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Wirklichkeitsbeugung (II): Sprechakt und Heckenausdrücke im Presse-Echo zur Israel/Iran-Eskalation

Das aktuelle Beispiel eines soeben erschienenen Tagesschau-Interviews zur jüngsten Israel/Iran-Eskalation offenbart im Kontrast zu einem gleichzeitig veröffentlichten Guardian-Artikel über Absicht und Grund des Netanjahu-Regimes zum neuerlichen Waffengang nicht nur einen Mangel an faktischer Kontextualisierung, sondern verdient vor allem pragmalinguistische Analyse. So können sprechaktliche Absicht leichter identifiziert, fundierte mediale Empfehlungen in einem globalen, neopopulistischen Kontext ausgesprochen werden. Neben dem Vergleich erweisen sich die Sprachakttheorie und das Feld der Verheckungsstrategien als geeignete Mittel. Der Beitrag erscheint im Kapitel NEOVOX, wo es um sprachliche Charakteristika entgrenzter, neopopulistischer Diskurse geht.

In der Pragmalinguistik weiß man ganz genau, dass es manchmal einfach darum geht, „wie herum“ ein Satz geschrieben ist, obwohl man ihn genauso gut auch „anders herum“ hätte schreiben können. Es handelt sich dabei um Grundlagen der Sprechakttheorie, die bestens bekannt sind, besonders unter Medienschaffenden und professionelleren politischen Sprecherinnen. Daher sollte, besonders wenn es sich um ein „heikles“ Thema handelt, das die Gefahr der Diskreditierung und des Gesichtsverlusts von Sprecher:in mit sich bringt, von Absichtlichkeit des Senders/der Senderin ausgegangen werden.1Bei prominenten politischen Sprecherinnen mag man im Feld der Außenpolitik unmittelbar an Annalena Baerbocks groteske Missgeschicklichkeiten und nie enden wollende, sprachlich-professionelle Fauxpas denken, die jedoch eine markante Ausnahme der Regel bilden; gerade deshalb haben sie in der breiten Öffentlichkeit auch so starken Widerhall gefunden, womit sie freilich nur die Regel bestätigen. Ganz besonders gilt dies natürlich für mehrfach redigierte Beiträge, wovon bei einem Medium wie tagesschau24 auszugehen ist.

Dort findet sich folgendes Beispiel eines Interviews, dem — abseits von Verschwörungstheorien oder „Lügenpresse“-Rhetorik — absichtliche Wirklichkeitsbeugung unterstellt werden kann, wobei unter Absicht nicht „schlechte Absicht“ oder bewusste Absicht verstanden werden muss; dies kann, muss aber nicht der Fall sein.2Absicht kann durch verinnerlichte Feldregeln quasi intuitiv wirken, genauer weiter unten. Aber kommen wir gleich zum Pragma und den Textbeispielen, die dies belegen sollen. Ich copy-paste nur den Teaser-Absatz und den ersten Absatz vor dem eigentlichen Interview (Hervorhebungen in Initialen durch mich):

Die GEGENSEITIGEN ANGRIFFE IN NAHOST markieren laut Politikwissenschaftlerin Scheller eine neue Dimension der Eskalation. Aus ihrer Sicht sind derzeit weder eine israelische „Exit-Strategie“ noch diplomatische Bemühungen erkennbar.

Nun muss in der Zwischenzeit tatsächlich von wechselseitigen Angriffen die Rede sein; dennoch gab es hier eine Reihenfolge, die in der journalistischen Sorgfaltspflicht sowie hinsichtlich des ius ad bellum (der Frage der Rechtfertigung eines „gerechten“ Kriegs) unbedingt beachtet werden muss und auch schon intensiv diskutiert wird. Das alles wird im Tagesschau-Beitrag jedoch völlig verschluckt. Gravierender noch ist der nächste Absatz:

Die Lage im Nahen Osten eskaliert weiter – und erreicht aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Bente Scheller eine neue Dimension. „Die Massivität, MIT DER ISRAEL VON IRANISCHEN RAKETEN GETROFFEN wurde, ABER AUCH UMGEKEHRT DER IRAN VON ISRAELISCHEN RAKETEN – die Dimension hatten wir zuvor so noch nicht“, sagte sie im Interview mit tagesschau24. „Wir befinden uns weiterhin in einer Eskalation und hören keine Töne, wie diese beendet werden könnte.“

Es wird zwar nicht gesagt, Iran habe begonnen, doch die „Massivität“, mit der „Israel von iranischen Raketen getroffen wurde“, wird zuerst genannt und damit mindestens der Eindruck erzielt, dass die Reihenfolge irrelevant sei. Natürlich sollte man sich das Interview ganz durchlesen, bevor man zu voreiligen Schlüssen gelangt oder gar etwas aus dem Kontext reißt. Ebenso sollte man sich den Video-Beitrag ansehen, der länger und ausführlicher ist, etwas mehr Informationen enthält, aber an den Auslassungen und der ursprünglichen Inversion nichts ändert. Die textliche Grundlage dieses Beitrags bildet der schriftliche Text über das Interview, ebenso wie der Vergleichstext schriftlich vorliegt.

Der Tagesschau-Text ist rasch gelesen, denn es genügen zu diesem extrem wichtigen Thema offenbar sieben kurze Absätze, die eher Rätsel aufgeben. Am Ende hört man tatsächlich „keine Töne, wie diese [Eskalation] beendet werden könnte“, die wie ein Blei beladener Schlechtwettereinbruch über Iran und Israel daherkommt (in umgekehrter Reihenfolge), quasi als escalade pour l’escalade: Es eskaliert eben, und jetzt fehlen die Töne. Interessanterweise ist im mündlichen Beitrag über Gesichtswahrung zu hören, worauf noch zurückzukommen sein wird. Doch was erfahren wir nun im Artikel über die Gründe für die Eskalation?

Die Ausschaltung des iranischen Atomprogramms sei ein „politisches Lebensthema“ für Benjamin Netanjahu, auf welches „er da einen starken Fokus darauf hatte“. Gaza, wo gerade alle Lichter ausgehen, wird nur an zwei Stellen nebenbei erwähnt (Gaza, Gazastreifen), und zwar konstatierend, dass es in beiden Fällen (Gaza-Zerstörung; Angriffe auf Iran) keine Exit-Strategie gebe. Bei Iran gebe es bei der „Fokussierung einen realen und ernsten Hintergrund“, nur eben keinen echten Plan. Man könnte hier durchaus herauslesen, der kriegerische Progress sei grundsätzlich gerechtfertigt (realer und ernster Hintergrund), nur halt irgendwie verkorkst.

Was nun hier ganz und gar nicht ausgesagt bzw. hinter einem „politischen Lebensthema“ Benjamin Netanjahus zurücktritt, das den Leser:innen als Grund für die Eskalation präsentiert wird, ist das, was in einem anderen Beispiel aus dem Guardian bzw. in deutscher Übersetzung im Freitag erschienenen Beitrag gleich in der Überschrift und im ersten Absatz durch die Autorin Emma Graham-Harrison völlig kohärent zum Ausdruck gebracht wird. Dies entspricht den Erfahrungen autokratischen Lernens und neopopulistischer Agitation sehr genau, für welche demagogische Sprechakte charakteristisch sind:

Israels Angriffe auf Iran lenken von Hungerkatastrophe in Gaza ab: „Überall liegen Tote“
Kaum explodierten Israels Raketen in Iran, wurden Hilfslieferungen in Gaza eingestellt und der französisch-saudische Palästina-Gipfel verschoben – auf unbestimmte Zeit. Warum Israel den Zeitpunkt der Angriffe genau wählte

Graham-Harrisons Beitrag, der 18 Absätze umfasst, sollte man sich auch unbedingt ganz durchlesen. Die hier präsentierten Motivationen hinter Netanjahus Angriffszeitpunkt sind wesentlich überzeugender und aktueller als der Grund „Lebensthema“ — aber eben auch wesentlich erschreckender und skrupelloser.

Unterstellt man Sprecherin und Interviewer des tagesschau-Beitrags nun nicht gleich absichtliche Wirklichkeitsbeugung — was könnte der Grund für diese Inversion ( = Umkehrung der Chronologie der Angriffe) und eminent wichtige Auslassung ( = der Absicht, von Gaza abzulenken) sein? Wie überzeugend kann der Faktor „Netanjahus politsches Lebensthema“ angesichts der Gleichzeitigkeit der Zerstörung Rest-Gazas sein, wenn hier doch tatsächlich die Frage im Raum steht: Wieso gerade jetzt — bedenkt man die schwierige Lage beider herrschenden Regime (Israel, Iran), wie sie im Artikel Graham-Harrisons faktenbasiert, überprüfbar und überzeugend dargelegt werden?

Ich sehe im Fall des tagesschau-Beitrags zwei pragmalinguistische Motivatoren am Werk, die entweder für Senderin oder sendendes Medium (oder beide) motivierend sein können und in der Pragmalinguistik beschrieben worden sind:

Erstens, der perlokutionäre Akt des doing something by saying something (John Langshaw Austin), also des Erzielens einer bestimmten Wirkung, indem durch Sprechen etwas erwirkt wird. Im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zur Sprechakttheorie3Ich zitiere der Einfachheit halber aus der Wikipedia, genauere Fachliteratur sowie eine ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung findet sich an anderer Stelle. werden folgende, beispielhafte perlokutionäre Effekte des perlokutionären Akts genannt — wobei zwischen letzterem und ersteren die Frage des Gelingens/Misslingens steht:

  • Kränken des Hörers;
  • Verunsichern des Hörers;
  • den Hörer-von-etwas-Abbringen.

Hier wäre indes Ablenkung (der Hörer/Leser) von der Ablenkung (des Netanjahu-Regimes von Gaza) zu unterstellen, wenn man den spezifischen deutschen Kontext bedenkt, in dem diese Sprechaktäußerung stattfindet, sowie die faktenabgewandte Auslassung wesentlich relevanterer Faktoren (als „Lebensthema“). Wie bereits erwähnt, muss Absicht nicht unbedingt einen völlig reflektierten, bewussten Zustand bezeichnen, sondern kann auch intuitiv, ja unbewusst geleitet sein — etwa von verinnerlichten Feldregeln, in diesem Fall des Sagbaren im deutschen Kontext. Besonders Pierre Bourdieus soziologische Leistungen auf dem Feld der Habitusforschung zeigen, dass professionelle Akteure eines bestimmten beruflichen Felds Feldregeln inkorporieren, die zu einer selbstverständlichen Haltung — einem Habitus — werden. So kann in Kenntnis der jeweiligen Feldregeln mit einiger Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Aussage oder Unterlassung erwartet werden.

Der deutsche Kontext bleibt hier völlig implizit, ist aber in der kritischen Auseinandersetzung mit der Staatsräson-Debatte zu finden: Zwar ist ein kritischer Punkt in der Unverbrüchlichkeit der israelisch-deutschen Beziehungen erreicht, doch in Deutschland gilt offene Kritik an Israel nach wie vor als „riskant“ im Sinne der drohenden Marginalisierung von Sprecher:innen. Wie das zu verstehen ist, kann man durch die Reaktionen auf die kritischen Äußerungen des Bundeskanzlers Friedrich Merz und des Außenministers Johann Wadephul nachlesen: Was in anderen europäischen Ländern selbstverständlich ist, gilt in Deutschland als Paukenschlag. Hier kann das Tragen eines Kleidungsstücks mit der schlichten Aufschrift Palestine zu einem Herauswurf aus dem Deutschen Bundestag führen.

Die faktenabgewandte Auslassung relevanter Faktoren ist dabei besonders frappant: Das Netanjahu-Regime braucht dringend plebiszitären Rückhalt im Inneren; es will Schweigen zu Gaza durch immer kritischere Europäer von Außen erwirken. Die Aufmerksamkeit, die auf internationaler Ebene Greta Thunberg oder auf nationaler Ebene der genannte Herauswurf der Abgeordneten Cansın Köktürk durch die Klöcknerin erzeugt hat, sind für das Netanjahu-Regime ein großes mediales Problem. Diese beiden Faktoren einfach wegzulassen und dem angeblichen Lebensthema unterzuordnen ist auf einer Ebene, die faktenbasiert wäre, völlig unverständlich.

Die zweite Erklärung wurde im Prinzip bereits genannt und findet sich ebenfalls im Bereich der Pragmalinguistik und Sprechakttheorie, und zwar im perlokutionären Effekt der Gesichtswahrung, was ausführlich in der linguistischen Fachliteratur über sogenannte Verheckungsstrategien (Hedging) durch sogenannte Heckenausdrücke (Hedges) beschrieben worden ist. Wie ich in einer Hausarbeit im Studium unter dem Titel Hedges und Hedging am Beispiel fachsprachlicher Texte – eine eigenständige Kategorie zwischen Semantik und Pragmatik? erörtert habe, sind Verheckungsstrategien auch in fachsprachlichen, wissenschaftlichen Texten nachweisbar.

Weil Hedges oder Heckenausdrücke als uneigentlich und unwissenschaftlich gelten, macht es das Thema einigermaßen brisant für Wissenschaftler:innen wie der Politikwissenschaftlerin aus dem tagesschau-Beitrag, von denen Eigentlichkeit und Faktenbezogenheit erwartet wird. In bestimmten Fällen ist der Gebrauch von Hecken nachvollziehbar und sogar anzuraten: etwa dann, wenn etwas nicht genau gewusst oder gesagt werden kann. Dies betrifft also vor allem hypothetische Formulierungen. Doch im vorliegenden Fall kann niemand von hypothetischen Spekulationen ausgehen.

The news is out, die Fakten liegen auf dem Tisch.

Das tagesschau-Interview kann deshalb als Studienbeispiel und Lehrstück über Wirklichkeitsbeugung gespeichert werden, ansonsten sollte es aber angesichts der gravierenden Informationsmängel, Kontextlosigkeit und fehlender Aussagekraft besser beiseite gelegt werden.

Referenzen

Beiträge auf Neopopulismus.de und Dunyalook:

Austin, John L. (1962): How to Do Things With Words. Oxford: Oxford University Press.

Bourdieu, Pierre (2013): Politik (Schriften zur Politischen Ökonomie 2). Berlin: Suhrkamp.

Clemen, Gudrun: „Hedging“ als neue Kategorie? Ein Beitrag zur Diskussion von Gabriele Graefen, München. Eine Replik von Gudrun Clemen vom 15.07.2000. URL: http://www.sw2.euv-frankfurt-o.de/Forschung/Hedging/replik.clemen.html (Link inaktiv, zuletzt abgerufen am 10. März 2009).

Clemen, Gudrun: Hecken in deutschen und englischen Texten der
Wirtschaftskommunikation. Eine kontrastive Analyse
(=Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde des Fachbereichs 3 der Universität Gesamthochschule Siegen) September 1998. URL: https://www.ub.uni-siegen.de/pub/diss/fb3/1999/clemen/clemen.pdf (zuletzt abgerufen am 10. März 2009)

Diewald, Gabriele: Hecken und Heckenausdrücke. Versuch einer Neudefinition. In: Emilia Calaresu, Cristina Guardiano, Klaus Hölker (Hg.): Italienisch und Deutsch als Wissenschaftssprachen. Bestandsaufnahmen, Analysen, Perspektiven. Berlin: LIT-Verlag (Romanistische Linguistik 7), 295-315.

Erben, J. (1994): Sprachliche Signale zur Markierung der Unsicherheit oder Unschärfe von Aussagen im Neuhochdeutschen. Berlin: Akademie Verlag. (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse. 134/3).

Graham-Harrison, Emma: Israels Angriffe auf Iran lenken von Hungerkatastrophe in Gaza ab: „Überall liegen Tote“. Der Freitag [The Guardian] vom 15. Juni 2025, URL: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/israels-angriffe-auf-iran-lenken-von-hunger-in-gaza-ab-ueberall-liegen-tote (Paywall; zuletzt vollständig abgerufen am 15. Juni 2025).

Hahn, Walther von: Vagheit in Fachsprachen (=Dokumentation einer Lehrveranstaltung 1999, basierend auf dem Aufsatz desselben Autors: Vagheit bei der Verwendung von Fachsprachen. In: L. Hoffmann/ H. Kalverkämper/H.E.Wiegand: Fachsprachen. Ein Internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. [Handbücher der Sprach- und Kommunikationswissenschaft]. Band 1. Berlin 1998. S.
383 – 390) URL: http://nats-www.informatik.uni-hamburg.de/~vhahn/German/Fachsprache/vHahn/Vagheit/InhaltVAGE.html (Link inaktiv, zuletzt abgerufen am 10. März 2009), Abschnitt 6.1.

Lakoff, George: Hedges: A Study in Meaning Criteria and the Logic of Fuzzy Concepts, Papers from the Eighth Regional Meeting of the Chicago Linguistic Society 1972, 183-228, Reprinted in: Journal of Philosophical Logic. 1973, 2: 4, 458-508.

Markkanen, Raija und Schröder, Hartmut: Hedging: A Challenge for Pragmatics and Discourse Analysis. URL: http://www.sw2.euv-frankfurt-o.de/Publikationen/Hedging/frame/Welcome.html (Link inaktiv, zuletzt abgerufen 2009).

O.A.: Rauswurf wegen „Palestine“-Shirts. Tagesschau vom 24. Juni 2025, URL: https://www.neopopulismus.de/wp-admin/post.php?post=3916&action=edit (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2025).

O.A.: Politikwissenschaftlerin zu Nahost: „Viele Hemmschwellen sind gefallen“. Tagesschau vom 15. Juni 2025, URL: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/nahost-lage-scheller-100.html (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2025).

Searle, John R. (1970): Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge University Press.

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