Schon seit einiger Zeit liegen auf meinem Tisch mehrere Bücher und Aufsätze über das Themenfeld Identitätspolitik / Identitarismus, „Wokeness“, Universalismus, Kränkung, Ressentiment und Trauma. Kein leicht zu verdauender Gedankenstoff — aber unausweichlich und entsprechend behutsam und ad argumentum zu behandeln. Deshalb also dieser Essay. Mich interessiert im Zusammenhang dieses Forschungsprojekts über Neopopulismus, Revisionismus und die Meta-Katastrophe des Klimawandels in erster Linie die problematische Komplizenschaft zwischen dem, was oft immer noch als „links“ und „progressiv“ bezeichnet wird, und jenem, was allgemeinhin als „rechts“ und „konservativ“ gilt.
Identity is in the doghouse. Wie die Anführungszeichen schon andeuten, halte ich es mit Susan Neiman (Neiman 2023): Es ist zunehmend schwierig bis schlichtweg falsch, Vertreter aus dem ersten Feld, die häufig auch unter dem Begriff Wokeness firmieren (vgl. Balzer 2024), trotz ihres deklarativ progressiven, emanzipatorischen und identitätspolitischen Anspruchs überhaupt als links zu verstehen. Ebenso wenig — wenn auch diese Sicht überraschender wirken mag — sind identitäre, demagogische Akteure vom Schlage eines Donald Trump als konservativ oder rechts in einem klassischen Sinn einzuschätzen. Warum das so ist — das soll und kann hier nicht in einer griffigen Formel gleich zu Beginn ein für alle Mal geklärt werden. Vielmehr wird die schrittweise Annäherung hoffentlich zeigen können, dass eine Vielzahl einzelner Argumente gegen die alte Links/Rechts-Binarität ebenso sprechen wie eine einzige, geteilte, identische Logik — nämlich jene der Identität.
Wie Omri Boehm in seiner Wiener Rede an der Gegenüberstellung des selbsterklärt postkolonialen Camps einerseits und der offiziellen deutschen Staatsraison andererseits vor der Projektionsfläche des Palästina-Israel-Konflikts überzeugend argumentiert hat, sind sich beide Seiten — obwohl sie sich als Gegenpole verstehen — einander unglaublich ähnlich. Dies liegt in erster Linie an ihrer essentialistischen Argumentation rund um den Dreh- und Angelpunkt ihrer Zurückweisung des universalistischen Prinzips, welches allein die Unantastbarbeit der Menschenwürde absichern kann. Ablehnung und Zurückweisung ist das Eine. Das Andere ist das Verbindende: das Bindeglied von Identität und Identitätspolitik, über das nicht nur erklärte Postkolonialisten und vorgebliche Israel-Freunde, sondern in einem viel weiteren Sinne auch das vermeintlich linke und das rechte Lager viel stärker miteinander verbunden sind, als es ihre Vertreter selbst wahrhaben möchten oder zugeben könnten (vgl. Boehm 2024).
Einen weiteren Begriff, den ich hier problematisieren möchte, ist das Progressive. Vertreter beider Seiten sind gewiss progressiv — nur sind sie das eben in einem eher wörtlichen Sinn: Sie schreiten voran, wobei sie in ihrem Voranschreiten das Argument der Identität wie eine alles andere verschattende Monstranz vor sich hertragen. Ganz besonders interessiert mich an dieser progressiven Dynamik, wie es populistischen und demagogischen Akteuren und Regimen auf verbundene Art und Weise immer wieder gelingt,
- das affektive und emotionale Mobilisierungspotenzial zwischen Identität und Kränkung gezielt und erfolgreich zu nutzen, um Gesellschaften zu spalten und zu verhetzen;
- sich Begriffe anzueignen, sie porentief zu verwässern und gewissermaßen beliebig und austauschbar zu machen;
- alte Errungenschaften der Aufklärung und des demokratischen Prozesses für nichtig zu erklären;
- sich darüber selbst Zustimmung und sogar ungemeinen, meinungskapitalistischen Profit zu verschaffen.
Wie sie das schaffen — also auf einer kommunikationstechnologischen und unternehmerischen Ebene — ist relativ klar. Dieses „Wie“ ist unter anderem von Constanze Kurz (2018; 2018b) vom Chaos Computer Club, von Jaron Lanier (2020; 2018) mit seinen Insider-Kenntnissen des Silicon Valleys in seiner ihm eigenen, deftigen Sprache, oder auch über die grundlegende Transformation des Kapitalismus hin zum Plattformkapitalismus (Srnicek 2018) sowie über viele weitere Studien und Analysen längst untersucht und beschrieben worden (dazu mehr unter NEOVOX). Dass diese Erkenntnisse womöglich nie effektiv in den demokratischen, politischen Betrieb vorgedrungen sind, wie man an der fortschreitenden Verlumpung der Meinungsplattform Twitter/X und der Allianz zwischen Elon Musk und Donald Trump besonders deutlich sehen kann, ist eine Frage, die in den Beiträgen der Kategorie NEOVOX erörtert wird.1Ich habe hier zwar das besonders plakative und besorgniserregende Beispiel aus den USA genannt; besonders stark betrifft dies aber auch Deutschland, das hinsichtlich digitaler Mündigkeit weit zurückgebliebene ist — etwa verglichen mit Ländern wie Taiwan oder Estland. Das „Wie“ in diesem Beitrag nimmt eher die begriffliche, ideengeschichtliche, aber auch sozialpsychologische Dimension in den Fokus.
Eine binäre Figuration von Akteuren
Unter Akteurinnen und Akteuren, darunter Vertreter politischer Regime ebenso wie sogenannte Influencer und Slacktivisten im öffentlichen Meinungsraum, die über ihre identitären Monstranzen das gesellschaftliche Miteinander verschatten und die Demokratie insgesamt bedrohen, verstehe ich augenscheinlich völlig unterschiedliche Personen. Man kann sie vielleicht zuerst als stereotypische Figuren zeichnen, die sich am Ende in zentralen Fragen trotz ihrer behaupteten Gegenpoligkeit stark ähneln.
Stellen wir uns einerseits eine angeblich linke Influencerin vor, die auf Plattformen wie Twitter/X bekannt geworden ist. Geben wir ihr, ganz plakativ und einem Klischee entsprechend, dreifarbiges Haar sowie eine Tagline unter ihrem Twitter/X-Profil, das links-progressive Hashtags enthält, mit denen sie ihre Jüngerschaft ködert, verhetzt und ihr vielleicht sogar über die Aufforderung zu Paypal-Überweisungen immer wieder „neuen Content“ verspricht. Dieser Content besteht aus minimalen, selektiv zurechtgestutzten Fakten und kurzen Botschaften, die zur Produktion von Shitstorms, zu höchster Empörung und ad-hominem-Angriffen taugen. Diese Figur könnte das angeblich linke, woke Milieu vertreten — nicht zuletzt, weil sie in ihrer Tagline behauptet, für feministische, womöglich gar queere Werte zu „kämpfen“.
Stellen wir uns andererseits einen männerischen, patriarchalen, stets grollenden Alpha vor. Er unterstützt öffentlich und durch Wahlkampfagitation den autokratischen Umbau von Gesellschaft unter starker (männlicher) Hand, bekämpft sexuelle Freiheit und Diversität, befürwortet die Abschaffung der Gleichberechtigung aller Geschlechter und erklärt den islamistischen Terrorismus einer Formation wie der Hamas nach den Verbrechen des 7. Oktober 2023 zum Befreiungskampf. Letzteres erscheint uns bei dieser zweiten Figur vielleicht nicht allzu unplausibel, weil es gewissermaßen ins Weltbild passt — im Gegensatz zur ersten, angeblich „woken“ Figur. Beide Figuren könnten also auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein.
Und jetzt kann sich wahrscheinlich jeder sofort von selbst vorstellen, welche Figuration als nächstes kommt: Obwohl es bei den sehr realen Massakern und Entführungen der Hamas zu Vergewaltigungen und unsäglicher Gewalt gegen Frauen, Kinder, Männer jeden Alters gekommen ist, was Begriffen wie „Freiheit“ und „Feminismus“ diametral widerspricht, einigen sich beide Figuren dennoch ohne größere Auseinandersetzungen darauf, die Hamas zu einer anti-kolonialen Befreiungsorganisation zu erklären. Vielleicht treffen sie sich in den darauffolgenden Wochen und Monaten sogar immer mal wieder auf Demonstrationen — irgendwo in Berlin oder New York — und sind sich einig, dadurch die Welt der De-Kolonialisierung und Gerechtigkeit näher zu bringen.
Faszinierend an diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen Komplizenschaften ist, wie ihre angeblich einander entgegengesetzten Vertreter es schaffen, die Öffentlichkeit — und ich vermute: auch sich selbst — glauben zu lassen, sie stünden mit ihrem verwässerten Begriffsrepertoire für unterschiedliche Weltbilder und Werte, während sie Gesellschaften in extreme Binaritäten und gegeneinander abgeschottete Identitäten treiben und damit am Ende grundsätzlich dasselbe bewirken. Dass diese gemeinsame Wirkung ihrer Komplizenschaft sehr viel mehr als bloße Spekulation, sondern mittlerweile empirische Gewissheit geworden ist, zeigen die Wahlverläufe in eigentlich jedem demokratisch verfassten Staat zwischen Pazifik und Atlantik, in der nördlichen wie in der südlichen Erdhälfte.
Resentment Entrepreneurs? Kränkungsprofiteure?
Dabei würde ich momentan nicht so weit gehen zu behaupten, dass beide Fraktionen, die sich durch die Verwendung der identitären Monstranz als Pseudo-Argument auszeichnen, bereits vollkommen gleichzusetzen sind — denn sie pflegen ja durchaus Feindschaft. Vielleicht will ich mich auch nur an einer Unterscheidung festklammern, weil darin die Hoffnung steckt (wie übrigens auch in Balzers Essay After Woke von Balzer), wenigstens die eine, „linke“ Seite könnte bald wieder zu Vernunft und universalem Humanismus zurückkehren. Dennoch neigen sie einander zu — nur wie genau, abgesehen vom Bindeglied Identität? Auch die aus anderen Dynamiken geläufige Metapher des Hufeisens und der Hufeisentheorie, wonach die Extrempole des (binären) politischen Spektrums einander zuneigen, erscheint mir problematisch — und ehrlich gesagt auch überlebt.
Ich bin natürlich weder der Einzige noch der Erste, der sich mit dieser Problematik auseinandersetzt, die einer immer größeren Öffentlichkeit allmählich bewusst wird — nicht zuletzt durch die diskursiven Verwerfungen nach dem 7. Oktober 2023, die auch für Jens Balzers Essay After Woke ausschlaggebend waren. Inzwischen ist es weniger riskant geworden — riskant in dem Sinn, Gefahr zu laufen, sich zum Beispiel beruflich zu marginalisieren — vermeintlich „linke“, liberale, progressive Identitätspolitik zu dekonstruieren und als das beschreiben zu wollen, was Identitätspolitik im Kern immer ist, nämlich ein essentialistisches Irrlichtern. Rechte Identitätspolitik, etwa der identitären Bewegung, der AfD, der Trumpisten etc., war aufgrund ihrer offensichtlichen gruppenbezogenenen Menschenfeindlichkeiten dagegen nie schwer zu kritisieren. Trotzdem ist diese Auseinandersetzung nach wie vor schwierig — besonders wegen der sogenannten „woken“ Bewegung und der seit einigen Jahren ungemein erfolgreichen, angeblich „linken“ Identitätspolitik, die im politischen Spektrum Deutschlands gerade ihre Klimax erreicht zu haben scheint.
Aber wie ließe sich dann das einander Zuneigen, wie in der Figuration oben skizziert, genauer fassen? Vielleicht könnte man diese Akteure, so unterschiedlich sie auch sind, als resentment entrepreneurs oder Kränkungsprofiteure bezeichnen, denn darin scheint mir ihre zentralste Gemeinsamkeit zu bestehen: in der profitablen und durchaus rücksichtslosen Mobilisierung von Identität, Ressentiment und Verachtung für „Andere“. Aber das ist nur ein vorsichtiger, womöglich voreiliger, vielleicht auch noch viel besser zu besetzender Begriffsvorschlag.
Literatur zu Identität vs. Universalismus
Wo setzt man also an? In diesem Beitrag werde ich mich besonders auf Jens Balzers kurzen Essay After Woke (90 Seiten Fließtext) beziehen, dabei aber andere Auseinandersetzungen und Schriften zu diesem Themenfeld einbeziehen.2Balzer, Jens (2024): After Woke. Berlin: Matthes & Seitz. Die Auseinandersetzung hier ist also sowohl essayistisch als auch im Stil eines Response Papers gehalten — und beim Schreiben stelle ich fest, dass ich an Balzers Essay immer mehr zu kritisieren habe, was aber alles andere als einen Verriss bedeutet. Vielmehr bin ich dem Autor dankbar, dass er sich entschlossen hat, diesen Essay überhaupt zu schreiben und zu veröffentlichen und damit auch einen willkommenen Anknüpfungspunkt geliefert zu haben. Die meisten der folgenden weiteren Schriften, die für diesen Zusammenhang wichtig sind (und sehr viel umfangreicher als Balzers Essay), habe ich inzwischen ausgelesen oder bin gerade dabei und will im nächsten Schritt einige wichtige Referenzen und ihre zentralen Positionen aufführen.
(Weiter im nächsten Teil)
Referenzen
Balzer, Jens (2024): After Woke. Berlin: Matthes & Seitz.
Boehm, Omri (2024): Die Realität der Ideale. Berlin: Propyläen.
- München. Ethischer Monotheismus heute, S. 17-37.
- Leipzig. Freundschaft als Schema der Menschenwürde, S. 39-59.
- Wien. Europa und seine Opfer. Jenseits des Mythos der nationalen souveränität, S. 61-99.
Boehm, Omri (2024 [2023]): Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität. Berlin: Ullstein.
Boehm, Omri (2023 [2020]): Israel — Eine Utopie. Berlin: Propyläen.
Fleury, Cynthia (2023 [2020]): Hier liegt Bitterkeit begraben: Über Ressentiments und ihre Heilung. Berlin: Suhrkamp.
Haller, Reinhard (2015): Die Macht der Kränkung. Wals bei Salzburg: Ecowin Verlag.
Heller, Lydia: Das gekränkte Ich. DLF Kultur (Zeitfragen), Beitrag vom 27.02.2020, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/psychologie-das-gekraenkte-ich.976.de.html?dram:article_id=471191 (zuletzt abgerufen am 22.1.2023).
Kurz, Constanze: Wie Soziale Medien uns manipulieren (Teil der Veranstaltungsreihe „Wahrheit, Populismus, Internet — FAKE NEWS und Macht im digitalen Zeitalter), in: Dlf Nova vom 5.12.2018, URL: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/h%C3%B6rsaal-wie-soziale-medien-uns-manipulieren (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
Kurz, Constanze: Desinformation mit technischen Mitteln, Vortrag von Dr. Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Club [CCC], 4.12.2018, URL: https://www.ub.uni-koeln.de/events/2018/fakenews/index_ger.html (zuletzt abgerufen am 7.10.2022).
Lanier, Jaron (2018). Ten arguments for deleting your social media accounts right now. New York: Henry Holt and Company.
Lanier, Jaron (2020). Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Maalouf, Amin (2000). Mörderische Identitäten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Maalouf, Amin (1998). Les identités meurtrières. Paris: Éditions Grasset and Fasquelle.
Mounk, Yascha (2024 [2023]): Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Identität. Stuttgart: Klett-Cotta.
Neiman, Susan (2023): Links ≠ woke. Berlin: Hanser.
Roldán Mendívil, Eleonora / Sarbo, Bafta (2023) (Hg.): die Diversität der Ausbeutung: Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Berlin: Dietz.