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Neostory

Wirklichkeitsbeugung: die Ausladung Omri Boehms durch die Gedenkstätte Buchenwald

Der Philosoph Omri Boehm wird heute also nicht zum Gedenken an den 11. April 1945 in Buchenwald sprechen, das damals von US-Truppen befreit wurde. Die israelische Regierung hat die Gedenkstätte Buchenwald mit dem völlig absurden Vorwurf konfrontiert, Boehm „instrumentalisiere den Holocaust“ und beleidige das Gedenken an die Opfer. In den Social Media wenden viele deutsche Stimmen in der ihnen eigenen Anständigkeit und Tugendhaftigkeit nun ein, es sei gewissermaßen „unsensibel“ gewesen, Omri Boehm als Sprecher einzuladen. Dadurch legitimieren sie auf subtile Art und Weise die Diffamierungsstrategie des israelischen Regimes.

Ich habe mir die Mühe gemacht habe, fast alle deutschen Texte von Omri Boehm intensiv zu lesen und teilweise auch schon zu verarbeiten. Gleichzeitig habe ich mich über die letzten Jahre hinweg mit der Wirklichkeitsbeugung des identitären (nennt es „identitätspolitisch“ — dann ist es vielleicht „linker“) deutschen Diskurses beschäftigt, was mir zugegebenermaßen schwerer fiel als am Beispiel anderer, rechtsidentitärer Diskurse, die sich ungeschickter einkleiden und geradeheraus menschenfeindlich sind. Deswegen überrascht mich die Ausladung von Omri Boehm durch eine deutsche Gedenkstätte nicht. Auch die peinlichen Statements, man habe dies „aus Rücksicht auf die Überlebenden“ getan — ohne, dass in einem solchen Statement ein Überlebender spräche, und gleichwohl, als verhöhne Boehm die Opfer — können nicht überraschen.

Wirklichkeitsbeugung — wir kennen es als „Fake News“, Desinformation, False Facts, Alternative Fakten und im Allgemeinen als all das, was zum Beispiel aus dem ungestümen Maul des US-Trash-Präsidenten oder auch von Putin, Erdogan, Orban, Vucic und derer Sorten mehr kommt — ist die zentrale Wahrnehmung von Wirklichkeit, die man mit Walter Lippman wohl am besten als Pseudo-Umwelt oder Pseudo-Wirklichkeit bezeichnen könnte. Immer geschieht dies über Instrumentalisierung von Vergangenheit, und immer sollen sich die Leute dabei „gut fühlen“ — wenn doch schon alles andere, was sie gelernt, erarbeitet und in ihren 1960ern, 1970ern, 1980ern und 1990ern erlebt haben, wegbricht. Man arbeitet gewissermaßen gegen den Horror Vacui an, und erspart sich dabei die lästige Arbeit des Weiterdenkenmüssens. In der Revisionismusforschung nennt man das auch den therapeutischen Zweck revisionistischer Sendung. Dass die Therapie ins Nichts führt, spielt dabei weder für den Therapeuten, noch für die Therapierten eine Rolle. Hauptsache, es fühlt sich gut und richtig an.

Wer Omri Boehm ernsthaft gelesen und sich selbständig denkend mit seinen Ideen auseinandergesetzt hat, wird erkennen, dass er einer der ganz wenigen öffentlichen Denker dieser Zeit ist, die nicht auf irgendwelche Social-Media-Krawallschlachten (it sells!), Egotrips oder bequeme Beschränkungen auf antwortlose Kritik aus ist. Vielleicht ist es etwas pathetisch, aber er geht gewissermaßen den Weg der Propheten, die erst einmal nichts zählen und von der Hohepriesterschaft an den Rand getrieben werden. Dabei ist der Universalismus, wie ihn Boehm vertritt, der sich bestens mit den biblischen Texten, jüdischen Denktraditionen und Kant auskennt, eine echte Antwort auf das Nichts, das die einfach gestrickte Hohepriesterschaft neopopulistischer Sendung zu bieten hat.

Das macht sein Denken natürlich gewissermaßen gefährlich, aber auch überkomplex für Geister, die durch Social Media formatiert sind und lieber einfache Wirklichkeitsbeugungen hören möchten. Wer bis jetzt noch nicht kapiert hat, dass die aktuelle israelische Regierung — die ihr Ziel ganz problemlos über die Lumpenplattform X erreicht hat — zur oben genannten Sorte wirklichkeitsbeugender Neopopulisten gehört, verweigert sich dem Denken an sich. Das bedeutet auch, dass es in deutschen Gedenkstätten wie Buchenwald nicht um die Verteidigung der Menschenrechte geht. Dort geht es damit auch nicht um den Auftrag an deutsche Verantwortung — gründend in Jaspers moralischer und metaphysischer Schuld –, die aus den größten deutschen Verbrechen und Genoziden hervorgeht, dem Holocaust als singulärem und größtem unter ihnen.

Vielleicht kann die Gedenkstätte ja Felix Klein an Boehms Stelle als Sachwahrer deutscher Anständigkeit zu einer Rede über Staatsräson einladen. So könnte auch Claudia Roth einmal wieder ganz entspannt und risikofrei klatschen.

Beitragsbild: Graffiti an einer Wand des KZ nach der Befreiung, davor befindet sich eine gehenkte Hitler-Puppe (April 1945), zit. nach Wikipedia, Attribution: United States Holocaust Memorial Museum, Public domain, via Wikimedia Commons

2 Antworten auf „Wirklichkeitsbeugung: die Ausladung Omri Boehms durch die Gedenkstätte Buchenwald“

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