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Neostory

Staatsräson als Zivilreligion?

Handelt es sich bei der deutschen Staatsräson um ein dogmatisches Beispiel von Zivilreligion? Diese Frage diskutiere ich ausgehend von Daniel Marweckis Buch „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“ in diesem Beitrag.

Die moralische Aufladung der geschichtspolitischen deutschen Staatsräson bewirkt laut Marwecki, dass sich die Rede von derselben dem demokratischen Diskurs entzieht. Nicht ganz zufällig — wurde doch der Begriff der Staatsräson im vordemokratischen Absolutismus geprägt.1 Wie die bereits aufgeführten Beispiele aus dem deutschen Diskurs gezeigt haben – und wie es immer weitere Beispiele fortwährend zeitigen – hat die Staatsräson mitsamt ihres moralisch-ethischen Vokabulars durchaus dogmatischen Charakter. Sie ist nichts, was in Deutschland einfach so der Sphäre der Meinungsbildung überlassen bliebe, jedenfalls nicht ohne gravierende Interventionen durch die Politik und überzeugte Vertreter der Staatsräson. Die gesamte ethisch-moralische Aufladung sowie der „sakrale Ton“ erinnern dadurch an die Sphäre des Religiösen bzw. religiöse Dogmen.

Deshalb wird immer häufiger diskutiert, inwieweit es sich bei den Israel-Bezügen deutscher Staatsräson um eine Art Zivilreligion handle. Der Begriff der Zivilreligion wurde maßgeblich durch den US-amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah in den 1960er Jahren geprägt, als auch in den USA die Religion (d.h. traditionelle Religion) eher auf dem Rückzug zu sein schien.2 Zivilreligion, wie Bellah sie ursprünglich verstanden und beschrieben hat, ist jedoch keineswegs eine rein dogmatische Angelegenheit. Vielmehr stiftet sie Gemeinschaft und übernimmt, besonders in säkularen Gesellschaften, Rollen traditioneller Religionen. Zivilreligion ist also sehr viel komplexer als das, was hinsichtlich der deutsch-israelischen Beziehungen darunter verstanden wird, wo hauptsächlich ein quasi-inquisitorischer Dogmatismus kritisiert wird. Doch betrachten wir noch einmal kurz den Hintergrund, vor dem die Einstufung (bzw. der Vorwurf) entstand, deutsche Geschichtspolitik in Gestalt des Holocaustgedenkens – und damit zusammenhängend das Verhältnis zu Israel – habe quasi-religiösen Charakter.

Im Jahr 2021 befand sich in (und über) Deutschland eine erinnerungspolitische Kontroverse auf ihrem Höhepunkt: Es ging dabei um die Gewaltgeschichte des deutschen Kolonialismus sowie die dazugehörigen Reparations- und Restitutionsdebatten; um die Frage nach der Singularität des Holocausts, die quasi als Ergebnis aus dem sogenannten Historikerstreit der 1980er Jahre hervorgegangen ist; die Boykottbewegung (BDS) gegen Israel und die Diskussion darüber, ob diese antisemitisch oder legitim sei; und schließlich die zumeist von internationalen Stimmen eingebrachte Kritik am zivilreligiösen Charakter deutscher Erinnerungspolitik.3

Ausgangspunkt war unter anderem die Ausladung des kamerunischen Historikers und Sozialwissenschaftlers Achille Mbembe aufgrund dessen vermeintlicher Nähe zur BDS-Bewegung von der Ruhrtriennale 2020, die wegen der Pandemie dann ohnehin abgesagt werden musste. Dies hat international zu großer Kritik an der deutschen Erinnerungspolitik geführt und Fragen zur Meinungsfreiheit in Deutschland aufgeworfen.4 Zuvor jedoch (2019) war bereits der Antrag mit dem Titel „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ im Bundestag beschlossen worden, wenn auch letztlich ohne echte Bindungskraft.5 Im Vorjahr (2018) war zudem das Amt des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung geschaffen worden, wobei der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein eine gewichtige Rolle in der Diffamierung Achille Mbembes spielte – derselbe Felix Klein, der zuletzt im März 2025 in die Schlagzeilen gekommen war, nachdem er sich den Plänen des US-Präsidenten Trump gegenüber aufgeschlossen geäußert hatte, die palästinensische Bevölkerung aus Gaza „auszusiedeln“.6

Der australische Genozidforscher und Herausgeber des Journal of Genocide Research, A. Dirk Moses, hat in einem aufsehenerregenden Beitrag auf der Seite Geschichte der Gegenwart 2021 vom „Katechismus der Deutschen“ gesprochen; Teil der Debatte war auch die Resonanz auf Michael Rothbergs Buch Multidirektionale Erinnerung (genauer gesagt: die deutsche Übersetzung), Jürgen Zimmerers Buch Von Windhuk nach Auschwitz? und andere Beiträge. Laut Moses habe der Katechismus mit seinen Sakrilegien und Tabus längst inquisitorische Züge einer Verfolgung häretischer Ansichten angenommen, was auch Daniel Marwecki in seinem Buch an historischen Beispielen der Erlösungs- und Entlastungsrhetorik deutscher Protagonisten israelisch-deutscher Beziehungen diskutiert. Moses hat die fünf Hauptmerkmale der deutschen Vergangenheitspolitik im Bezug auf den Holocaust und Israel seiner Katechismus-These entsprechend wie Gebote formuliert:

  1. Der Holocaust ist einzigartig und nicht vergleichbar mit anderen Großverbrechen;
  2. Die Erinnerung daran bildet das moralische und politische Fundament der deutschen Nation;
  3. Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für Israel, dessen Sicherheit deutsche Staatsräson ist;
  4. Antisemitismus ist etwas grundsätzlich anderes als Rassismus;
  5. Antizionismus ist gleichzusetzen mit Antisemitismus.7

Doch wie „religiös“ sind diese Gebote wirklich? Nach Marweckis Einschätzung komme man vor allem deswegen nicht umhin, deutsche Erinnerungspolitik auch als einen quasi religiösen Diskurs wahrzunehmen, weil ganz offensichtlich und regulär mit religiösen Begriffen hantiert werde.8 So habe Bundespräsident Weizsäcker einst den sehr christlich klingenden Satz, dass das „Geheimnis der Erlösung“ die Erinnerung sei, geprägt – was die offizielle deutsche Erinnerungslandschaft bis heute mitgestaltet.9 Das deutsche Bekenntnis zu Israel sei demnach verbunden mit einer Erlösungs- und Entlastungshoffnung.10 Ebenso nimmt das Erinnern performative Gestalt an, die nicht nur an religiöse Rituale erinnert, sondern auch an einen Ablasshandel: Aus Schuld wird gegeben, indem Schulden quasi abbezahlt werden. Zentral sei das vergebliche deutsche Bestreben, Entlastung zu erfahren, dem Marwecki ein nicht minder religiöses Kain-und-Abel-Motiv entgegenhält:

Die Umdeutung einer Katastrophe, die keinen Sinn hat, und sich dem menschlichen Verständnis stets zu entziehen droht, ist bedenklich (…). Aus jeder Zeile ruft ein Entlastungsbedürfnis: Der Holocaust ist zwar geschehen, aber dafür wurde Israel gegründet. Deutschland hat zwar Schuld auf sich geladen, aber es hat sich mit Israel versöhnt. Ganz so, als hätten sich zwei gestritten, und nicht, als hätte Einer den Anderen erschlagen.11

Die von deutschen Spitzenpolitikern oft gewählte, von religiösem Vokabular durchwirkte Sprache macht Marwecki als ein Hauptfeld der Mythenbildung aus, das er schließlich angetreten ist, zu dekonstruieren:

Die Rede von Versöhnung (sic!), von Wundern, auch von der Freundschaft, die Insinuierung der Vergebung: sprachliche Fehltritte, die deutschen Identifikations- und Entlastungsbedürfnissen geschuldet sind.12

Bei weiterer Betrachtung ließen sich zivilgesellschaftliche Aspekte mit zivilreligiösen Attributen wie dem Konzept der Sühne in die Betrachtung einbeziehen, etwa Freiwilligendienste wie bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste oder Fahrten zu Gedenkstätten. Dies ist aber nicht (oder nur ganz am Rande) Gegenstand von Marweckis Arbeit.

Einen Aspekt vertieft Marwecki weiter, der über das religiöse Ritual eng verwandt mit Bellahs Konzept der Zivilreligion ist: den Bau von Holocaust-Gedenkstätten als Erinnerungsorten.13 Der auch in der deutschsprachigen Historiographie gebräuchliche, französische lieu de mémoire – Erinnerungsort oder Gedächtnisort – ist ein interessanter Begriff, den hauptsächlich Pierre Nora geprägt hat (den Marwecki jedoch nicht verwendet – außer, ich sollte es überlesen haben): seine lebensweltliche Entsprechung kann, muss aber keine physische oder architektonische Entsprechung annehmen. Nicht-materialisierte Erinnerungsorte wären im deutschen Diskurs etwa die Fresswelle oder das Wirtschaftswunder. Andere lieux de mémoire wie die Deutsche Autobahn existieren zwar als konkretes Bauwerk, sind aber in ihrer physischen Gestalt so profan und allgemein, dass sie eher in ihrer Übertragung als Gedächtnisorte gelten können. Zu den zweifellos physischen Gedächtnisorten zählen der Kyffhäuser mit der Barabarossasage, das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald oder das Völkerschlachtsdenkmal in Leipzig14

Der Holocaust ist zweifellos ebenso ein Gedächtnisort – und mit Sicherheit einer der wichtigsten. Der bekannteste, architektonisch realisierte Erinnerungsort im heutigen Deutschland dazu ist das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin. Laut Gerhard Schröder, während der Planungen des Denkmals gerade Bundeskanzler, sollte das Mahnmal ein Ort sein, „zu dem man gerne geht“, wie Marwecki erinnert.15 Der Historiker Eberhard Jäckel, einer der Mit-Initiatoren des Denkmals, befand sogar, das Denkmal erlaube es den Deutschen, wieder „aufrecht zu gehen“ – aber auch, dass andere Länder Deutschland um dieses Denkmal beneiden würden.16 Man könne das Denkmal, wie Marwecki es deutet, auch als „Umdeutung des schlimmsten Teils deutscher Geschichte in eine Ressource für die Zukunft der Nation“ interpretieren.17 Was sich hier andeutet, so der Autor, sei „nicht zuletzt ein nationaler Stolz darüber, wie gut die vergangene Barbarei doch verarbeitet worden sei“.18 Dadurch gewinnt die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in Gestalt des Holocaust-Mahnmals auch eine identitätsstiftende Funktion eines sogenannten Mnemotops.19

Doch mit dem Beispiel der Interventionen seitens politischer Eliten auf dem Feld der Erinnerungspolitik tritt auch eine weitere Problematik in den Vordergrund: Staatlich orchestrierte Erinnerung an den Holocaust mag in Deutschland notwendig oder zumindest selbsterklärend sein – doch unpolitisch und unproblematisch ist sie nie. So hatte der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer die NATO-Intervention im Kosovo (1999) zuvor damit begründet, dass sie nicht trotz, sondern wegen Auschwitz stattfinden müsse.20 Man mag zur Berechtigung der NATO-Intervention in Restjugoslawien bis heute unterschiedlicher Meinung sein, doch wichtig im Lichte der gegenwärtigen Entwicklung ist, dass sich Deutschland mit dem expliziten Bezug auf Auschwitz damit eine Verantwortung nicht einfach zu militärischer Enthaltsamkeit oder Aktion aufgetragen hat – sondern, konsequent gedacht, auch zur Bekämpfung von Faschismus und Genozid über seine eigenen Landesgrenzen hinaus.21 Problematisch ist dabei insbesondere, dass die Vergangenheit völlig variabel für politische Zwecke eingespannt werden kann.22 Denn was heißt es, wenn Auschwitz einmal zur Legitimierung eines Auslandseinsatzes argumentativ eingespannt wird – obwohl der Holocaust ansonsten als singulär und nicht vergleichbar gilt – ein anderes Mal aber nicht? Vor solchen und ähnlichen Gefahren hatte das französische Historikerkollektiv rund um Pierre Nora bereits 2005 in der Petition Liberté pour l’histoire gewarnt.23

(Kurzer Exkurs: Insbesondere an dieser Stelle schulde ich meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem postjugoslawischen Raum noch einen längeren Diskussionsbeitrag, da wir zusammen das Projekt Histoire pour la liberté bestritten haben, dessen Titel eine Umkehrung zum französischen Kollektiv war)

Auf diese und weitere, unbequeme Fragen fällt der öffentliche Diskurs in Deutschland mit zunehmender geschichtlicher Ferne zum Holocaust trotz des beeindruckend großen Holocaust-Mahnmals im Zentrum der deutschen Hauptstadt, das Aufarbeitung und Läuterung signalisieren soll, immer wieder zurück. Besondere Brisanz nimmt die Auseinandersetzung an, wenn es dabei nicht um den Holocaust an sich geht, sondern um israelische Politik, die immer brutaler gegen die Palästinenser, aber auch gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Israel vorgeht. Die Bedeutung eines noch so großen Denkmals solle man nach Marwecki aber ohnehin nicht überschätzen:

Letzten Endes steht das größte Mahnmal für das singuläre deutsche Verbrechen nicht in Berlin, und es spiegelt sich auch nicht in der deutschen Israelpolitik, sondern es muss unsichtbar bleiben. Es ist die untergegangene jüdische Welt in Europa – vor allem in Osteuropa –, die Deutschland in den Jahren seiner Barbarei unwiederbringlich vernichtete. Das macht das deutsche Bekenntnis zu Israel so schal.24

Schal wirkt jedoch auch das deutsche Bekenntnis zu Israel angesichts der Verbrechen in Gaza und im Westjordanland, denen politische Eliten Deutschlands parteiübergreifend meistens Schweigen oder allenfalls zaghafte Mahnungen in Richtung Israel entgegenbringen. Um die wirklich wichtige Frage, warum die Palästinenser in Deutschland so kurz kommen, soll es im nächsten Beitrag gehen.

Fußnoten

1 Marwecki, Daniel (2024): Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 143.

2 Vgl. Bellah, Robert N.: Civil Religion in America. Reprinted by permission of Dædalus, Journal of the American Academy of Arts and Sciences, from the issue entitled, „Religion in America,“ Winter 1967, Vol. 96, No. 1, pp. 1-21.

3 Marwecki (2024): Absolution?, S. 180.

4 Marwecki (2024): Absolution?, S. 181.

5 Der Beschluss wurde fraktionenübergreifend durch CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gefasst.

6 Marwecki (2024): Absolution?, S. 181.

7 Marwecki (2024): Absolution?, S. 182.

8 Marwecki (2024): Absolution?, S. 144.

9 Marwecki (2024): Absolution?, S. 183.

10 Marwecki (2024): Absolution?, S. 144.

11 Marwecki (2024): Absolution?, S. 188.

12 Marwecki (2024): Absolution?, S. 189.

13 Vgl. Siebeck, C. (2010). Denkmale und Gedenkstätten, in: Gudehus, C., Eichenberg, A., Welzer, H. (eds) Gedächtnis und Erinnerung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00344-7_20

14 Genauer bei Münkler, Herfried (2009): Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt Verlag.

15 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150.

16 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150; Er zitiert hier Thünemann 2013.

17 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150.

18 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150.

19 „Als Mnemotope bezeichnet man Landschaften oder Stadträume, die entweder als ganze oder hinsichtlich einzelner Bestandteile den identitätsstiftenden Vergangenheitsbezug einer Gruppe oder Kultur sichtbar machen bzw. zu etablieren und aufrechtzuerhalten helfen. Mnemotope verdeutlichen damit, dass auch ein auf Zeitverhältnisse bezogenes Konzept wie die Erinnerung fester Bestandteil einer literaturwissenschaftlichen Raumforschung ist. Dieser Raumbezug des Gedächtnisses gilt dabei gleichermaßen für autobiographische Erinnerungen wie für die seit den 1990er Jahren intensiv vorangetriebene Erforschung eines sozialen oder kulturellen Gedächtnisses.“, zit. aus Pethes, Nicolas. „17. Mnemotop“. Handbuch Literatur & Raum, edited by Jörg Dünne and Andreas Mahler, Berlin, München, Boston: De Gruyter, 2015, pp. 196-204. https://doi.org/10.1515/9783110301403-018

20 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150.

21 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150.

22 Marwecki (2024): Absolution?, S. 150.

23 Nora, Pierre et al.: Liberté pour l’histoire (Manifest), in: Libération vom 13. 12. 2005, URL: https://www.liberation.fr/societe/2005/12/13/liberte-pour-l-histoire_541669/ (zuletzt abgerufen am 19. 02. 2025).

24 Marwecki (2024): Absolution?, S. 198.

Bildquelle (Cover): Alexander Blum, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

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