelieveld/Brauch 2021). Auf so unterschiedlichen Ebenen wie im Energiesektor (Radtke/Canzler/Schreurs/Wurster 2019), im Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen des Kapitalismus (Hermann 2022), aber auch in der Historiographie (Mauelshagen 2012; Radkau 2008; Tanner 2022; Pfister/Wanner 2021) wird der Ruf nach einem paradigmatischen Umdenken immer lauter. Wie die Herausgeber Radtke/Canzler/Schreurs/Wurster (2019) in ihrem Sammelband Energiewende in Zeiten des Populismus einleitend feststellen, verbergen sich hinter den „Klima-Konflikten“, die sich in der öffentlichen Meinung abspielen, immer auch andere Konflikte:

Die Konflikte betreffen diverse gesellschaftliche Meta-Diskurse: Etwa den Generationenkonfikt wie im Falle der Fridays for Future-Bewegung („Jung und Alt“); den Konfikt zwischen ländlichen, zum Teil marginalisierten Regionen der Kohleförderung (oder Windenergie-Landschaften) und ambitionierten Städten, die vermehrt in Nachhaltigkeit investieren („Stadt und Land“) und den Konfikt zwischen akademisch-umweltbewussten und traditionell-konservativen Bevölkerungsteilen sowie ihren Pendants im politischen Spektrum („Links und Rechts“). Populismen wirken hierbei wie ein Schwamm, der vorhandene Spannungen aufsaugt und transportiert, in Dualismen übersetzt und symbolisch (vermeintlichen) Gegensätzen ein Gesicht verleiht.

Radtke, Jörg / Canzler, Weert / Schreurs, Miranda A. / Wurster, Stefan (Hrsg.) (2019): Energiewende in Zeiten des Populismus. Wiesbaden: Springer VS, S. 5.

Christian Pfister und Heinz Wanner haben mit Klima und Gesellschaft in Europa: die letzten tausend Jahre (Pfister/Wanner 2021) einen Überblick über die europäische Klimageschichte vorgelegt, der geologische, meteorologische, umwelt- und sozialgeschichtliche Quellen zusammenführt. Zahlreiche einzelne historiographische Beispiele der Auswirkungen von starken Frost-, Dürre- und Hitzeperioden, aber auch Pandemien und globalen Zusammenhängen, vermitteln Eindrücke über die Langzeitfolgen auf die Entwicklung der Gesellschaft. Daneben besteht, gerade angesichts der schieren Relevanz sowie als Resultat aus einer anthropozentrischen Geschichtsschreibung, ein wachsender Bestand an historiographischer Literatur über Umweltgeschichte (Mauelshagen 2012; Radkau 2008; Tanner 2022; Kupper 2021). 

Die in der genannten, umweltgeschichtlichen Literatur behandelten Beispiele wie stark die Geschichte des Menschen mit der Umweltgeschichte verbunden ist, zeigen, wie relevant das Thema Klimawandel in der ungleich größeren, naturräumlichen Veränderung der Gegenwart und Zukunft für die geistes- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung heute sein muss. Bruno Latour und Nikolaj Schultz fordern in ihrem Memorandum Zur Entstehung einer ökologischen Klasse (Latour/Schultz 2022) einen Paradigmenwechsel, um in Zukunft sinnvoll handeln zu können — wozu aber ein neues Verhältnis zur Welt gefunden werden müsse. Unter Ein anderer Sinn der Geschichte in einem anderen Kosmos (Latour/Schultz 2022: 44) stellen sie fest: 

(…) wir sind uns nicht sicher über die Beschaffenheit oder, besser, die Konsistenz der Welt, in der wir handeln sollen. Sie ist uns fremd geworden. Wir sind buchstäblich „nicht mehr bei uns“. Ungeachtet der Bewegungen und Gegenbewegungen der vorangegangenen Epochen kann man sagen, dass sie „wussten, wo sie hingehen“, da sie sich modernisierten. Zudem konnten sie, was ungemein beruhigend war auf eine ziemlich stabile, vorhersehbare und bekannte Welt zählen. Derartige Gewissheiten zu teilen bedeutete, beim geringsten Alarmzeichen schnell reagieren zu können.

Latour, Bruno und Schultz, Nikolaj (2022): Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. ein
Memorandum. Berlin: Edition Suhrkamp, S. 44.

Wie sicher sich die Menschen vergangener Epochen ihrer Gewissheiten und Kosmologien waren, mag fragwürdig erscheinen. Doch dass das heutige Sein in der Welt für viele Menschen, die in den Sog „populistischer Versuchungen“ (Žižek 2017) geraten sind — ganz zu schweigen von den Opfern der zunehmenden, realen Katastrophen, die mit dem Klimasystem zu tun haben — mit der großen Verunsicherung angesichts dramatischer naturräumlicher Veränderungen zu tun hat, erscheint plausibel. Einige Autoren, wie Daniel R. Headrick (2021), haben sich besonders mit den interspezifischen Verhältnissen (Menschen, Tieren, Pflanzen, weitere Spezies) auseinandergesetzt, die wegbegleitend für die sich modernisierenden Menschen waren. Dies stellt eine in der Historiographie nach wie vor seltene Perspektive dar, die für die weiteren Teilprojekte von Hermannova jedoch wesentlich ist.

Im zweiten und dritten Projektteil von Hermannova, wo in Bosnien und Berlin Feldarbeit erfolgen wird, soll die Verengung auf eine anthropozentrische Perspektive jeweils systematisch aufgesprengt werden. Wie die schwarzen Menüfelder unter den Reitern 2. Berlin und 3. Bosnia auf den Screenshots (unten) zeigen, berücksichtigen die bisherigen Kategorien zur Datenerhebung neben der Geographie und Sozialraumbeschaffenheit (Spatial Berlin/Bosnia), der Humangeschichte (Historical Berlin/Bosnia), der Soziologie und Anthropologie (Social Berlin/Bosnia), der Soziolinguistik (Linguistic Berlin/Bosnia) und der spirituellen Praxis (Spiritual Berlin/Bosnia) die Kategorie Interspezifizität (Interspecific Berlin/Bosnia). Dort soll die naturwissenschaftliche Unterteilung in die verschiedenen lebensweltlichen ‚Reiche‘ (Regna: Regnum Animalia, Fungi, Plantae, Protista, etc.) um eine Perspektive des sogenannten Interregnums erweitert werden, womit das verwobene Verhältnis aller Lebewesen — aber auch der Nicht-Lebewesen, wie z.B. der Viren, der Dinge, Materialien, (fossilen) Ressourcen — gemeint ist.1Unter Interregnum wird ansonsten in Anschluss an Antonio Gramsci ein Zwischenzustand zwischen unterschiedlichen Herrschafts- bzw. Politikregimen verstanden.       

Weil der anthropogene Klimawandel alle Bereiche des interspezifischen Lebens durchdringt — oder zumindest überschattet und bedroht — und weil der Begriff des Anthropozäns wiederum eine wie auch immer berechtigte, anthropozentrische Perspektive in neuem Gewand darstellt, wird hier stattdessen der Arbeitsbegriff der Meta-Katastrophe (anthropogener) Klimawandel präferiert. Auf der Suche nach sinnvollen Erkenntnissen und Lösungsansätzen soll nach Abschluss der Feldforschung in Berlin und Bosnien das Ergebnis der Grounded Theory präsentiert werden. Da es sich hierbei um Sicherheitsfragen und Policies zur Erhaltung und Förderung von Sicherheit in vulnerablen, interspezifischen Differenzgemeinschaften handelt, baut die Theoriearbeit in einer Auseinandersetzung mit bestehenden Sicherheitsparadigmen auf. Dazu gehört eine kritische Betrachtung traditioneller, nationalstaatlich verfasster Sicherheitspolitik; eine Auseinandersetzung mit den 17 Sustainable Development Goals (SDG; Nachhaltigkeitszielen) der UNO; sowie eine Revision des in den 1990er Jahren von der UNO entwickelten, in der Zwischenzeit aber durch die SDG in den Hintergrund gedrängten, alternativen Sicherheitsparadigmas Human Security (Elliott 2015; MacLean / Black / Shaw 2006; Paris 2001). Das Ziel der Forschung ist die Formulierung interspezifischer Sicherheit, die lokal und global zugleich ist.

Referenzen

Beck, Ulrich (2016). The Metamorphosis of the World. Cambridge/Malden: Polity Press.

Beck, Ulrich und Edgar Grande: Jenseits des methodologischen Nationalismus: Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne, in: Soziale Welt , 61. Jahrgang, Heft 3/4, Variationen der Zweiten Moderne (2010), S. 187- 216. 

Beck, Ulrich / Sznaider, Natan: A literature on cosmopolitanism: an overview, in: The British Journal of Sociology 2006 Volume 57 Issue 1.

Wimmer, Andreas & Nina Glick Schiller. (2003). Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration: An Essay in Historical Epistemology. In: IMR Volume 37 Number 3 (Fall 2003), pp. 576-610.

Benner, Susanne / Lax, Gregor / Crutzen, Paul J. (†) / Pöschl, Ulrich / Lelieveld, Jos / Brauch, Hans Günter (Hrsg.) (2021). Paul J. Crutzen and The Anthropocene: Politik — Economics — Society — Science. Cham (CH): Springer.

Mauelshagen, Franz: „Anthropozän“. Plädoyer für eine Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2012), H. 1, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2012/4596, DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1606, Druckausgabe: S. 131-137.

Radkau, Joachim (2008): Nature and Power: A Global History of the Environment. Cambridge: Cambridge University Press.

Radtke, Jörg / Canzler, Weert / Schreurs, Miranda A. / Wurster, Stefan (Hrsg.) (2019): Energiewende in Zeiten des Populismus. Wiesbaden: Springer VS.

Tanner, Ariane: Anthropozän, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.5.2022, URL: http://docupedia.de/zg/Tanner_anthropozaen_v1_de_2022 (zuletzt abgerufen am 21.7.2022).

Thunberg, Greta (Hrsg.) (2022). Das Klima Buch von Greta Thunberg. Frankfurt a.M.: S.Fischer Verlag.

Alt, Franz und Weizsäcker, Ernst Ulrich von (2022): Der Planet ist geplündert: Was wir jetzt tun müssen. Stuttgart: Hirzel.

Elliott, Lorraine (2015). Human security / environmental security, in: Contemporary Politics, 21:1, 11-24, DOI: 10.1080/13569775.2014.993905.

Headrick, Daniel R. (2021): Macht euch die Erde untertan: Die Umweltgeschichte des Anthropozäns. Darmstadt: wbg Theiss.

Herrmann, Ulrike (2022): Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Köln: Kiepenheuer & Witsch

Klein, Naomi (2014). This Changes Everything. Capitalism vs. the Climate. London/New York: Penguin Books.

Kupper, Patrick (2021): Umweltgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlage (UTB).

Latour, Bruno und Schultz, Nikolaj (2022): Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. ein Memorandum. Berlin: Edition Suhrkamp.

MacLean, Sandra J./Black, David R. and Timothy M. Shaw (Eds.)(2006). A Decade of Human Security. Global Governance and New Multilateralisms. Aldershot: Ashgate.

Paris, Roland (2001). Human Security. Paradigm Shift or Hot Air? in: International Security, Vol. 26, No. 2 (Fall 2001), pp. 87–102.

Pfister, Christian und Wanner, Heinz (2021): Klima und Gesellschaft in Europa: Die letzten tausend Jahre. Haupt Verlag.

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