Vorbemerkung: Ich füge an dieser Stelle der besseren Lesbarkeit wegen alle Beiträge des hauptsächlich 2020 entstandenen Heine-Projekts an dieser Stelle ein, zunächst ohne größere Veränderungen. Im Laufe der Zeit werde ich Veränderungen am Gesamttext vornehmen.
Doch wie kann man das im Text [Zur Disputation] formulierte, auf den ersten Blick vielleicht etwas ambitioniert erscheinen wollende Postulat, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten, einlösen? Wie kann man sich die Fragmentierung von Geschichte, wie etwa von Walter Benjamin vorgeschlagen, am konkreten Beispiel vorstellen?1 Ich will dies im Folgenden anhand der zweiten von mir verteidigten These veranschaulichen. Dort habe ich argumentiert, dass Heine eine Außenseiterfigur des deutschen Literaturbetriebs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, was über die Fragmentierung der von ihm verwendeten Waldmetaphern (und weiterer Vegetationsmetaphern) ermittelt werden kann. Die Art, wie er diese Metaphern verwendet, und welche teils offenen, teils subtilen Botschaften sie transportieren, unterscheiden Heine stark von anderen Schriftstellern und Künstlern seiner Zeit — und zwar ganz besonders von den Romantikern. Ob Maler, ob Dichter, die deutschen Romantiker machten zwar ebenfalls Gebrauch von Wald- und Naturmetaphern; sie taten dies jedoch in einem anderen Sinn als Heinrich Heine.2
In diesem Argument steckt aber zugleich eine weitere, gewissermaßen verdeckte These: nämlich die, dass über die Analyse metaphorischer Sprache Aussagen über eine historische Wirklichkeit getroffen werden können, welche im geschichtlichen Dunkel des selbst nie mehr nacherleben Könnens liegt. Gerade unter Historikerinnen — und in dieser Disziplin habe ich schließlich verteidigt — mag eine solche These natürlich erst einmal Stirnrunzeln hervorrufen. Dies umso mehr, als Heines Texte nicht in die Kategorie historiographischer Texte fallen — was jedoch wiederum nicht bedeutet, dass sie keine historischen Zeitzeugen wären. Außerdem, wie noch genauer zu sehen sein wird, ist die hier gewählte Textquelle kein fiktiver Text.
Deshalb sind für diese Herangehensweise im zweiten Teil meiner Ausführungen (2)Zur Metaphernanalyse) weitere Erläuterungen zum Thema Metaphern- bzw. Tropenanalyse nützlich: was kann über die Methode der Metaphernanalyse ermittelt werden? Welche Texte eignen sich dafür, und inwiefern hat diese Methode überhaupt außerhalb der Literaturwissenschaft — hier in der Geschichtswissenschaft — ihre Berechtigung? Und was ist unter Vegetationsmetaphern zu verstehen (3) Vegetationsmetaphern)? Im vierten Teil (4) Biographisches) müssen einige Schlaglichter auf die wichtigsten und in der Sekundärliteratur ausführlicher als hier beschriebenen, biographischen Informationen zu Heinrich Heine und zur Ereignisgeschichte seiner Zeit geworfen werden, wodurch auch verständlicher wird, weshalb Heine oft polemisch und satirisch schrieb (5) Heine, der Polemiker und Satiriker): ohne diese Informationen können die besonders in den anschließenden zwei Kapiteln (6) Religion und Mittelalter sowie 7) Zwischen Frankreich und Deutschland) präsentierten Metaphern nämlich nicht sinnvoll verstanden werden.
Durch diese Triangulierung unterschiedlicher Quellen wäre bereits eine offensichtliche Brücke in andere Teilfelder der Geschichtswissenschaft geschlagen. Ich entnehme die beschriebenen Metaphern hauptsächlich dem in Paris geschriebenen Text Die Romantische Schule, obwohl Heine freilich auch in anderen, zum Beispiel lyrischen Texten wie der Waldeinsamkeit seines Zyklus Romanzero Vegetationsmetaphern verwendet hat.3 Da es sich aber bei der Romantischen Schule um einen — wenn auch polemisch-satirischen — Prosatext handelt, der sich durchweg auf nicht-fiktive historische Personen, Ereignisse und die Romantik bezieht, bietet sich dieser Text ganz besonders an: er ist zwar kein historiographischer Text, aber als prosaische Literaturkritik eine historische Quelle, in der reale historische Personen und ihre Werke kritisiert werden: darunter Goethe und Schiller, Friedrich und August Schlegel, Ludwig Tieck, Novalis, Schelling, Achim von Arnim und Ludwig Uhland (u.v.a.m.).4
Bei der Romantischen Schule aus dem Jahr 1835 handelt es sich um eine überarbeitete Version ursprünglich auf Französisch erschiener Texte, welche der Autor unter dem Titel Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland bereits in Deutschland hatte veröffentlichen wollen. Darin tauchen immer wieder drei große Themen Heinrich Heines auf, die er von seiner Außenseiterposition aus betrachtet: erstens, sein oft polemisch-satirisch formuliertes Verhältnis zu den deutschen Romantikern und deren permanenter Rückgriff auf das Mittelalter (Kapitel 5). Das Thema Mittelalter hängt zweitens eng mit dem Thema der Religion zusammen: in diesem Zusammenhang übt Heine Kritik an der Rückbesinnung der Romantiker auf ein mittelalterlich und katholisch eingefärbtes Religionsverständnis (Kapitel 6). Drittens schließlich schreibt Heine die Romantische Schule in Frankreich, und zwar gerichtet an sowohl Franzosen als auch Deutsche, weshalb seinr Rolle als Kulturmittler gesondert Beachtung finden muss (Kapitel 7).
Ganz zum Schluss will ich noch einmal Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen, in welcher Weise die bei Heine fragmentierten Tropen und Themen wie Wald, deutscher Wald, aber auch korrelierende Themen wie Heimat und Zugehörigkeit aus heutiger Sicht in aktuellen Debatten von Nutzen sein können, und an welcher Stelle andererseits Vorsicht und Achtsamkeit geboten ist, scheinbar identische Tropen (Wald, Heimat etc.) durch ihre je spezifischen, historischen Kontexte nicht vorschnell in ein und dieselbe Sinnschublade zu stecken. Dieser letzte Teil ist jedoch eher als ein offenes Ende geschrieben, an dem weiter gedacht werden kann: über die generelle Nützlichkeit der Metaphernanalyse, sowie über die Kontextgebundenheit aller Verstehens- und Übersetzungsprozesse metaphorischer Sprache.5
2) Zur Metaphernanalyse
Die Metapher als Über-Tragung, nämlich als das meta-phorein von der eigentlichen Ebene der Wirklichkeit auf die uneigentliche Ebene der abstrakten Sprache — im Lateinischen entspricht ihr das trans-ferre der trans-latio, im Deutschen das Über-tragen der Übersetzung — gilt insgesamt als Ausdruck des Uneigentlichen, Unpräzisen und Unsachlichen. In einem positivistischen Sinn steht die Verwendung von Metaphern deswegen der Vorstellung von Faktizität entgegen. Da Metaphern zudem häufig als Stereotypen auftreten6, gelten sie in einem verbreiteten Verständnis davon, was Fakten zu sein haben (und was sie nicht sein können oder dürfen) nicht als empirische Einheiten. Dies ist natürlich gerade in Zeiten, da sogenannte alternative facts und Desinformation eine immer breitenwirksamere Rolle in der Konstruktion von Wirklichkeit und sogenannter Pseudo-Umwelten spielen, ein berechtigter Einwand.7
Dennoch kommt Metaphern eine nicht zu leugnende Funktion in jedem Bereich von Sprache zu. Die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson betonen in ihrem Werk Metaphors We Live By (Dt.: Leben in Metaphern)8 die schiere Bedeutung von Metaphern und anderer Tropen folgendermaßen:
Die Metapher ist für die meisten Menschen ein Mittel der poetischen Imagination und der rhetorischen Geste – also dem Bereich der außergewöhnlichen und nicht der gewöhnlichen Sprache zuzuordnen. Überdies ist es typisch, dass die Metapher für ein rein sprachliches Phänomen gehalten wird – also eine Frage der Worte und nicht des Denkens oder Handelns ist. Aus diesem Grunde glauben die meisten Menschen, sehr gut ohne Metaphern auskommen zu können. Wir haben dagegen festgestellt, dass die Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch. […] Unsere Konzepte strukturieren das, was wir wahrnehmen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie wir uns auf andere Menschen beziehen. Folglich spielt unser Konzeptsystem bei der Definition unserer Alltagsrealitäten eine zentrale Rolle. Wenn, wie wir annehmen, unser Konzeptsystem zum größten Teil metaphorisch angelegt ist, dann ist unsere Art zu denken, unser Erleben und unser Alltagshandeln weitgehend eine Sache der Metapher.9
Wenn unser Leben in Metaphern jedoch bedeutet, wie von Lakoff und Johnson betont, dass sich in Metaphern unser Konzeptsystem, unser Denken und Handeln wiederspiegeln, dann stellen Metaphern in ihrem jeweiligen Kontext eine äußerst wichtige Quelle des Verstehens eines Autors (hier Heinrich Heines), seiner Umwelt und seiner Zeit dar.
Das Rück-Setzen von Metaphern — das Übersetzen und Verstehen — ist alles andere als unkompliziert, und zwar wegen der Kontextgebundenheit der Entstehung und Verwendung der jeweiligen Metapher: es gibt keineswegs eine feste, bestimmte Art und Weise, wie Vegetationsmetaphern wie „deutsches Veilchen“ oder „hundertjährige Eiche“ verstanden werden können. Was also ist Verstehen? Ronald Hitzler definiert Verstehen als „jenen Vorgang […], der einer Erfahrung Sinn verleiht.“10 — wobei dieser Sinn immer ein subjektiver Sinn ist. Das heißt: eine Kommunikantin, die ein einem gegenwärtigen, deutschen Kontext versteht und Sinn herstellt, versteht notwendigerweise anders, als eine Leserin Heines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kruse/Biesel/Schmieder stellen zu diesem Problem fest:
Hierbei muss aber betont werden, dass dieser ‚subjektiv gemeinte Sinn‘ nie rein idiosynkratischer Art ist, da jeder Mensch ja einer Wirklichkeit gegenübertritt, der er und vor allem auch andere Menschen zuvor schon Sinn verliehen haben, wodurch sie sozial konstruiert geworden ist. Der Prozess des Verstehens, d. h. der Bedeutungsverleihung zur Herstellung subjektiv gemeinten Sinns, impliziert somit zahlreiche vorangegangene Verstehensleistungen, die gerade auch durch andere vollzogen worden sind. Die Zuschreibung von Sinn bezieht sich dann auf eine soziale Wirklichkeit, also auf eine bereits durch andere mit Sinn versehene Wirklichkeit. Soziale Wirklichkeit stellt somit im Grunde genommen ein Gebilde aus geronnenem kommunikativen Sinn dar. Bereits Alfred Schütz (1974) hat darauf hingewiesen, dass damit Verstehen stets ein Fremdverstehen darstellt.11
Unter Fremdverstehen ist hier nicht das Verstehen und Übersetzen aus einer Fremdsprache zu verstehen, obwohl dieser Prozess natürlich ebenso Fremdverstehen bedeutet; und auch über Sprachgrenzen hinweg findet der Austausch von Metaphern (vor allem ikonischer/graphischer Metaphern) statt, was den Prozess des Verstehens und Übersetzens noch weiter verkompliziert.12
Im vorliegenden Fall bedeutet Fremdverstehen im Grunde genommen aber zunächst, dass in jedem Verstehensprozess immer die Möglichkeit des Nichtverstehens oder zumindest Andersverstehens erhalten bleibt: durch den Versuch der Rezipientin, die von der Senderin verwendete Metapher ihrem eigenen Sinnsystem anzugleichen, wird aus dem (metaphorisch) Gesagten und von der Senderin in einem bestimmten Sinn Gemeinten oder verstanden wissen Gewollten etwas Anderes – außer, was durchaus häufig vorkommt, die Senderin beabsichtigt Vieldeutigkeit. Die Rezipientin wird im Prozess des Verstehens in jedem Fall nie genau dasselbe System zur Verleihung von Sinn verwenden wie die Senderin, da beide mit unterschiedlichem Weltwissen ausgestattet sind, dem sie das Unbekannte anzugleichen versuchen. Exaktheit gibt es in diesem Sinne nicht, wie Kruse/Biesel/Schmieder folgern:
Wenn also Verstehen immer ein Fremdverstehen von bereits (durch andere) Verstandenem ist, wie kann man sich dann sicher sein, dass das Fremdverstandene so verstanden wurde, wie es zuvor bereits verstanden wurde? Einfacher ausgedrückt: Wie können wir uns sicher sein, dass unsere Sinnzuschreibung von etwas zu Verstehendem mit der Sinnzuschreibung identisch ist, die durch andere bereits vollzogen worden ist? In dieser Hinsicht gibt es schließlich keine Sicherheit; Fremdverstehen ist im erkenntnistheoretischen Sinne im Prinzip gar nicht möglich (vgl. hierzu auch Kurt 2009)!13
Metaphern und andere Tropen sind auch in historiographischen Texten verbreitet. In Metahistory hat Hayden White historiographische Texte (z.B. von Ranke, Michelet, Burckhardt und Tocqueville) wie literarische Texte behandelt, analysiert und dabei ihre Dramatik und Tropen wie Metaphern, Metonymien, Synekdochen und Ironie herausgearbeitet.14 Hayden White hat sich in seinen Essays zum Thema Historiographie, Sprache und Wirklichkeit (ebenso wie bereits lange vor ihm Wilhelm von Humboldt) mit dem wesentlichen und unausräumbaren Hindernis beschäftigt, mit dem sich alle Historiographen auseinanderzusetzen haben: nämlich mit dem epistemologischen Problem, über nie selbst Erlebtes und auch durch niemanden sonst mehr Erlebbares schreiben zu müssen, dabei jedoch Sinn herzustellen. Das heißt aber nicht, dass Historiographie überflüssig oder nicht ernst zu nehmen sei — sondern nur, dass ihre Aufgabe eine andere sei, als zu einer letzverbindlichen Wahrheit über Ereignisse zu führen, die nicht mehr „wahrheitsgemäß“ nachvollziehbar sind:
All of this means that, as a component of what Reinhart Koselleck calls a community’s „space of experience,“ its „archive“ of practical knowledge, historical knowledge is pretty weak. We have long since given up „learning from history“(cf. Gumbrecht) because the knowledge with which history provides us is so situation-specific as to be irrelevant to later times and places. This does not mean that historical knowledge is of no use at all; on the contrary, it has a vital function in the construction of community identity.15
In jedem Fall also müssen zwei Dinge für das Verstehen eines historischen Sinnzusammenhangs bedacht werden: erstens, die nicht aus der Welt zu schaffende Möglichkeit des nicht genau wissen Könnens, und zweitens, das Bemühen um Verstehen, welches dem Verstehen (bzw. dem Meinen) des ursprünglichen Sinnzusammenhangs — in diesem Fall Heinrich Heines — möglichst nahe kommt. Man mag die Unmöglichkeit echten Fremdverstehens bedauerlich finden oder unter Berufung auf „objektive“ Fakten und Dokumente sogar zurückweisen; ich plädiere jedoch für größtmögliche Sorgfalt beim Versuch, gesicherte geschichtliche Ereignisse, wie zum Beispiel die dokumentierten Geschehnisse seit der Juli-Revolution von 1830 und des gesamten als Vormärz bezeichneten Zeitraums mit den literarischen Quellen aus Heines Feder zu triangulieren und zu vervollständigen.16
Ein weiterer Grund für die Relevanz von Metaphern und ihre Mehrdeutigkeiten kommt jedoch außerdem hinzu: Metapherngebrauch stellt besonders in Zeiten der Zensur, welche ein wesentliches Charakteristikum des Vormärz in Deutschland war, eine Möglichkeit für Autoren dar, „zwischen den Zeilen“ zu schreiben und Sinnzusammenhänge zu transportieren, die sogar absichtlich nicht kernprägnant dargestellt sind. Diese Eigenschaft von Zeit und Zeitgeist könnte wiederum untergehen, wenn man sich bei einer Betrachtung Heines oder auch anderer Texte auf ausschließlich angeblich „sachliche“ Fakten oder nur die Ebene der Ereignisgeschichte beschränkte.
3) Vegetationsmetaphern
Tropen wie Metaphern, die in historiographischen und literarischen Texten vorkommen, sind in einer sehr großen Bandbreite vorstellbar, von der nur einige wenige exemplarisch genannt seien. So werden in Buchtiteln häufig Geburtsmetaphern verwendet, wie zum Beispiel in Gestalt der „Geburt der modernen Türkei„17 — aber auch immer dann, wenn von einer Nation die Rede ist, wenngleich in letzterem Fall die Bedeutung ‚Geburt‘ (natio) der Nation lexikalisiert und gar nicht mehr als solche erkennbar sein muss.
Eng mit den Geburtsmetaphern korrelieren Familienmetaphern, wie etwa im Buchtitel „Mrs. Atatürk“ (Dt.: Frau Vatertürke)18 oder auch in der verbreiteten Rede von der „europäischen Familie“ oder dem „gemeinsamen Haus Europa„.19 Ländernamen oder Kontinente sind im weiteren Kontext nicht nur Metaphern, sondern auch Metonymien und Synekdochen, wenn zum Beispiel in älteren europäischen Monographien vom „Fortgang der Türkei [aus Europa]“ oder vom „Kranken Mann vom Bosporus“ die Rede ist.
Ein besonders eindrückliches Beispiel einer Metaphernanalyse, in deren Zentrum Vegetationsmetaphern stehen, stellt das Buch The Seed and the Soil (türk. Tohum ve Toprak) der amerikanischen Anthropologin Carol Delaney über eine zentralanatolische Dorfkosmologie dar, deren Hauptdynamik die Autorin zwischen der Vorstellung eines monogenetisch-monokreativen, männlichen Samens (Tohum) und eines passiv-austragenden, weiblichen Bodens (Toprak) beschreibt, deren Zusammenwirken sinnstiftend für die Herstellung und Organisation von Gemeinschaft sei.20 Wie die Autorin feststellt, wirkt sich dieselbe Metaphorik nicht nur auf die Organisation der Familie und des Dorfes, sondern bis auf den Nationalstaat aus, weshalb Kategorien desselben metaphorisch als „Mutterland“ (türk. Anavatan) und „Vater Staat“ (türk. Devlet Baba) bezeichnet werden.21
Die letztgenannten Beispiele genetischer Familienmetaphern sind zugleich Vegetationsmetaphern, zu denen auch die hier behandelten Metaphern Heines gehören, wenn auch in einem wiederum anderen Sinn, der im nächsten Teil der Arbeit ausführlicher dargestellt wird.
In seiner Verwendung von Vegetations- und Naturmetaphern tritt Heine unter den Romantikern bereits hervor. Susanne Scharnowski, die als Literaturwissenschaftlerin Kennerin der deutschen Romantik ist, schreibt in ihrem letzten Buch Heimat: Geschichte eines Missverständnisses (2019), dass Natur gemeinhin als essentieller Bestandteil der deutschen Heimat und als zentral für die Romatik gälte. Doch die Natur der Romantiker sei vage, immateriell, religiöses Zeichensystem oder ferner, schemenhafter Projektions- und Resonanzraum der Seele. Pflanzen würden meist nur generisch benannt, als Wald, Bach, Fluss, Fels, Berg, Hügel, Baum oder Vogel.22 Ganz anders sieht es hingegen bei Heinrich Heine aus, der zum Beispiel Goethes west-östlichen Divan bis ins Detail mit Blumenmetaphern würdigt:
(…)[E]s ist ein Selam, den der Okzident dem Oriente geschickt hat, und es sind gar närrische Blumen darunter: sinnlich rote Rosen, Hortensien wie weiße nackte Mädchenbusen, spaßhaftes Löwenmaul, Purpurdigitalis wie lange Menschenfinger, verdrehte Krokosnasen, und in der Mitte, lauschend verborgen, stille deutsche Veilchen. (S. 57)23

Bei den Romantikern mögen Vegetationsmetaphern vage und geheimnisvoll formuliert sein, wie Scharnowski feststellt – darunter am prominentesten die Figur der „blauen Blume“, die auch in Heines Romantischer Schule hie und da auftaucht, zumeist mit ironisch-spöttelndem Unterton; das bedeutet jedoch nicht, dass der Natur insgesamt eine irgendwie verminderte Bedeutung zukäme. Der Stellenwert von Natur ist sogar außerordentlich zentral, wie Claudia Köpfer in ihrer Betrachtung der Figur der blauen Blume schreibt:
Der Romantik liegt ein organischer Naturbegriff zugrunde, der sich auf Kants Naturphilosophie und seinen Organismusbegriff stützt. Demzufolge ist der Kosmos kein statischer, maschinenartiger Mechanismus, kein Perpetuum Mobile, sondern ein dynamischer Organismus. Damit wird der Entzauberung, die die Aufklärung mit ihrem rationalistisch-technischen Blick mit sich brachte, entgegen gewirkt. Das Universum ist für die Romantiker immer im Entstehen und alles ist Teil von allem Anderen. Samenkörner, Blumen, Pflanzen und Bäume sind zentrale Metaphern dieser organischen Weltauffassung, die den ewigen Kreislauf von Leben und Sterben betont.24
Allerdings sind die Übergänge zwischen dieser Begeisterung für die Natur und der von Heine verspotteten Gefühlsduselei (weiter unten) fließend, was nicht zuletzt an der Überbetonung alles „natürlich gewachsenen“ liegen mag, das sich dann auch noch sprachlich (in der Dichtung) zu äußern habe:
Die menschliche Bewusstseinsentwicklung ist eng mit dem Verständnis dieses Universums verbunden. Für die Romantiker ist das Hauptinstrument für dieses Verständnis die Dichtung und das subjektive Empfinden. In Natürlichkeit, Urwüchsigkeit und intensiven, stark aus dem Unterbewussten drängenden Gefühlen sehen sie den Ursprung dichterischer Kreativität. Diese Gefühle standen in ihrer Direktheit und Klarheit in starkem Kontrast zu als gekünstelt und verfälscht empfundenen zivilisierten Verhaltensweisen. Noch heute klingen viele dieser romantischen Ideen in der Umweltbewegung nach.24
[Nach den Fußnoten geht es weiter mit den nächsten Beiträgen]
Fußnoten
1. Die Vorstellung einer diskontinuierlichen oder aufzusprengenden Geschichte geht vor allem auf Walter Benjamins geschichtsphilosophischer Schrift Über den Begriff der Geschichte zurück. In Paragraph XIV schreibt er: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte.“ (XIV, S. 701) Er konkretisiert gleich im Anschluss seine Vorstellung der ‚Jetztzeit‘ mit der Möglichkeit des ‚Aufsprengens‘, was seine Freundin Hannah Arendt als Nativität bezeichnen wird: „Das Bewußstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie die Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewußstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint. Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge, der seine Devination vielleicht dem Reim zu verdanken hat, schrieb damals: ‚Qui le croirait ! on dit qu’irrités contre l’heure, De nouveaux Josués, au pied de chaque tour, Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.‘“ Benjamin, Walter (1991): Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften Bd.I/2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 701-702.↩
2. Am bekanntesten dürften vor allem die Gedichte von Joseph von Eichendorff sein, der den Wald als eine Art „Hallraum der Seele“ begriff. Vgl. Schütz, Erhard: Dichter Wald, in: Breymayer, Ursula und Bernd Ulrich (Hg.) (2011): Unter Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Dresden: Sandstein Verlag, S. 111, zit. nach Wikipedia (Deutscher Wald); Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic, S. 25; Wagner, Annette: „Natur als Resonanzraum der Seele“, in: Buchholz, Kai u.a. (Hg.)(2001): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Darmstadt: Institut Mathildenhöhe, S. 165-184, zit. nach ebda, S. 25; 238. ↩
3. Vgl. Heine, Heinrich (1995): Romanzero und andere autobiographische Spätschriften. Werke in fünf Bänden (Bd. 5). Köln: Könemann.↩
4. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule und andere Schriften über Deutschland. Werke in fünf Bänden (Bd. 3). Köln: Könemann.↩
5. Als ergiebigstes Handbuch zur Metaphernanalyse hat sich die gemeinsame Arbeit von Jan Kruse, Kay Biesel und Christian Schmieder erwiesen: Kruse, Jan/Biesel, Kay/Schmieder, Christian (2011): Metaphernanalyse. Ein rekonstruktiver Ansatz. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften.↩
6. Der Begriff ‚Stereotype‘ selbst ist eine weitgehend lexikalisierte Metapher, die in ihrer heutigen Bedeutung von Walter Lippmann (1889-1974) geprägt worden ist. Lippmann hat die eigentliche Stereotype in Gestalt der metallischen Druckmaschinenstereotype seiner Zeit in die uneigentliche, metaphorische (sprachliche) Stereotype übertragen, vgl. Lippmann, Walter (2009): Public Opinion. New Brunswick/London: Transaction Publishers.↩
7. Auch der Begriff der „Pseudo-Umwelt“ (pseudo environment) geht auf Walter Lippmann zurück. Die Pseudo-Umwelt sei charakterisiert von einer gehörigen Portion Fiktion, worunter jedoch unterschiedlichste, konstruierte Abweichungen von der ‚realen‘ Umwelt zu verstehen seien: „By fictions I do not mean lies. I mean a representation of the environment which is in lesser or greater degree made by man himself. The range of fiction extends all the way from complete hallucination to the scientists‘ perfectly self-conscious use of a schematic model, or his decision that for his particular problem accuracy beyond a certain number of decimal places is not important.“ (S. 15-16); Die Pseudo-Umwelt sei dabei zwar eine Vereinfachung und Abweichung, korreliere aber notwendigerweise mit der ‚realen‘ Umwelt und mache diese überhaupt zugänglich: „For the real environment is altogether too big, too complex, and too fleeting for direct acquaintance. We are not equipped to deal with so much subtlety, so much variety, so many permutations and combinations. And although we have to act in that environment, we have to reconstruct it on a simpler model before we can manage it. To traverse the world men must have maps of the world.“ Lippmann, Walter (2009): Public Opinion, S. 16.↩
8. Lakoff, George und Mark Johnson (1980): Metaphors We Live By. Chicago and London: The University of Chicago Press. Auf Deutsch: Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 3. Aufl. Heidelberg.↩
9. Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 3. Aufl. Heidelberg, S. 11, zit. nach Kruse/Biesel/Schmieder, S. 7-8.↩
10. Hitzler, Ronald (1993): Verstehen: Alltagspraxis und wissenschaftliches Programm. In: Jung, Thomas/Müller-Dohm, Stefan (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 223 f., zit. nach Kruse, Jan/Biesel, Kay/Schmieder, Christian (2011): Metaphernanalyse, S.12.↩
11. Kruse/Biesel/Schmieder (2011): Metaphernanalyse, S. 12-13.↩
12. So stellt zum Beispiel meine Dissertation in weiten Strecken eine Metaphernanalyse dar, in der Metaphern wie jene der Brücke permanent in unterschiedlichen Sprachsystemen (Türkisch, Jezik* und andere) verwendet werden – ohne, dass die Kommunikantinnen deswegen unter der scheinbar identischen (eigentlich aber ’nur‘ gleichen) Metapher dasselbe verstehen müssten. Sie kommunizieren trotz oder gerade wegen der harten Sprachgrenze hauptsächlich über Metaphern und stellen über Metaphern Sinn her, auch wenn eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Sinne den Schluss nahelegen mag, dass sich die Komunikantinnen eigentlich permanent missverstehen.↩
13. Kruse/Biesel/Schmieder (2011): Metaphernanalyse, S. 16-17.↩
14. White, Hayden (1975): Metahistory. The historical imagination in nineteenth century in Europe. Baltimore and London: The Johns Hopkins University Press; Vgl. außerdem Ders. (1986): Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore and London: The Johns Hopkins University Press sowie Ders. (1980). The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: Critical Inquiry, Vol. 7, No. 1, On Narrative (Autumn, 1980), S. 5-27. Über White vgl. Korhonen, Kuisma (Hg.)(2006): Tropes for the Past: Hayden White and the History / Literature Debate (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Amsterdam/New York: Rodopi.↩
15. White, Hayden: Historical Discourse and Literary Writing, in: Korhonen, Kuisma: Tropes for the Past, S. 29.↩
16. Gleichzeitig muss ich an dieser Stelle aus Zeitgründen auf eine ausführliche Darstellung der Ereignisgeschichte verzichten, die jedoch gut erforscht ist und über die Sekundärliteratur erschlossen werden kann.↩
17. Vgl. Nezir-Akmese, Handan (2015): The Birth of Modern Turkey: The Ottoman Military and the March to WWI. London: I.B. Tauris.↩
18. Vgl. Çalışlar, İpek (2008): Mrs. Atatürk – Latife Hanım. Berlin: Orlanda.↩
19. Ausführlich schreibt dazu (auf Serbisch) Petrović, Tanja (2012): Yuropa. Jugoslovensko nasleđe i politike budućnosti u postjugoslovenskim društvima [Yuropa. Das jugoslawische Erbe und politische Zukunftsvisionen in den postjugoslawischen Gesellschaften]. Beograd: Edicija REČ.↩
20. Delaney, Carol (1991): The Seed and the Soil. Gender and Cosmology in Turkish Village Society. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Delaneys Buch ist unter dem Titel Tohum ve Toprak auch ins Türkische übertragen worden und findet in der türkischen Sozialwissenschaft breiten Wiederhall. Nach ihrer Arbeit, die auf der Grundlage ihrer Feldstudien Anfang der 1980er Jahre in einem Dorf in der Nähe von Ankara entstanden ist, sind weitere Forschungsarbeiten entstanden, die anatolische Gebräuche mithilfe der Samen-Boden-Metaphorik beschreiben, wie z.B. Salman, Meral (2013). Tohum ve toprak metaforu üzerinden bir olağanüstü doğum ritüeli: buğday oğullar, mercimek kızlar [Ein außergewöhnliches Geburtsritual über die Samen-und-Boden-Metaphorik: Weizen sind Söhne, Linsen sind Töchter], in: folklor / edebiyat, cilt: 19, sayı: 74, 2013/2.↩
21. Vgl. Delaney, Carol: Father State, Motherland, and the Birth of Modern Turkey, in: Sylvia Yanagisako und Carol Delaney (Hg.)(1995): Naturalizing Power. Essays in Feminist Cultural Analysis. New York/London: Routledge, S. 177-199.↩
22. Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic, S. 25.↩
23. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 57.↩
24. Köpfer, Claudia: Erinnerungsort „Die blaue Blume“, URL: http://umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/verehrte-natur/35-die-blaue-blume (zuletzt abgerufen am 27.7.2020).↩
Biographische Hintergründe
Heinrich Heine wurde 1797 als Harry Heine in eine jüdische Familie von Tuchhändlern aus Düsseldorf geboren, wo er im Geist der jüdischen Aufklärung aufwuchs. Seine Familie war wohlhabend, sodass ihn sein Hamburger Onkel Salomon, der ein Bankier war, zeitlebens auch in klammen Phasen unterstützen konnte. Zuerst besuchte Heine für kurze Zeit eine israelitische Privatschule, wechselte aber mit der napoleonischen Liberalisierung der Schulgesetze und der Öffnung der (christlichen) Schulen für jüdische Kinder früh auf das Düsseldorfer Lyzeum.
Seine Schulzeit fiel also in die sogenannte Franzosenzeit (1792-1815), als seine Heimatstadt Düsseldorf Hauptstadt des Großherzogtums Berg war, eines französischen Satellitenstaats und Mitglied des Rheinbunds (1806-1813). Zu dieser Zeit lernte er die französische Sprache. Aber auch seine lebenslange Bewunderung für Napoleon I. datiert aus seiner Kindheit, was er später unter anderem in Ideen. Das Buch Le Grand verarbeitete.25 Besonders hat ihn der Einzug Napoleons im Jahr 1811 bewegt, dem er als Teenager beiwohnte. Napoleon setzte einen Reformprozess in Gang, indem er zum Beispiel den in Deutschland vorherrschenden Partikularismus (die Kleinstaaterei) reduzierte. Doch noch wichtiger muss aus Heines Sicht die Einführung des Code Civil (auch: Code Napoléon) gewesen sein — eines der bedeutendsten Gesetzeswerke der Neuzeit — wodurch Juden und Nicht-Juden gleichgestellt werden sollten. Überdies versprach der französische Einfluss, die Zensur zurückzudrängen, an deren Übergriffigkeit auch Heines „Gedicht“ Die deutschen Censoren im Buch Le Grand erinnert.26
Bereits in seiner Kindheit und frühen Jugend war damit der Grundstein für Heines ambivalentes Verhältnis zu Deutschland sowie für seine lebenslange Verbundenheit mit Frankreich gelegt. Diese Ambivalenz erfasste freilich darüber hinaus auch die breite Gesellschaft: die napoleonische Zeit brachte Deutschland einerseits Reformen mit weiter Strahlkraft — andererseits stellte sie jedoch auch die Weichen für den weiteren Verlauf der deutschen Nationalbewegungen, Ressentiment, Widerstand, Reaktion und Restauration.

Vorgesehen war für Heine eine Karriere als Kaufmann. Doch obwohl er den Kaufmannsberuf erlernt und sogar ein eigenes Geschäft gegründet hatte, endete dieser Lebensabschnitt bald in einer Pleite, da ihm der Beruf nicht lag. Er studierte anschließend — unterstützt durch seinen Onkel Salomon — Jura in Bonn, Göttingen und Berlin, besuchte aber auch philosophische und historische Vorlesungen, unter anderem bei Hegel in Berlin. Im Jahr 1825 schloss er sein Studium mit Promotion ab.
Kurz vor seiner Promotion als Jurist war Heine zur evangelischen Kirche konvertiert, was einerseits einem breiteren Trend von Juden in Deutschland entsprach, die sich durch die Konversion von den gesellschaftlichen Hürden des Antijudaismus (bzw. des frühen Antisemitismus moderner Prägung) und der Diskriminierung befreien wollten. Bereits als Kind war Heine in der Schule antijüdischen Angriffe ausgesetzt, und in seiner Studentenzeit würde er die Ausschreitungen der sogenannten Hep-Hep-Bewegung (1819) erleben müssen. Gerhard Höhn geht davon aus, dass sich Heine in diesem Zusammenhang 1820 duelliert hat. Im selben Jahr erlebte Heine im wörtlichen Sinne Ausschluss, nämlich aus der Göttinger Burschenschaft — wegen ihres „christlich-teutschen Chrakters„.28 Mit diesen und anderen Erfahrungen lässt sich seine Konversion verstehen, nämlich als vermeintliches (und gescheitertes) „Entréebillet zur europäischen Kultur„, nachdem das Edikt von 1812, das Juden das Recht auf Übernahme von Lehrpositionen an preußischen Universitäten eingeräumt hatte, nur zehn Jahre später zurückgenommen worden war.29
Zwischenbemerkung: die Thematik des letzten sowie die folgenden zwei Paragraphen, nämlich die Position von Juden als Ausnahmejuden (Hannah Arendt), als Paria und/oder Parvenü, wird hier nur knapp skizziert und im nächsten Kapitel vertieft. Die Berliner Salons als gesellschaftlicher Mikrokosmos des frühen 19. Jahrhunderts, wie sie Hannah Arendt analysiert hat, bilden den Hintergrund Heinrich Heines Rebellion gegen die generative Grammatik seiner Gesellschaft, und diese Rebellion des sich nicht Unterordnens unter das Entweder-Oder, das permanente Vorwärts-und-wieder-Zurück, ist schließlich auch der Grund, warum ich von Heine als Außenseiter spreche (und nicht „nur“ als Ausnahmejuden, denn dies war laut Arendt das Los aller assimilierter Juden); denn Heine war ja, wie Arendt es treffend nennt, ein Rebell. Dadurch wird sich in der Schlussredaktion des Textes dieses Kapitel womöglich noch einmal verändern, um Dopplungen zu reduzieren.
Die Konversion und Annahme des christlichen Namens Christian Johann Heinrich bedeutete jedoch für ihn (wie für die meisten anderen konvertierten Juden) nicht die Gleichberechtigung; ob als Paria oder Parvenu hinderte ihn eine gläserne Wand an der Überwindung offener wie subtilerer Diskriminierung. In diesem Zusammenhang muss natürlich die jüdische Berliner Salonnière Rahel Levin (später Varnhagen von Ense) genannt werden, in deren ersten Salon (1790-1806) am Gendarmenmarkt die gesamte intellektuelle30 und künstlerische Elite der frühen Romantik ein und aus ging. Heine, der ihren zweiten Salon (1820-1833) besuchte, äußerte sich voller Bewunderung über sie. Hannah Arendt wertet in ihrer ursprünglichen Habilitationsschrift über Rahel [Levin] Varnhagen die Anerkennung, die sich die zum Christentum konvertierte Rahel Varnhagen zu verschaffen suchte — und welche ihr auch (bedingt) zuteil wurde — nicht etwa als geglückte Integration oder Assimilation: sie sei dem Umstand geschuldet gewesen, dass jüdische Salons als neutraler Grund wahrgenommen worden seien, und zwar gerade weil Juden außerhalb der Gesellschaft standen.31
Die Institution des vornapoleonischen Berliner Salons ist in dieser Hinsicht die perfekte Begegnungsplattform von Aufklärung und Romantik, wobei sich aufklärerische, an der jüdischen Emanzipation interessierte Protagonistinnen der Illusion hingeben konnten, dazuzugehören, während Romantikerinnen ihrem Drang nachgehen konnten, die Wirklichkeit der Welt auszublenden.32 An der Ständegesellschaft draußen änderte das nichts. Wie Jürgen Voigt über das Spannungsverhältnis des jungen Heines zwischen Judentum und Nationalromantik schreibt — letztere Haltung äußerte sich z.B. immer wieder über die Anrufung des „theuren Vaterlands“ — sei Heines Generation jüdischer Deutscher überall auf Hass und Ablehnung der „verunsicherten“ und in ihren Vorurteilen befangenen, christlichen Umwelt gestoßen. Dies zeigt auch die Erfahrung des ebenso jüdischen Ludwig Börne in den 1830er Jahren, der sich christlich taufen ließ und über seinen fortdauernden Ausschluss schreibt:
Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.33
Erst in zweiter Linie ist die Entscheidung für die evangelische Kirche auch als Entscheidung gegen den Katholizismus zu verstehen, welchem Heine auch im weiteren Verlauf seines Lebens ablehnend gegenüberstehen würde und wovon noch ausführlicher in den folgenden Kapiteln zu lesen sein wird (vgl. besonders Kapitel 6).
Heines Erwachsenenzeit ist einerseits unter dem (vorrevolutionären) Epochenbegriff des Vormärz in die Annalen eingegangen, doch gleichzeitig war sie in Folge des Wiener Kongreßes von 1814/1815 und der Gründung der Heiligen Allianz 1815-1853/54 (nach dem Krimkrieg) vom Konservatismus der Metternichschen Restaurationen geprägt.34 Kennzeichnend für seine Zeit waren die widersprüchlichen Entwicklungen und Tendenzen in der Literatur und die spätere Frage, wie diese Zeit eigentlich zu klassifizieren sei: „Goethezeit“, „Romantik“, „Spätromantik“, „Junges Deutschland“, „Biedermeierzeit“, „Vormärz“ oder „Realismus“? Heine jedenfalls habe die Widersprüche der Umbruch- und Krisenzeit bewusster erfahren, reflektiert und ausgedrückt als andere Schriftsteller seiner Eopche, so Gerhard Höhn: Heine kommentierte nämlich sowohl den politischen Stillstand als auch die neuen Härten der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik kritisch.35
Es mag seiner Weitsicht als Außenseiter und Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich geschuldet sein, aber ganz sicher auch seiner enormen Bildung sowie seinem geschichtlichen Wissen, dass viele seiner Zitate aus heutiger Sicht nahezu prophetisch erscheinen: am bekanntesten ist Heines Wort „das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher / Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ in seinem 1820/21 entstandenen (1823 erschienenen) Trauerspiel Almansor. Bedenkt man, dass Heine mit der Szene der spanischen Bücherverbrennung im spätmittelalterlichen Andalusien allegorisch gleichermaßen die studentischen Verbrennungen „undeutscher Schriften“ — darunter des Code Napoléon — am Wartburgfest von 1817 kritisiert hat, und sich bekanntermaßen die Bücherverbrennung 1933 unter den Nazis erneut ereignen und von tatsächlichen Verbrennungen von Menschen gefolgt sein würde, kann vielleicht durchaus die Rede von Prophetie sein;36 Man könnte andererseits, im Sinne Walter Benjamins und Hannah Arendts, auch urteilen, Heine habe hier eine Pathologie der Menschheit fragmentiert. Auf den Evergreen unter den Sinnfragen zum Studium der Geschichte, nämlich jenen der Kausalität und Kontinuität (und nichts anderes steckt in der Vorstellung von Prophetie), wird im letzten Kapitel noch ausführlicher zurückzukommen sein.
Die drei Gründungsmächte der Heiligen Allianz Preußen, Österreich und Russland galten sich selbst nicht umsonst als heilig, da sie „die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers“ in ihrer Gründungserklärung beschworen. Auch das besiegte Frankreich trat der Heiligen Allianz bei — doch wieder war es 1830 Frankreich, das mit der Julirevolution dem restaurativen Treiben die Stirn bot. Heine jubilierte über die Julirevolution, und nur ein Jahr später (1831) wählte er das Pariser Exil. Fortan blieb er, von seinen Deutschlandreisen abgesehen, in Frankreich, wo er insgesamt die längere Zeit seines Erwachsenenalters (nämlich 25 Jahre) verbringen und 1856 auch sterben würde. Aus diesem Grund kann Heine auch nicht nur als deutscher Schriftsteller bezeichnet werden: wenn er überhaupt in national-identitären Kategorien zu fassen ist, dann in einer deutsch-französischen Bindestrichkonstruktion sowie als Übersetzer und Kulturvermittler. Heine selbst hat sich als Kosmopolit gesehen, wie er 1833 in einem Brief geschrieben hat:
Ich bin daher der inkarnirte Kosmopolitismus, ich weiß, daß dieses am Ende die allgemeine Gesinnung wird in Europa, und ich bin daher überzeugt, daß ich mehr Zukunft habe, als unsere deutschen Volksthümler, diese sterblichen Menschen, die nur der Vergangenheit angehören.37
Heinrich Heines eigentliche Berufung war das Schreiben. Seine schriftstellerische und dichterische Schaffensphase kann in drei Phasen eingeteilt werden: zu Beginn, in seiner Jugend, gilt er vielen Leserinnen als der Romantik nahestehend, und aus dieser Zeit datieren auch zahlreiche seiner später vertonten Gedichte, etwa durch Schubert und Schumann.38 Aus dieser Phase stammen auch die Reisebilder Heimkehr, Die Nordsee und Die Harzreise. Wie bei Frühromantikerinnen — etwa der schwer melancholischen Karoline von Günderrode — tauchen hier Themen wie das der hoffnungslosen, aussichtslosen Liebe auf; doch da parodiert er schon übertriebene Gefühlsduselei, wie später in der Romantischen Schule. Sentimentalität und Ironie verbinden sich bei Heine auf die für ihn typische Weise.
In der zweiten und dritten Phase, ab den 1830er Jahren, schrieb der seit 1831 in Paris lebende Heine zunehmend gesellschaftskritische, politische und satirische bis polemische Texte, wovon die Romantische Schule (1835) das zu Heines Lebzeiten prominenteste Beispiel ist.39 Seine sozialkritische Haltung manifestierte sich auch in seinen Gedichten, wie zum Beispiel im 1854 und 1855 in zwei unterschiedlichen Varianten entstandenen Gedicht Das Sklavenschiff.40 Die stärkere Konzentration auf politische Schriften erklärt sich auch dadurch, dass es für Heine, den deutschsprachigen Dichter, schwierig war, sich auf dem französischsprachigen Markt als Lyriker zu etablieren; es hat aber auch mit der Überzeugung des „Zeitschriftstellertums“ zu tun, nämlich der Ansicht, dass sich Schriftsteller über den politischen und gesellschaftlichen Prozess und die Gegenwart zu äußern hatten — vornehmlich in Zeitschriften und Zeitungen.41
Heine ist nach seiner Emigration nach Frankreich noch zwei Mal nach Deutschland gereist, was er in seinen späteren Reiseschriften verarbeitet hat — zum Beispiel im 1844 erschienenen Deutschland. Ein Wintermärchen, einer seiner bekanntesten Gedichtbände. Dieses in epischer Form geschriebene Werk, mit dessen Titel er auf Shakespeares The Winter’s Tale (1623) Bezug nimmt, hat ihm in Deutschland den Ruf des „Verächters des Vaterlands“ und Franzosenfreunds eingebracht -. was angesichts der noch lebhaften Erinnerung an die napoleonische Zeit und die anhaltende Spannung zwischen den deutschen Ländern und Frankreich schwer wog.42
Die letzte Phase Heines ist gekennzeichnet von seiner schweren Krankheit und Bettlägrigkeit. Aus dieser Zeit stammt der Gedichtzyklus Romanzero. Im editorischen Nachwort der Romanzero-Ausgabe von 1995 wird Jürgen Brummack zitiert, der die letzte große Wende in Heines Lebens vor dem Hintergrund des Romanzero folgendermaßen beschreibt:
ein verändertes Verhältnis zur Geschichte und damit zur Zukunft; die Darstellung des Lebens vom Tode her; eine neue Offenheit des Gedichts für Leiden und Erbärmlichkeit; eine zusätzliche Funktion der Ironie; eine neue Religiosität.43
[Zum nächsten Beitrag 5.1 über Heine HIER klicken]
Fußnoten
25. Ideen. Das Buch Le Grand, in: Heine, Heinrich (1995): Die Harzreise und andere Reisebilder. Werke in fünf Bänden (Bd. 2). Köln: Könemann, S.127-199.↩
26. Das Gedicht besteht hauptsächlich aus Gedankenstrichen als Symbol für die Zensur und daneben aus dem Text „Die deutschen Censoren (…) Dummköpfe“.↩
27. Kinder, Hermann / Hilgemann, Werner (Hg.)(1998): Dtv-Atlas Weltgeschichte, Bd. 2: Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 306.↩
28. Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 32-37.↩
29. Das Edikt war nicht in allen preußischen Ländern einheitlich geregelt. Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 35.↩
30. Der Begriff des Intellektuellen taucht allerdings erst ab 1898 mit der Dreyfus-Affäre auf, wie Gerhard Höhn erinnert, und trotzdem sei der „Zeitschriftsteller“ Heine als Intellektueller zu bezeichnen, so wie die Figur des einzelnen Intellektuellen vor dem normativen Gebrauch „der Intellektuellen“ (les intelectuels) existiert habe: Heine sei ganz bestimmt einer von ihnen. Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 2.↩
31. Arendt, Hannah (1981 [1959]): Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper., S. 72.↩
32. Ebda.↩
33. Voigt, Jürgen (1993): O Deutschland, meine ferne Liebe…: der junge Heinrich Heine zwischen Nationalromantik und Judentum. Bonn: Pahl Rugenstein Hochschulschriften, S. 11.↩
34. Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 5-12.↩
35. Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 6.↩
36. Heine, Heinrich (1823): Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo. Berlin: Dümmler sowie Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 9.↩
37. Zit. nach Bodenheimer, Nina (2014): Heinrich Heine und der Saint-Simonismus (1830-1835). Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler, S. 123.↩
38. Weniger bekannt ist, dass Heines Gedicht Der Asra aus dem späten Gedichtzyklus Romanzero im bosnischen Liedgenre Sevdah bzw. Sevdalinka unter dem Titel Kraj tana(h)na šadrvana große Bekanntheit erlangt hat, obwohl nicht immer bekannt sein dürfte, dass das Gedicht aus Heines Feder stammt und von Safvet-beg Bašagić in die bosnische Sprache bzw. Jezik* übersetzt worden ist. Vgl.“Kraj tanahna šadrvana“ als Leihgabe von Heinrich Heine, Homepage Sevdalinka.info, URL: https://sevdalinka.info/de/kraj-tanahna-sadrvana-als-leihgabe-von-heinrich-heine/ (zuletzt abgerufen am 31.7.2020).↩
39. Bodenheimer, Nina (2014): Heinrich Heine und der Saint-Simonismus (1830-1835). Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 123 (Fußnote 454) sowie Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 302-305.↩
40. Dieses Gedicht ist von Harriet Beecher-Stowes Buch Onkel Toms Hütte inspiriert.↩
41. Vgl. Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch, S. 2 ff.↩
42. Der Titel Deutschland. Ein Wintermärchen korrespondiert außerdem mit dem Untertitel seines zuvor erschienenen Gedichtbands Atta Troll. Ein Sommernachtstraum, der ebenso von Shakespeare inspiriert war, nämlich vom Titel der Komödie A Midsummer Night’s Dream; Atta Troll geht auf eine Pyrenäenreise zurück, wo die tierische Hauptfigur Atta Troll herkommt.↩
43. Brummack, Jürgen (Hg.) (1992): Heinrich Heine. Epoche, Werk, Wirkung (Reihe Beck’sche Elementarbücher). München: C. H. Beck, zit. nach Editorisches Nachwort in Romanzero, S. 340.↩
Der fragile Gleichheitsgedanke im frühen 19. Jahrhundert
Das frühe 19. Jahrhundert, die napoleonischen Eroberungen und Reformen, der Widerstand und die Herausbildung des Jungen Deutschlands, das Abdriften der Berliner Salons in antifranzösische, antijüdische und schließlich antisemitische Fahrwasser, das bald offene, bald subtile Positionieren Heines gegen genau diese Entwicklung, die ihn selbst direkt betraf u.v.m.: dies alles dürfte Leserinnen, die sich hauptsächlich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen und auskennen, relativ wenig präsent sein.
Wie die vorangegangen biographischen Angaben zeigen konnten, befand sich Heine in Deutschland zwar allein durch seine jüdische Herkunft bereits in einer Außenseiterposition, wenn man die nichtjüdische, meistens aristokratische „Allgemeinheit“ — als vorgestellte Gemeinschaft der Gleichen — als Bezugsgruppe im weiteren Sinne benennen möchte; im selben Sinn bildeten dann die Aufklärer und Romantiker die engere Vergleichsgruppe. Aus dieser Position heraus muss auch eines der Hauptcharakteristika Heines gelesen werden: seine polemische und satirische Haltung und Sprache, mittels derer er sich den von Anfang an da gewesenen, aber sich mit der Zeit immer weiter zuspitzenden Ausschlussmechanismen erwehrte.
Trotzdem wäre eine vereinfachte, dichotome Sicht auf die gebildeten Teile der Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — indem man sie in Nichtjuden und Juden teilte — aus mehreren Gründen stark verkürzt. Erstens liefe man dabei Gefahr, die moderne Kategorie des Antisemitismus als gesetzt und gegeben für einen Kontext anzunehmen, in welchem sie in der heute geläufigen Form — also in Kenntnis des Nationalsozialismus und des Genozids der Shoa — streng genommen noch nicht existierte, oder noch genauer genommen: in welchem der moderne Antisemitismus gerade erst dabei war, sich aus seinen antijudaistischen Ursprüngen heraus zu formieren, und wozu sich Heine in ironischer, satirischer Sprache positioniert hat. Und zweitens könnte damit ausgeblendet werden, dass Heinrich Heine auch unter den Juden Deutschlands — und das heißt: auch unter den getauften, konvertierten Juden wie ihm — die Rolle einer Ausnahme des Ausnahmejuden einnahm.
Rahel Varnhagen und die Berliner Salons
In diesem Zusammenhang spiegeln die Biographie und der Berliner Salon der Rahel Levin (Varnhagen [von Ense]) zwei gesellschaftliche Phänomene des frühen 19. Jahrhunderts und der deutsch-jüdischen Geschichte, die uns helfen können, den gesellschaftlichen Zeitgeist nachzuvollziehen, in dem Heine gewirkt und geschrieben hat. Zu unserem Glück hat sich Hannah Arendt sowohl in ihrer (durch den Nationalsozialismus verhinderten) Habilitationsschrift Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik44, als auch im ersten Teil ihres Monumentalwerks Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft45 ausführlich mit Rahel [Levin] Varnhagen auseinandergesetzt.
Weil Rahel Varnhagen und ihr Ehemann Karl August nicht nur mit Heinrich Heine befreundet waren, sondern weil der Salon der Varnhagen eine Art Mikrogesellschaft abbildete, dabei in jeder Hinsicht außergewöhnlich war und Aufschluss gibt über die Phänomene der Ausnahmejuden, der Paria und der Parvenüs, der assimilierten Juden und der nicht anwesenden, ausgeschlossenen „einfachen Juden“ sowie derer aller Verhältnisse zum nichtjüdischen Teil der Gesellschaft, werde ich in den folgenden Abschnitten, ausgehend von Arendts Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft, herausarbeiten, was diese Figuren46 für Heines Position als Rebell und Außenseiter bedeuten: denn Heine bildet im Grunde, zusammen mit wenigen anderen Ausnahmen wie Ludwig Börne (und sogar Rahel Varnhagen selbst), eine weitere Figur, der Arendt jedoch nur ganz am Rande ihre Aufmerksamkeit schenkt und „Rebell“ nennt.
Durch die Besonderheit des Varnhagel’schen Salons wird deutlich, dass das frühe 19. Jahrhundert zunächst einmal durchaus eine optimistische Zeit war, deren Protagonistinnen den Begriff der Gleichheit hoch hielten — wenn auch ohne jede politische Erfahrung und letztlich ohne großen Erfolg. Doch zunächst zum Salon der Rahel Varnhagen, über den Hannah Arendt schreibt:
Der Salon der Rahel, der nach ihrem eigenen Zeugnis 1806 in der preußischen Niederlage unterging „wie ein Schiff, den höchsten Lebensgenuß enthaltend“ (…), ist ein in der Geschichte von Assimilation und Ausnahmejuden absolut einzigartiges und einmaliges Gebilde gewesen. Was später mit mehr oder weniger Erfolg geheuchelt, mit mehr oder weniger Kosten an Demütigungen gespielt wurde, war hier wirklich, einmalig und in voller Unschuld verwirklicht worden: Hier galt wirklich jeder nur genau so viel, wie er darzustellen vermochte, hier ward jeder nach nichts anderem beurteilt als seiner Persönlichkeit — und weder nach seinem Stande (…) — noch nach seinem Gelde (…) — noch nach seinem Erfolg im öffentlichen Leben (…) — noch nach seiner literarischen Karriere (denn Friedrich Schlegel war trotz steigender Berühmtheit nie beliebt). Der Salon der Rahel war auch nicht, wie so viele spätere jüdische Salons, nur dem Anspruch nach gemischte Gesellschaft, de facto aber jüdisch mit ein paar nichtjüdischen Ausnahmen, er war aber auch nicht nichtjüdisch mit ein paar zugelassenen Ausnahmejuden. Er war naiv paritätiscch und entsprach einer kurzen Blütezeit deutsch-jüdischer Geselligkeit, die mehr Mischehen aufzuweisen hatte als irgendeine spätere.47
Doch so kurz wie diese Blüte des Salons der Rahel anhielt — genauer genommen nur ihres ersten Salons — so zart und wenig wehrhaft gestaltete sich die Verfassung von Gleichheit, die unvorhergesehener Weise immer fragiler werden würde, je stärker sich die Ständegesellschaft transformierte:
Die Tatsache, daß die Gleichheit aller Bürger für uns bereits zu den Selbstverständlichkeiten politischer Gerechtigkeit gehört, verführt leicht, zu übersehen, daß Gleichheit nicht nur eine der größten, sondern auch eine der unsichersten Errungenschaften der modernen Menschheit ist. Die politisch-rechtliche Gleichheit aller vor dem Gesetz war begleitet von einer wachsenden Gleichartigkeit gesellschaftlicher und materieller Umstände. Je gleichartiger aber solche Umstände werden, desto weniger kann der durchschnittliche politische Verstand die Unterschiede begreifen, die in Wirklichkeit existieren, desto größer also werden die Ungleichartigkeiten zwischen Individuen und Gruppen.48
Hannah Arendt betont, dass das Prinzip der Gleichheit, wie es seit der Französischen Revolution von 1789 versucht wurde, in der trichotomen Parole Liberté, Égalité, Fraternité deklarativ durchzusetzen, einen extrem holprigen Weg der Rückschläge und Reproduktion alter Konflikte in neuem Gewand zu gehen hatte. Besonders deutlich zeichnet sich das im Verlauf des 19. Jahrhunderts ab. Das zentrale Problem bestand dabei darin, das Prinzip der Gleichheit aller Menschen von einer nicht (mehr nur) religiös fundierten Idee zu einem funktionierenden, organisatorischen Prinzip zu machen. Gleichheit gibt es schließlich auch außerhalb der Politik, und es gab die Rede von der Gleichheit in der Frequenz christlicher Beerdigungsreden auch schon lange vorher, in der religiösen Vorstellungswelt. Doch bei Arendt steht jenes Problem im Zentrum, welches entsteht,
(…) wenn Gleichheit nicht mehr die Gleichheit vor einem all- und übermächtigen Gott oder dem Tode als einem gemeinsamen menschlichen Schicksal bedeutet, sondern zu einem weltlich organisierenden Prinzip innerhalb eines Volkes selbst geworden ist.49
Den Gesellschaften, in denen auf einmal Gleichheit de facto ungleicher Menschen herrschen sollte, habe es an einem „Maßstab“ gefehlt, anhand dessen die Gleichheit realiter umzusetzen gewesen wäre. Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung und Loslösung vom christlich-göttlichen Legitimationsprinzip des Ancien Régime und seiner absolutistischen Herrschaft wurde auch die transzendente Vorstellungswelt untauglicher, durch welche Gleichheit zu erklären gewesen wäre.50 Das Problem war ganz praktischer Natur:
Sie als das, was sie ist, zu erkennen, nämlich als das Prinzip einer politischen Organisation, innerhalb deren ungleiche Menschen gleiche Rechte haben, hat sich erheblich schwerer erwiesen, als der Optimismus des frühen 19. Jahrhunderts geglaubt hat.51
Der gesellschaftliche Wandel des 19. Jahrhunderts hielt ein weiteres Paradox bereit, was auch daran liegt, dass Staat und Gesellschaft in jener Zeit überhaupt nicht kongruent waren, wie Arendt betont: das, was als Gesellschaft oder bürgerliche Gesellschaft im Begriff war, sich zu formieren, und zwar unter anderem in den Berliner Salons, wo sich junge Aristokraten und gebildete Ausnahmejuden (bzw. insbesondere Ausnahmejüdinnen) trafen — und keinesfalls irgendwelche beliebigen Einwohnerinnen Berlins — reproduzierte zunächst aristokratische Prinzipien auf eine modifizierte Weise so, dass das Prinzip der Gleichheit darunter begraben wurde.
Arendt rafft einen äußerst komplizierten Zusammenhang in zwei nur sehr schwer verständlichen Sätzen in der knappen Einleitung zu den Ausnahmejuden; diese Sätze unterfüttert sie erst durch die später folgenden Beispiele, durch welche sie den Zusammenhang aufzeigt, der zwischen Hofjuden, Schutzjuden, später sogenannten „Ostjuden“ bzw. ungebildeten, traditionellen Juden und deren Hierarchisierungen einerseits, sowie assimilierten und gebildeten Juden und der aristokratischen, bald aber auch der bürgerlichen nicht-jüdischen Gesellschaft andererseits, bestand und sich in den Salons abbildete.
Denn Vorstellungen von „normal“ und „anormal“ (Arendt), ganz besonders aber die Autorität, darüber zu entscheiden, wer sich in welche dieser beiden Kategorien begeben durfte und wer nicht — nämlich Juden — verdanken sich sozialen Dynamiken, Gewohnheiten und Machtgefällen, die zwar durch das Diktum der Gleichheit und des noch zu behandelnden technologischen und wirtschaftlichen Wandels (in Kapitel 8 über den „eigentlichen deutschen Wald“ der Sattelzeit) empfindlich erschüttert und verändert, aber nicht verschwunden sind:
Die modernen Massengesellschaften bieten zahllose Beispiele dafür, daß es erheblich näher liegt, Gleichheit für eine angeborene Eigenschaft eines jeden Individuums zu halten, das „normal“ genannt wird, wenn es ist wie jedermann, und „anormal“, wenn es sich unterscheidet. Diese pervertierende Umwandlung eines politischen in einen gesellschaftlich-psychologischen Begriff ist dann besonders gefährlich, wenn die Gesellschaft auf verhältnismäßig kleinem Raum die Unterschiede klar ans öffentliche Licht bringt und damit eine Fülle von Konflikten erzeugt. So stellte sich überall heraus, daß die Gesellschaft und die Abschaffung rechtlich-politischer Rangunterschiede im Nationalstaat erst einmal damit reagierte, sich desto hierarchischer nach innen zu organisieren, je demokratischer sie äußerlich wurde.52
Darin steckt bereits das zentrale Postulat Hannah Arendts des Politischen als gemeinsamen Prozess der Verschiedenen, welches sie an dieser Stelle jedoch nicht ausführt53: einerseits gibt es Unterschiede (und seien es angeborene Unterschiede, worunter sie den heute obsoleten Begriff der Rasse nennt — die sie zu den „natürlich gegebenen Unterschieden“ zählt, was gesonderter Diskussion bedarf), und andererseits gibt es die Vorstellung von Gleichheit. Gleichheit muss aber immer die Gleichheit von Verschiedenen sein, Unterschiede also anerkannt werden — ansonsten wird falsch verstandene Gleichheit anti-politisch, sofern darunter eigentlich Selbheit oder Identität verstanden wird:
Der Rassenwahn ist unter anderem auch die Reaktion dagegen, daß der Begriff der Gleichheit fordert, jedermann als meinesgleichen anzuerkennen.54
Arendt unterscheidet „richtig“ und „falsch“ verstandene Gleichheit (Anm. TS: „richtig“ und „falsch“ ist hier meine Formulierung), indem sie „politische Gleichberechtigung“ vom Druck der „Angleichung der Individuen im Gesellschaftsprozeß“ scheidet. Die realen Auswüchse dieser Gefahr seien aber erst „in den konformistischen Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts wirklich aktuell geworden“.55
Für die neuen Gesellschaften der Nationalstaaten — und man begreift die Radikalität des gesellschaftlichen Wandels der „Sattelzeit“ zwischen Französischer Revolution und Gründung des Deutschen Reiches (Reinhart Koselleck) nicht allein über das Studium von Ideen und Begriffen, sondern erst über die Miteinbeziehung der eigentlichen, lebensweltlichen Veränderungen vom „hölzernen Zeitalter“ (Joachim Radkau) hin zum Steinkohlezeitalter der Industriellen Revolution (vgl. Kapitel 8 / Sattelzeit), wodurch neue Konzepte unausweichlich wurden — gab es keine Blaupause, keine praktischen Erfahrungswerte, keine „Maßstäbe“; diese neue Gesellschaft war keine, die sich von unten organisierte: es wurde vielmehr in elitären und exklusiven Kreisen wie den Salons über sie sinniert, so dass sich das Denken dieser Salons auf die Gesellschaft übertrug; und diese Salons haben sich vom Ausnahmesalon der Rahel Varnhagen, in dem laut Arendt tatsächlich Juden und Nichtjuden gleich waren, weg entwickelt, und zwar hin zu den Salons ohne Juden, welche zunehmend (und zwar auch durch die von Heine gespotteten Romantiker) ausgeschlossen wurden.
Und da das Prinzip der Hierarchie in der Aristokratie verkörpert war, hat die Gesellschaft der Nationalstaaten gerade „die Merkmale mehr oder minder modifiziert, mehr oder minder karikiert reproduziert“, die die jeweilige Adelsgesellschaft ihr darbot — ganz unabhängig davon, ob sie aristokratisch gesinnt war oder nicht. Die adligen Privilegien waren eine Sache der Vergangenheit geworden, aber keineswegs die adlige Gesellschaft; ihre Maßstäbe haben im Gegenteil durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch die Gesellschaft bestimmt, sie lieferten „Grammatik und Syntax des gesellschaftlichen Lebens“ überhaupt. (…)56
[Zum nächsten Beitrag über Heine 5.2 HIER klicken]
Fußnoten:
44. Arendt, Hannah (1981 [1959]): Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper.↩
45. Arendt, Hannah (2003 [1951]): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München/Zürich: Piper.↩
46. Figuren in einem soziologischen Sinn wie in Norbert Elias‘ Begriff der Figuration, vgl. Elias, Norbert (2014): Was ist Soziologie? Bad Langensalza: Beltz Juventa.↩
47. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 148-149.↩
48. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 138-139.↩
49. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.↩
50. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.↩
51. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.↩
52. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 139.↩
53. Vgl. dazu Arendt, Hannah (2003): Was ist Politik? München: Piper Verlag.↩
54. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.↩
55. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.↩
56. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.↩
Zwischen Ausnahmejudentum und Rebellion
Laut Hannah Arendt blieb die Dynamik der gesellschaftlichen Antipathie oder Anziehung, des Antisemitismus und Philosemitismus für das gesamte 19. Jahrhundert bestimmend, was sie als Reaktion auf die zunehmende Angleichung jüdischer Lebensverhältnisse an die Umwelt zurückführt: je gleicher — das heißt: assmilierter — die Juden in Deutschland bzw. Europa wurden, „desto erstaunlicher erschienen der Umwelt die Unterschiede zwischen ihr und ihren jüdischen Mitbürgern.“57 Diese Dynamik habe zwar „die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftet„, „einen unschuldigen Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden nahezu unmöglich gemacht“ und „einen jüdischen Typus oder typisch jüdisches Verhalten“ hervorgebracht; dies sei aber relativ harmlos geblieben, weil die Gesellschaft ohnehin in verschiedene Gruppen fragmentiert war, und weil es Gleichheit in Preußen nie gegeben hatte.58 Bestimmend für den „jüdischen Typus“ sind die bereits genannten Figuren des Paria, des Parvenü und des Ausnahmejuden.
Was nun Heinrich Heine betrifft, so war er dem Druck, diesem Typus in der ein oder anderen Ausprägung zu entsprechen, in Deutschland nicht weniger ausgesetzt als alle anderen Juden. Doch Heine entzog sich letztlich dem jüdischen Typus, worin seine eigentliche Rebellion besteht. Um dies besser zu verstehen, sollen im folgenden einige Schlaglichter auf Hannah Arendts Betrachtungen darüber geworfen werden, was Ausnahmejuden zu solchen machte und welcherlei die Dynamik im weiteren gesellschaftlichen Gewebe rund um die Berliner Salons war, dem zentralen lieu von Gesellschaft für nichtjüdische wie jüdische Schriftsteller der Aufklärung des späten 18. und frühen 19 Jahrhunderts — bis hinein in die Romantik, als schließlich antijüdische Organisationen wie die Christlich-deutsche Tischgesellschaft gegründet wurden, die der „gemischten Geselligkeit“ (Arendt) ein Ende bereiteten.
Ausnahmejuden und gewöhnliche Juden
Wahre gesellschaftliche Anerkennung hat es für Juden nie gegeben, so Arendt, und relative Anerkennung war nur über den Preis zu erlangen, dass sich diese Juden „klar als Ausnahmen von den jüdischen Massen abhoben“ — dass sie sich assimilierten, ohne je ganz dazu gehören zu können, denn Gleichheit bzw. Gleichberechtigung blieb ihnen verwehrt. Dabei ist die Unterscheidung zwischen gesellschaftlicher und politischer Gleichberechtigung wesentlich:
Wann immer die Gesellschaft sich einer politisch und beruflich gesicherten jüdischen Gleichberechtigung gegenübersah, hat sie gesellschaftliche Gleichberechtigung gerade verweigert. Sie hat nie Juden, immer nur Ausnahmen des jüdischen Volkes — Ausnahmejuden — die Türen der Salons geöffnet.59
Man war als Ausnahmejüdin vielleicht sogar gesellschaftlich im Kreis des literarischen Salons akzeptiert: doch das bedeutete nicht, dass man außerhalb des Salons gleiche politische Rechte haben durfte. Dabei galt umgekehrt,
daß die Juden, wenn man sie auch ermahnte, sich nicht wie „gewöhnliche Juden“ aufzuführen, nur akzeptiert wurden, weil sie Juden waren.60
Dies galt auch und insbesondere für Juden, die ernsthafte Freundschaften mit Humanisten (wie zum Beispiel Herder oder Goethe) führten, weil Juden besonders geeignet waren, am praktischen Beispiel öffentlicher Zuneigung zu zeigen, „daß alle Menschen Menschen sind„. Und „Juden waren dafür besonders geeignet, gerade weil sie einem verachteten, unterdrückten Volke entstammten.„61
Der demoralisierenden Forderung, sich von dem eigenen Volke zu distanzieren, verband sich die nur verlogen zu realisierende Bedingung, anders und besser als alle anderen zu sein. Und da dies, und nicht die Taufe, eigentlich das Entreebillet zur Gesellschaft bildete, kamen die Juden, so gut sie konnten, beiden Forderungen nach.62
Unter „jahrtausendealter Unerfahrenheit“ mit Politik und „Naivität„, von der sie wiederholt schreibt, ist bei Arendt unter anderem die unpolitische Haltung der Salonteilnehmerinnen gemeint, die trotz oder gerade wegen ihrer erreichten sozialen Stellung nicht politisch wurden:
In den jüdischen Salons vollends, in denen eine Generation später Mendelssohns Tochter, Dorothea Schlegel, Henriette Herz und Rahel Levin (Varnhagen) eine wirklich gemischte Geselligkeit versammelten, war, was an jüdisch-politischem Interesse noch etwa bei der älteren Generation vorhanden gewesen war, völlig erloschen. Sie sind bereits der Meinung, daß jede öffentliche Diskussion der Judenfrage, daß vor allem jede staatliche Maßnahme, welche zwangsweise die gebildeten jüdischen Individuen mit den „rückständigen“ Juden zusammen befreien würde, ihre Situation nur verschlechtern könnte. Je näher solch eine Emanzipation nach dem Sieg Napoleons über Preußen und den einsetzenden preußischen Reformen rückte, desto größer wurde die Anzahl der Täuflinge. Es war, als wollte das gebildete Judentum Preußens seiner Emanzipation in die Taufe entfliehen.63
Die Berliner Aufklärung wäre ohne die Salons überhaupt nicht vorstellbar, und es ist umso bemerkenswerter, dass ein beträchtlicher Teil jener Salons von jüdischen Frauen geführt wurden, die oft mit christlichen Männern verheiratet waren. Die Berliner Aufklärung insgesamt ist nicht ohne die Beteiligung der jüdischen Aufklärung (Haskala) denkbar, deren Begründer in Deutschland und bekanntester Name bis heute Moses Mendelssohn ist, dessen Tochter Dorothea ebenfalls eine prominente Salonnière war, die den Romantiker Friedrich Schlegel heiratete und zuerst zum Protestantismus, dann zum Katholizismus konvertierte. Für die hohe Beteiligung von Jüdinnen und Juden am literarischen und geistigen Leben in Berlin sowie die vielen Mischehen und Konversionen war einerseits der beschriebene Zwang, „besser sein zu müssen“ verantwortlich, andererseits aber auch eine außerjüdische Figuration zwischen Adel und Bürgertum mitbestimmend, wie Arendt schreibt:64
Allgemein ist zu sagen, daß während des ganzen 19. Jahrhunderts die außerordentliche Aversion des europäischen Adels gegen das Bürgertum und seine noch größere Angst vor der politischen Konkurrenz der immer mächtiger werdenden Klasse dem Judentum gewisse Chancen bot. Es war immer noch angenehmer und sicher ungefährlicher, sich mit dem Gelde eines jüdischen Bankiers zu helfen, als einen Schwiegervater aus der Großindustrie zu akzeptieren, der entweder selbst gerne ins Parlament wollte oder dessen Söhne politische Karrieren einzuschlagen wünschten. Vor solchen inopportunen Ambitionen war man bei den Juden sicher.65
Außerdem nennt Arendt einen weiteren Umstand, den Pierre Bourdieu später mit dem Begriff des Habitus und der Wahlverwandtschaften bezeichnen würde — und in demselben Sinn könnte man den Salon als Feld visualisieren66:
Die eigentümliche Intimität aber, das unmittelbare Sichverstehen, die rein persönlichen Freundschaften, welche so unerwarteterweise die Söhne aus adligen Häusern mit den Töchtern des jüdischen Mittelstandes verbanden, hatten nur indirekt mit der Verbreitung der Aufklärung zu tun. Wesentlicher war, daß die persönlichen Probleme dieser gebildeten Juden mit den persönlichen Problemen der jungen, bildungshungrigen preußischen Aristokratie grundsätzlich identisch waren. Beide wollten eine individuelle — und nicht eine politische Emanzipation, und beiden stand als größtes Hindernis der feste Familienverband entgegen, in welchem sie in erster Linie ein Glied der Familie und nur sekundär selbständige Personen waren. Individuelle Assimilation der Juden, individuelle Emanzipation der Adligen bedeutete, aus diesem Familienverband herauszutreten und eine von der Familie unabhängige Person werden.(…) Was diese Menschen miteinander verband, war das rein Persönliche; und die kurze gesellschaftliche Blütezeit in Preußen kam gerade dadurch zustande, daß weder die jüdischen Frauen noch die adligen Männer irgendwelche politischen Ziele hatten. Sie waren beschäftigt mit ihrer persönlichen Entwicklung, ihrer éducation sentimentale, ihrem Bildungsroman.67
Es ist wesentlich für den gesellschaftlichen Stand und das Ansehen der Ausnahmejuden, so Arendt, dass es immer die jüdische Vergleichsgruppe der „gewöhnlichen Juden“ gab, gegen die sich die Ausnahmejuden abgrenzen konnten, um überhaupt als Ausnahmen erscheinen zu können: im Fall Preußens waren das die Posener Juden, in Österreich die galizischen Juden und im französischen Fall die Elsässer Juden, die dort als „gewöhnliche Juden“ den privilegierten Juden Aquitaniens und Avignons gegenüberstanden. Es konnte durchaus im Interesse der privilegierten Ausnahmejudenschaft liegen, dass eine auch rechtliche Zweiteilung in privilegierte und nichtprivilegierte Juden fortbestand: wie Arendt feststellt, hatten die Juden Avignons und Bordeauxs „in den Jahren der Revolution vergeblich gefordert„, dass diese sie selbst privilegierende Unterscheidung gewahrt würde, die schließlich mit Napoleons Décret Infâme (wenn auch entgegen der eigentlichen Zielvorstellung) wiederhergestellt wurde. Dasselbe Jahr war auch für die preußischen Juden entscheidend:
Das gesellschaftliche Judenparadies in Preußen — jene kurze Zeitspanne, da der alte Judenhaß wirklich abgetan und der moderne Antisemitismus noch nicht geboren war, da Antisemitismus wirklich, und nicht nur in den Köpfen der Juden, als eines gebildeten Menschen unwürdig galt — nahm in genau dem gleichen Jahre ein definitives Ende, in welchem das Décret Infâme Napoleons dem politischen Judenparadies in Frankreich ein vorübergehendes Ende bereitete.68
Preußen hatte nach dem Vierten Koalitionskrieg (1806-1807) gegen Napoleon und dem Frieden von Tilsit (1807) erhebliche Gebietsverluste hinzunehmen, besonders im Süden und Osten, wo auch die meisten „gewöhnlichen Juden“ (die Posener Juden) lebten oder von wo die in Städten wie Berlin arbeitende, „gewöhnliche jüdische“ Bevölkerung kam. Im Jahr 1808 (Arendt schreibt 1809) verabschiedete Friedrich Wilhelm III. die Preußische Städteordnung69, die den preußischen Schutzjuden Friedrichs II. die bürgerlichen (nicht aber die politischen) Rechte zusprach, gefolgt vom Emanzipationsdekret im Jahr 1812. Wohlgemerkt betraf die Städteordnung nur die städtisch-jüdische Bevölkerung, die Emanzipation jedoch ganz Preußen, was aber durch die Abwesenheit der Posener Juden nicht ins Gewicht fiel. Hannah Arendt sieht diese Entwicklung im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verlust der Posener Juden, da man so die ohnehin privilegierten und dem Staat nützlichen Juden besser stellen konnte, „ohne die Masse der jüdischen Hausierer und Handwerker zu befreien„; nachdem jedoch Preußen nach dem Wiener Kongress von 1814/15 Posen und einen Großteil der jüdischen Bevölkerung zurückgewann, wurde die Emanzipation sofort wieder aufgehoben und nur die Städteordnung beibehalten.70
Der vorübergehende Wegfall der Posenschen Judenschaft bedeutete für die preußischen Schutzjuden, die bisher nicht mehr als zwanzig Prozent von Preußens Gesamtjudenbestand ausgemacht hatten, daß die breite Kulisse armer und ungebildeter Juden wegfiel, von der sich diese Ausnahmejuden so vorteilhaft abgehoben hatten.71

Die blauen Gebiete auf der Karte zeigen die von Preußen abgetretenen Gebiete, darunter das Gebiet um Posen direkt östlich von Brandenburg und nördlich von Schlesien. Bildquelle und Attribution: O. Meinke / Public domain, URL https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Preussen-1806.jpg
Der neue Antisemitismus der deutschen Romantiker
Die Atmosphäre in Berlin sollte sich dadurch erheblich verändern, denn nun wurden aus Ausnahmejuden wieder „ganz einfach Juden, nicht Ausnahmen, sondern eher Vertreter des verachteten Volkes„72 — mit folgeschweren Auswirkungen bis hinein in die Berliner Salons:
Nach der preußischen Niederlage verließ die Gesellschaft die jüdischen Salons mit einer Plötzlichkeit ohnegleichen. Im Jahr 1808 finden wir sie schon in den Häusern des Beamtenadels und des höheren Mittelstandes. Die Brentano und Arnim und Kleist, ja selbst die ältere Generation der Schlegel und Gentz, werden mehr oder minder antisemitisch, richten ihre Judenverachtung gegen die ihnen bekannten Berliner und nicht mehr gegen die ihnen unbekannten posenschen Juden. Seit der politischen Romantik haben die Gebildeten Deutschlands keine große Diskretion in der Judenfrage mehr gekannt. Ihr Takt wurde bald so schäbig, daß er einer Beleidigung zum Verwechseln ähnlich sah. Keine noch so große Masse von „Ostjuden“ diesseits oder jenseits der deutschen Grenzen hat dem armen Häuflein assimilierter Juden mehr zu einem kollektiven Ausnahmebewußtsein verhelfen können. Von nun ab mußte jeder einzelne beweisen, daß er, obwohl Jude, doch kein — Jude war.73
Heinrich Heines Rebellion gegen die Romantische Schule, seine Spitzen gegen der Romantiker Hinwendung zum Mittelalter — zu einem ganz und gar nicht judenfreundlichen Mittelalter — müssen in diesem Kontext gelesen werden: das Mittelalter und die Mittelalterschwärmerei der Romantiker musste aus der Sicht eines Juden, der Einführung und Zurücknahme der Judenemanzipation erlebt hat, der sich bestens mit den Texten der Aufklärung und des deutschen Idealismus auskannte, als stellvertretende Chiffre für Rücknahme der Emanzipation und Bejahung der Diskriminierung gelesen werden (ausführlicher zum Thema Mittelalter in Kapitel 6).
Hannah Arendt widerspricht sich nicht, wenn sie einerseits zwischen Judenhass und modernem Antisemitismus unterscheidet, um an anderer Stelle zu schreiben, der moderne gesellschaftliche Antisemitismus, „seine Sprache und seine Argumente sind ebenso alt wie die Assimilation„, wie am Beispiel des Textes Wider die Juden des Autors Carl Friedrich Grattenauer aus dem Jahr 180374: es gibt allerdings einen Unterschied in der Verbreitung und Popularität solcher Texte, und diese nahmen laut Arendt ab 1808 zu. Clemens Brentano jedenfalls hat Grattenauers Text in seiner eigenen Schrift Der Philister vor, in und nach der Geschichte perzipiert, wo er Juden und Philister gleichsetzt, und Brentano war außerdem bekannt für seine weiteren antijudaistischen und antisemitischen Ausfälle. Dafür steht insbesondere die deutschtümlerische Mitgliedschaft in der Deutschen Tischgesellschaft (auch: Christlich-deutsche Tischgesellschaft), die eindeutig antijüdisch ausgerichtet war.75

Clemens Brantano. Bildquelle und Attribution: Emilie Linder / Public domain, URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5c/Brentano2.jpg
Dort war auch Achim von Arnim Gründungsmitglied, mit dem zusammen Brentano Des Knaben Wunderhorn herausgegeben hat. Auch er war ein ausgesprochener Antisemit — weshalb es auch erstaunlich ist, dass Heine in der Romantischen Schule darauf überhaupt nicht eingeht, obwohl er Arnim ausführlich bespricht.76 Darin sieht Marco Puschner eine Analogie zu einem lange vorherrschenden, werkimmanenten Literaturverständnis, das Arnims Antisemitismus sowie generell alle politischen Implikationen dichterischer Texte ausgeblendet habe, weil „Dichtung […] nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge„77 zu verstehen sei, sodass Achim von Arnims Antisemitismus „nur als unerfreulicher Appendix, nicht jedoch als inhärenter Bestandteil seines politischen Weltbildes verstanden“ worden sei.78
Doch genau das war bei Arnim und Brentano der Fall, so Arendt, die sich in folgendem Zitat auf Clemens Brentano bezieht:
Wesentlicher ist, daß in diesem gesellschaftlichen Antisemitismus zum ersten Mal die Rede von dem Juden ist, nämlich „von keinem jüdischen Individuo, sondern vom Juden überhaupt, vom Juden überall und nirgends“. Diese und ähnliche Redewendungen von dem Juden als einem Prinzip kehren dann das ganze 19. Jahrhundert lang stereotyp wieder.79
Die Christlich-deutsche Tischgesellschaft, die Achim von Arnim als „Freßgesellschaft“ gründete, war ein
markantes Kontrastprogramm zu jenen „Begegnungsstätten“, die unter der Regie von Rahel Levin und Henriette Herz Berlins kulturelle Blüte um 1800 geprägt hatten. Während in diesen Salons versucht wurde, die politische Benachteiligung der Juden auf gesellschaftlicher Ebene zu kompensieren, ging die Tischgesellschaft gleichsam den umgekehrten Weg: Sie verbannte die Juden just zu jenem Zeitpunkt aus dem Kreise fröhlicher Geselligkeit, als die lange unterdrückte Minderheit auf der politischen Ebene endlich auf eine Verbesserung ihrer Situation spekulieren durfte.80
Es sollte bei dieser Freßgesellschaft durchaus um politische Fragen und um die deutsche Zukunft gehen, weshalb es auch keinen Sinn machen würde, Texte, die dort vorgelesen wurden, nur werkimmanent zu betrachten, und sie nicht als Teil dessen zu verstehen, was die Tischgesellschaft war: ein konkreter Schritt romantischer Schriftsteller wie Brentano und Arnim hinein in die Sphäre der Politik und Weltanschauung, die antisemitisch war. Selbst getaufte Juden waren durch die Satzung der Gesellschaft ausgeschlossen, ebenso wie Frauen und Franzosen. In der Forschung ist umstritten, wie vordergründig Arnim in der Ausschlussklausel war, nachdem er sie einmal als „tadelswerth“ bezeichnet hatte.81 Allerdings hielt Achim von Arnim in der Tischgesellschaft eine Rede mit dem Titel Ueber die Kennzeichen des Judenthums, die laut Marco Puschner „als „frühes Dokument der Erfindung deutscher Identität“(…) und als „schlimmste[r] antisemitische[r] Text der deutschen Romantik„(….) zugleich gelesen werden muß.“82
[Zum nächsten Beitrag 5.3 über Heine HIER klicken]
Fußnoten
57. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140.↩
58. Ebda, S. 139-140.↩
59. Ebda, S. 141-142.↩
60. Ebda, S. 144.↩
61. Ebda, S. 144.↩
62. Ebda, S. 146.↩
63. Ebda, S. 147.↩
64. Allerdings gab es zu Heines Zeiten noch keine Großindustrie, von der Arendt hier schreibt — wohl aber eine aufstrebende Bürgerschaft.↩
65. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 150.↩
66. Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in : Soziale Welt, Sonderband 2. Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198 sowie Ders. (2001): Das politische Feld: zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft.↩
67. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 151.↩
68. Ebda, S. 153.↩
69. Eine gescannte Version des Textes ist online abrufbar: URL: https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que1028.pdf (zuletzt abgerufen am 4.8.2020).↩
70. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 154.↩
71. Ebda, S.154.↩
72. Ebda, S.155.↩
73. Ebda, S.155.↩
74. Arendt geht jedoch vom Erscheinungsjahr 1802 aus, was entweder ein einfacher Fehler ist, oder Gründen geschuldet ist, die sich mir nicht erschließen.↩
75. Genauigkeit mit Jahreszahlen ist allerdings nicht Hannah Arendts größte Stärke. Laut Arendt hat Brentano den Text Der Philister vor, in und nach der Geschichte für die Christlich-deutsche Tischgesellschaft geschrieben. Auch hier irrt sich Arendt jedoch im Datum, denn sie schreibt, im Gegensatz zur breiten Sekundärliteratur zur Tischgesellschaft, dass diese im Jahr 1808 gegründet worden sei; andernorts wird das symbolträchtige Datum des 18.01.1811 als Gründungsdatum angegeben, welches auch der Krönungstag der preußischen Monarchie war. Es ist dokumentiert, dass Brentano im März 1811 seinen antijüdischen Text als Tischrede vorgelesen und anschließend in einer Auflgae von 200 Exemplaren hat drucken lassen. In jedem Fall liegt die Gründung der Tischgesellschaft jedoch nach den Verlusten gegen Frankreich. Günter Oesterle, der sich mit dem Antisemitismus der Tischreden befasst hat, stellt fest, dass es stets im Zuge politischer oder kriegerischer Krisen zu einer Verschärfung der Angriffe gegen Juden gekommen sei. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S.155 sowie Oesterle, Günter: Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik, in: Athenäum — Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, Heft 02/1992, online zugänglich über den edoc-Server der HU Berlin, URL: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/6222?show=full (zuletzt abgerufen am 5.8.2020).↩
76. Er bespricht ihn in seiner typischen ambivalenten Haltung, die den Leser zuerst zu überzeugen scheint, dass Heine von Arnim mit tiefer Unsympathie gegenüber steht, wenn er schreibt: „Er war kein Dichter des Lebens, sondern des Todes„, um ihn dann für die „Arnimsche Grazie“ zu loben, die „wie das Lächeln eines Kindes“ sei. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 116 ff.↩
77. Puschner, Marco (2008): Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 227.↩
78. Ebda, S. 231.↩
79. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 157.↩
80. Puschner, Marco (2008): Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik, S. 272-273.↩
81. Ebda S. 273-274.↩
82. Ebda, S. 283.↩
Heine und die Romantiker: Ressentiment oder Rebellion?
Hannah Arendt hatte für ihr Varnhagen-Buch ursprünglich den Titel „Die Melodie eines beleidigten Herzens, nachgepfiffen mit Variationen von Hannah Arendt“ vorgeschlagen, der sich jedoch weder bei ihrem deutschen Verleger Klaus Piper durchsetzen ließ, noch in der englischen Übersetzung wiederfindet.83 Die Bezeichnung des „beleidigten Herzens“ erscheint insofern als passend, als Rahel Varnhagen vor dem im letzten Kapitel beschriebenen Hintergrund des „antisemitic turn“ in Deutschland mit ihrem Versuch, „dem Judentum zu entkommen„, scheitern musste: „Rahel Levin, mit ihrem Mut zur Wahrheit, scheiterte an einer Gesellschaft, in der man nur Mensch sein konnte, wenn man nicht mehr Jude war.„84 Bemerkenswerterweise sei ihr Heinrich Heines Rebellion zum Trost geworden:
Und wenn es die Ironie ihres Lebens war, daß sie mit genau den geistigen, gesellschaftlichen und psychologischen Mitteln, durch die sie versuchte, dem Judentum zu entkommen, eine jüdische Tradition gestiftet hat, so ist es doch die einmalige Rechtschaffenheit und große Ursprünglichkeit ihrer Person, die es ihr, als einziger unter ihren Altersgenossen, ermöglichte, schließlich als bewußte Jüdin zu sterben, (…) versöhnt mit ihrem Schicksal und getröstet in der Erkenntnis, daß Heines Rebellion gegen die Gesellschaft und das fröhlich-unbekümmerte Pariatum der „Traumweltherrscher“ (Heine) ihr Andenken bewahren würde.85
Wie Arendt weiter über Heine schreibt, habe sich dieser also für das Dasein als rebellischer Paria entschieden, und somit gegen quietistische Parvenühaftigkeit — auch, weil er es sich leisten konnte, da er sich auf die Unterstützung seines Onkels verlassen konnte. Sein Jüdischsein interpretiert sie gleichzeitig wie eine Legitimation seiner Rebellion:
Nun, Salomon Maimon wußte, daß er ein Paria war, und Heinrich Heine wäre nie aus der Reihe der mittleren Talente, welche das deutsche Judentum damals wie später zu Dutzenden produzierte, herausgetreten, um fast ein Dichter und sicherlich einer der großen deutschen Schriftsteller zu werden, wenn er nicht von Anbeginn an dem „Zufall seiner Geburt“ festgehalten hätte. Während die von ihm und Börne so bitter verhöhnten „Geldjuden“ sich in die hohe und höchste Politik mischten, obwohl sie sich heimlich als Juden dazu nicht berechtigt fühlten, sagten die großen Rebellen des 19. Jahrhunderts ihr Wort zu allen Angelegenheiten ihrer Zeit, weil sie Juden waren, weil sie die große Legitimation der Unterdrückung vorweisen konnten.86
Wie aus diesem Zitat hervorgeht, scheint Arendt der Rebellion Heines nicht eindeutig enthusiastisch gegenüberzustehen. Da es Arendt immer darum ging, politisch zu denken, ist dies wenig überraschend, denn sie deutet die „Fremdheit der jüdischen Individuen, auf die sie so stolz waren„, als nicht stärker politisch denn die Annahme des Schicksals durch den durchschnittlichen Juden, der auch keine große Wahl gehabt habe; sie fasste dies als „nur die ins individuell Psychologische gespiegelte Judenfrage“ auf, und befindet, es sei
schwer, auszumachen, wem diese psychologische Spiegelung mehr geschadet hat — einer vernünftigen Diskussion und Lösung des politischen Problems oder den jüdischen Individuen selbst. Ein politischer Konflikt kann nur entstellt werden, wenn er als seelischer gelöst wird; und die Seelen von Menschen werden sehr merkwürdige Gebilde, wenn Politik zum Erlebnis und öffentliche Wirklichkeit zu privatem Gefühl werden87
Es stellt sich freilich die Frage, ob denn Heine und Börne die Wahl gehabt hätten, sich anders zu entscheiden, als ihre Rebellen-Paria-Rolle anzunehmen, was allerdings mit dem Preis einherging, Deutschland zu verlassen und nach Frankreich zu gehen. Heine war ein Schriftsteller, der unter der Zensur enorm litt — und was wollte ein Schriftsteller anderes machen, als zu schreiben? Umso verständlicher wird dieser eigentliche Zwang, Deutschland zu verlassen — Zwang, da es oft hieß, Heines Exil sei selbst gewählt gewesen — an der zugespitzten Polemik, mit der Heine die Entwicklungen in Deutschland angriff und oft genug aufs Korn nahm. In diesem komplexen Sinne wäre es außerdem falsch, Heinrich Heine aufgrund seiner Außenseiterposition und seiner oft stark zugespitzten Polemik gegen die Romantische Schule, Deutschland und die Figur der Deutschen als deutschlandfeindlich misszuverstehen.
Bereits in der knappen Vorrede der Romantischen Schule wird Heines ambivalentes Verhältnis zu Deutschland deutlich: dieses nennt er zwar wiederholt „Vaterland„, spricht von „unserer Literatur„, empfiehlt aber gleichzeitig „das Heil des Vaterlandes und die schutzlosen Gedanken seiner Schriftsteller (…) dem Mitleid der ewigen Götter„88 an. Einer der Hauptgründe für Heines Hang zur Satire und zur Polemik waren seine immer wieder gemachten Erfahrungen des Ausschlusses, und am konkretesten wiederfährt im dieser Ausschluss als Schriftsteller — freilich zusammen mit Antijudaismus und Antisemitismus — in der ständigen Zensur. Wie Heine in der Vorrede der Romantischen Schule weiter schreibt, seien seine vorangegangen Versuche, diesen und andere Texte, unter anderem Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, auf Deutsch in Deutschland zu veröffentlichen von seinem „Herrn Verleger (…) eigenmächtig verstümmelt“ worden.89
Sein Blick auf Deutschland — aus Frankreich — ist ein bedauernder, zuweilen melancholischer und nostalgischer, wie in seinem Gedicht In der Fremde deutlich zum Ausdruck gebracht. In diesem Gedicht verwendet er bereits die immer wieder bemühten Metaphern der Eiche, auf die ich noch ausführlicher zurückkomme, sowie des bereits genannten Veilchens:
Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.
Das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum Wie gut es klang)
das Wort: „Ich liebe dich!“
Es war ein Traum.90
Das Deutschland, welches Heine bedauert und kritisiert, ist jenes der Romantiker, und als zentrale Figuren dieses Deutschlands der Romantiker treten für ihn „die Schlegeln“ auf– nämlich die Brüder Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel, letzterer sein ehemaliger Hochschullehrer aus Bonn. Über beide schreibt er das ganze Buch Die Romantische Schule hindurch in mehr oder weniger „klirrender Ironie„.91 „Die Schlegeln“ erscheinen dem Leser einerseits wie die beiden realen Personen, andererseits wirken sie synekdochisch, wie als Kollektivum, für die Romantiker insgesamt; und natürlich stellt sich hier die Frage, an welchen Stellen bei Heine die Grenzen zwischen Rebellion und Ressentiment gegen dem alten Lehrer verwischen und überlappen.
Allerdings ist es typisch für Heine, dass er auch die Meriten der ständig kritisierten Schlegeln hervorkehrt, wenn auch in der für ihn so typischen Ambivalenz und Ironie: so räumt er ein, dass Friedrich Schlegels Sanskrit-Studien „rühmlichste Erwähnung verdienen„, weil sie das Sanskrit Studium in Deutschland überhaupt erst etabliert hätten. Nach kurzem Verriss des Eigenlobs des „jüngeren Schlegels“ aber moniert er die Motivation beider, denn „[i]m ‚Mahabharata‘ und im ‚Ramayana‘ sahen sie gleichsam ein Elefanten-Mittelalter“ — sie hätten sich gar nicht bloß für die indischen Mysterien interessiert, sondern in diesen die „katholische Hierarchie“ und altbekannte Themen der eigenen Vorstellungswelt in anderem Gewand erblicken wollen.92 Mit dem „Elefanten-Mittelalter“ und der „katholischen Hierarchie“ sind auch schon die zentralen Allergene genannt, die Heine zu seinem zugespitztesten Spott treiben und Gegenstand des nächsten Kapitels sind.
Ebenso verhält es sich mit der Kritikunfähigkeit, die sich durch die Zensur äußert. Die Anhängerschaft der Schlegeln rückt er in die Nähe obrigkeitshöriger, sensationslüstiger und unkritischer Jasager:
Überhaupt kann man in Deutschland auf das Mitleid und die Tränendrüsen der großen Menge rechnen, wenn man in einer Polemik tüchtig mißhandelt wird. Die Deutschen gleichen dann jenen alten Weibern, die nie versäumen einer Exekution zuzusehen, die sich da als die neugierigsten Zuschauer vorandrängen, beim Anblick des armen Sünders und seiner Leiden aufs bitterste jammern und ihn sogar verteidigen. Diese Klageweiber, die bei literarischen Exekutionen so jammervoll sich gebärden, würden aber sehr verdrießlich sein, wenn der arme Sünder, dessen Auspeitschung sie eben erwarteten, plötzlich begnadigt würde und sie sich, ohne etwas gesehen zu haben, wieder nach Hause trollen müssten.93
Versetzt man sich in die Lage Heines Zeitgenossen, die von ihm geschmäht wurden, so wird immerhin nachvollziehbar, weshalb er zu Lebzeiten so häufig aneckte — wenn auch damit keine Zensur zu rechtfertigen sein soll. Ein besonders spitziger Hieb gegen die Schlegeln — und besonders gegen August Wilhelm Schlegel, der zu diesem Zeitpunkt im Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich noch am Leben war und gar keinen Gefallen an Heines Schriften gefunden haben dürfte — findet sich in der Romantischen Schule an dieser Stelle:
Wurde nun die romantische Schule, durch die Enthüllung der katholischen Umtriebe, in der öffentlichen Meinung zugrunde gerichtet, so erlitt sie gleichzeitig in ihrem eigenen Tempel einen vernichtenden Einspruch, und zwar aus dem Munde eines jener Götter, die sie selbst dort aufgestellt. Nämlich Wolfgang Goethe trat von seinem Postamente herab und sprach das Verdammnisurteil über die Herren Schlegel, über diesen Oberpriester, die ihn mit so viel Weihrauch umduftet. Diese Stimme vernichtete den ganzen Spuk; die Gespenster des Mittelalters entflohen; die Eulen verkrochen sich wieder in die obskuren Burgtrümmer; die Raben flatterten wieder nach ihren alten Kirchtürmen; Friedrich Schlegel ging nach Wien wo er täglich Messe hörte und gebratene Hähndel aß; Herr August Wilhelm Schlegel zog sich zurück in die Pagode des Brahma.94
Polemik und Satire sind in diesem Sinne bei Heine besonders als literarisches Mittel des sich zur Wehr setzens und der Rebellion zu verstehen, da Heine die Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, klar erkennt und benennt und gar nicht willens ist, als Parvenü durch immer weiter betriebene, doch immer weiter scheitern müssende Assimilation hinzunehmen. Sein Weg ist der Weg des bewussten Paria, und er führt ihn nach Frankreich, genauer gesagt nach Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“.95 Um die erweiterte Figuration Deutschland, Heinrich Heine und Frankreich soll es im nächsten Kapitel gehen.

Fußnoten
83. An dieser Stelle sei auf die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Varnhagen Buches hingewiesen (ausführlicher im Arendt-Handbuch): Rahel Varnhagen war das letzte Buch, das Arendt zuerst auf ihrer Muttersprache Deutsch schrieb und dann hat ins Englische übersetzen lassen, ohne es noch einmal selbst neu zu schreiben. Dabei ist bis zur dritten englischen Ausgabe von 1997 in den USA untergegangen bzw. ignoriert worden, dass die zwischendurch verschollene Sammlung Varnhagen mit Originaldokumenten wie Briefen von Rahel Levin Varnhagen persönlich in den 1980er Jahren in der Krakauer Biblioteka Jagiellionska unbeschadet wieder aufgetaucht ist. Da Historikerinnen immer wieder Arendts Ergebnisse kritisiert haben, ist dies keine unerhebliche Information, denn in der deutschen Fassung der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in der 9. Auflage von 2003, auf die ich mich beziehe, ist diese wieder geschlossene Lücke in Arendts Quellenbezug ebensowenig überarbeitet worden: so bezieht sich Arendt auf einen Brief mit einem Varnhagen-Zitat aus dem Varnhagen-Archiv der Handschriften-Abteilung der Preußischen Staatsbibliothek, „das inzwischen verschollen ist“. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 148-149. Weitere Einzelheiten zur Publikationsgeschichte des Varnhagen-Buches in Heuer, Wolfgang / Heiter, Bernd / Rosenmüller, Stefanie (Hg.)(2011): Arendt Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 23.↩
84. Heuer, Wolfgang / Heiter, Bernd / Rosenmüller, Stefanie (Hg.)(2011): Arendt Handbuch, S. 24.↩
85. Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 153. Arendt zitiert an dieser Stelle aus einem Text Rahel Varnhagens auf dem Sterbebett, in dessen letztem Satz sie schreibt: „Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht‘ ich das jetzt missen.“, zit. nach Ebda.↩
86. Ebda, S. 167.↩
87. Ebda, S. 168.↩
88. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 7.↩
89. Ebda, S. 7.↩
90. Heine, Heinrich: Neue Gedichte, in: Düsseldorfer Heine Ausgabe (DHA), Bd. 2, S. 9 ff., URL: http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/Projekte/HHP/werke/baende/D02/index_html?widthgiven=30 (zuletzt abgerufen am 6.8.2020).↩
91. August Wilhelm Schlegel: Cheftheoretiker der Romantiker, in: DLF vom 5.9.2017, URL: https://www.deutschlandfunk.de/august-wilhelm-schlegel-cheftheoretiker-der-romantiker.871.de.html?dram:article_id=395002 (zuletzt abgerufen am 3.8.2020).↩
92. Heine, Heinrich (1995 [1835]): Die Romantische Schule, S. 63-63.↩
93. Ebda, S. 38-39.↩
94. Ebda, S. 40.↩
95. Hannah Arendt zitiert ihren Freund Walter Benjamin mit dieser Bezeichnung, Arendt, Hannah (2003): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 190.↩
Uneigentlicher Wald: Heines Metapherngebrauch
Wie im letzten Kapitel anhand des Figurationsmodells (Abb. unten) skizziert, spielen Frankreich und das deutsch-französische Verhältnis in Heinrich Heines Schriften eine zentrale Rolle. Dies gilt besonders für den hier analysierten Text Die Romantische Schule, der sowohl mit einer französischen, als auch mit einer deutschen Leserschaft korrespondiert. Frankreich und Deutschland stehen schon aus autobiographischen Gründen der Selbstpositionierung als ausländischer Schriftsteller im Zentrum Heines Auseinandersetzung, was neben der Romantischen Schule ganz besonders auch für die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland97 sowie für die Denkschrift Ludwig Börne98 gilt: alle drei Bücher sind in Heines frühen Pariser Jahren entstanden, als er sich in Frankreich etablieren musste.

Zur deutsch-französischen Figuration gehören die aus seiner Sicht geradezu einander entgegengesetzten, gesellschaftspolitischen, ideologischen, religiösen, literarischen aber auch ästhetisch-stilistischen Trends beider Länder. Diese müssen unbedingt miteinbezogen werden, um die von Heine verwendeten Metaphern zu analysieren, die ich hier in der Überschrift auf die Formel des uneigentlichen Waldes heruntergebrochen habe: unter uneigentlich ist hier übertragen bzw. metaphorisch gemeint, wie in der einleitenden Zusammenfassung der Grundannahmen der Metaphernnanalyse sowie der Theorien des Fremdverstehens dargestellt (vgl. Kap. 1-3). Besonders uneigentlich an Heines Sprache ist dabei natürlich die Mastertrope der Ironie, die ohne Einbeziehung des weiteren Kontexts am allerwenigsten verständlich wäre: „besonders uneigentlich“, weil es sich bei der Ironie um doppelt übertragene Sprache, um eine „doppelte Wendung“ handelt.
Hier ist eine Paranthese zum nächsten Kapitel 8 nötig, wo schließlich umweltgeschichtliche Aspekte der eigentlichen Natur, der eigentlichen Eichen, des eigentlichen „Walddunkels“ usw. behandelt werden — um die es in diesem Kapitel jedoch noch nicht geht: wenn Heine in seinen sprachlichen Betrachtungen über die Romantiker in ironischem Duktus Wald- und andere Metaphern verwendet, so persifliert er schließlich eine bereits vorher verwendete, jedoch in anderer (nicht-ironischer) Absicht gewählte, metaphorische Sprache; dies ist auch der Grund, warum ich bei seiner Ironie von doppelter Übertragung spreche. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: wenn Heine davon schreibt, dass Vertreter des Katholizismus ihr „mißratenes Haupt“ „aus dem Walddunkel der deutschen Literatur gestreckt“ hätten, so produziert nicht er primär die Figur des „Walddunkels„, sondern gibt sie verzerrt und über Ironie verächtlich gemacht wieder.
Das Ziel dieses Kapitels besteht zunächst darin, zur Ebene der primären Übertragung durchzudringen, also eine Rückübersetzung zur mittleren Übersetzungsebene zu leisten: gemeint ist die Ebene der Metaphern der Romantiker, welche Heine über die Trope der Ironie persifliert; erst im nächsten Kapitel sollen die Gründe ermittelt werden, weshalb Anfang des 19. Jahrhunderts überhaupt ein so starker Gebrauch von Wald- und Vegetationsmetaphern zu beobachten ist. Wie zu sehen sein wird, sind diese Gründe nicht allein auf der Ebene des ästhetischen Geschmacks, sondern durchaus auch in der eigentlichen, dinglichen und naturräumlichen Sphäre zu finden, nämlich auf der Ebene des eigentlichen Waldes, der Entwaldung und der vorindustriellen Holznot.
Auf der Ebene der Ironie und Persiflage geht es Heine (zumindest in der Romantischen Schule) allenfalls indirekt um den „eigentlichen Wald“, „eigentliche Eichen“, um „eigentliche, schöne Blumen“ und-so-eigentlich-fort: seine uneigentlichen Tropen werden von ihm immer (ob direkt oder indirekt) zusammen mit den im Figurationsmodell aufgeführten Themen Frankreich, Protestantismus, Katholizismus, Mittelalterkult, Judentum, Ausgeschlossensein etc. bemüht. Um dies zu demonstrieren, habe ich die von Heine verwendeten Metaphern fragmentiert, wobei ich Vegetations- und Tiermetaphern besonders fokussiert habe. Darunter finden sich zum Beispiel die Passionsblume, das Walddunkel, die dunklen Wälder und der junge Wald, die schöne Blume, die Schlange, der große Baum, die alte Zaubereiche, die Wipfel der Bäume und die hundertjährige Eiche. Ferner tauchen Raben, Gespenster und Hexen, Larven sowie Bärenhäuter und Golems auf.
Heine stellt sich neu auf: Umzug nach Frankreich
Heine war sich darüber im Klaren, dass der Umzug nach Frankreich allein aus sprachlichen Gründen nicht zuträglich für seine dichterischen Tätigkeit sein würde.99 Deshalb hat er sich stärker auf politische, kultur- und literaturkritische Schriften verlagert — man würde aus heutiger sagen: auf den Feuilleton. Nichts war da naheliegender, als den Franzosen Deutschland zu erklären und sich für die grenzüberschreitende Verständigung einzusetzen:
Ich werde (…) alles Mögliche thun, um den Franzosen das geistige Leben der Deutschen bekannt zu machen; dieses ist meine jetzige Lebensaufgabe, und ich habe vielleicht überhaupt die pacifike Mission, die Völker einander näher zu bringen. Das aber fürchten die Aristokraten am meisten; mit der Zerstörung der nationalen Vorurtheile, mit der Vernichtung der patriotischen Engsinnigkeit schwindet ihr bestes Hülfsmittel der Unterdrückung.100
Doch er war andererseits auch nicht der erste mit dem Ansinnen, den Franzosen Deutschland zu erklären. Das Deutschlandbild in Frankreich war nach Heines Ansicht durch Madame de Staëls als germanophil geltendes Buch De l’Allemagne (Über Deutschland) von 1810 geprägt.101 De l’Allemagne hat Heinrich Heine mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Seine Kritik war dabei aber nicht nur inhaltlicher Art, sondern setzt ganz zu Beginn der Romantischen Schule bei seiner auch persönlichen Unverträglichkeit mit prominenten Romantikern an — und zwar ganz besonders hinsichtlich August Wilhelm Schlegels:
(…) aber in dem Getöse der verschiedensten Stimmen, die aus diesem Buch hervorschreien, hört man doch immer am vernehmlichsten den feinen Diskant des Herrn A.W. Schlegel. Wo sie ganz selbst ist, wo die großfühlende Frau sich unmittelbar ausspricht mit ihrem ganzen strahlenden Herzen, mit dem ganzen Feuerwerk ihrer Geistesraketen und brillanten Tollheiten: da ist das Buch gut und vortrefflich. Sobald sie aber fremden Einflüsterungen gehorcht, sobald sie einer Schule huldigt, deren Wesen ihr ganz fremd und unbegreifbar ist, sobald sie durch die Anpreisung dieser Schule gewisse ultramontane Tendenzen befördert, die mit ihrer protestantischen Klarheit in direktem Widerspruche sind: da ist ihr Buch kläglich und ungenießbar.102
Dies ist natürlich überhaupt nicht überraschend, denn Madame de Staël war mit Schlegel durch Deutschland gereist und führte eine intensive Beziehung zu Heines früherem Lehrer aus Bonn. An anderer Stelle beklagt er sich über die Arroganz des August Wilhelm Schlegel, nachdem er ihn zuvor schon mit einem Violinspieler verglichen hatte, der gar nichts könne:
Sein Refrain war immer, daß die Franzosen das prosaischste Volk der Welt seien und daß es in Frankreich gar keine Poesie gäbe. Dieses sagte der Mann zu einer Zeit, als vor seinen Augen noch so mancher Chorführer der Konvention, der großen Titanentragödie, leibhaftig umherwandelte; zu einer Zeit, als Napoleon jeden Tag ein gutes Epos improvisierte, als Paris wimmelte von Helden, Königen und Göttern… Herr Schlegel hat jedoch von dem allen nichts gesehen; wenn er hier war, sah er sich selber beständig im Spiegel, und da ist es wohl erklärlich, daß er in Frankreich gar keine Poesie sah.103
Deutscher Idealismus, französischer Materialismus und die Frage der Religion
Der markanteste Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, der sich bis heute in Gestalt des französischen Laizismus und des deutschen Konkordats als historisch gewachsene Gesellschaftsverträge ausmachen lässt, besteht bei Heine im Gegensatz zwischen (französischem) Materialismus und (deutschem) Idealismus. Für Deutschland führt er diese Tendenz besonders auf den Einfluss der späten Philosophie Schellings, noch stärker aber auf den Idealismus Fichtes zurück (auf beide geht er unter Geschichte der Religion und Philosophie gesondert ein):
Der frühere Schelling war ein kühner Protestant, der gegen den Fichteschen Idealismus protestierte. Dieser Idealismus war ein sonderbares System, das besonders einem Franzosen befremdlich sein muß. Denn während in Frankreich eine Philosophie aufkam, die den Geist gleichsam verkörperte, die den Geist nur als eine Modifikation der Materie anerkannte, erhob sich in Deutschland eine Philosophie, die, ganz im Gegenteil, nur den Geist als etwas Wirkliches annahm, die alle Materie nur für eine Modifikation des Geistes erklärte, die sogar die Existenz der Materie leugnete. Es schien fast, der Geist habe jenseits des Rheines Rache gesucht für die Beleidigung, die ihm diesseits des Rheines widerfahren. Als man den Geist in Frankreich leugnete, da emigrierte er gleichsam nach Deutschland und leugnete dort die Materie.104
An dieser Stelle spricht aus Heine der überzeugte Anhänger der Aufklärung und des Humanismus, welche in der Tradition der Renaissance stehen. Die Renaissance wiederum markiert als historische Wende nicht nur das Ende des Mittelalters: sie bedeutet auch den „Sieg“ des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit, in dem sich die beiden Strömungen des Realismus und des Nominalismus gegenüberstanden. Die Hinwendung der Romantiker zur „entsetzlichsten Religionsschwärmerei“ und zum mystischen „Supernaturalismus“ muss Heine da wie purer Rückschritt erscheinen.105
Es muss bedacht werden, dass im 19. Jahrhundert Frankreich, die französische Kultur und Sprache äußerst prestigeträchtig in Deutschland waren. Paris galt als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und damit als Inbegriff des Fortschritts, woher auch ein beträchtlicher Teil der Gallizismen in der deutschen und anderen Sprachen rührt. In Frankreich blickte man entweder gleichgültig oder mit offener Verachtung und Herablassung auf Deutschland und alle anderen europäischen Nachbarn. Nina Bodenheim zitiert in ihrer veröffentlichen Dissertation über Heines Verhältnis zum Saint-Simonismus dieses Phänomen ausführlich mit den Worten Roland Motiers:
(…) Voltaires und Diderots Zeitgenossen verspürten für die anderen Länder nur höfliche Gleichgültigkeit, nachsichtige Herablassung oder geringschätzende Ironie. Deutschland leidet ganz besonders unter diesen Stereotypen (…). Die deutsche Wissenschaft wird für plump gehalten, im Schullatein versunken. Man verurteilt die deutsche Sprache als unverständlich wegen der aufeinanderfolgenden Konsonanten und ihrer verwirrenden Syntax. Im besten Falle beklagt man ihre Rohheit (…). Es liegt auf der Hand (…), dass die Franzosen kein Bedürfnis nach einer anderen Sprache haben, während die Ausländer eher ihre eigene Sprache als ihr Französisch vergäßen.106
Die Figur „der Deutschen“ als Antithese zu „den Franzosen“
Frankreich und die Franzosen werden bei Heine stark idealisiert dargestellt, während er die Deutschen und Deutschland schaurig darstellt. Frankreich tauge laut Heine zum Beispiel nicht zu wahren Schauergeschichten — ganz im Gegenteil zu Deutschland, was er am Beispiel Achim von Arnims erkennen will:
Eine Übersetzung der erwähnten Novelle, „Isabella von Ägypten“, würde den Franzosen nicht bloß eine Idee von Arnims Schriften geben, sondern auch zeigen, daß all die furchtbaren, unheimlichen, grausigen und gespenstischen Geschichten, die sie sich in der letzten Zeit gar mühsam abgequält, in Vergleichung mit Arnimschen Dichtungen, nur rosige Morgenträume einer Operntänzerin zu sein scheinen. In sämtlichen französischen Schauergeschichten ist nicht so viel Unheimliches zusammengepackt wie in jener Kutsche, die Arnim von Brake nach Brüssel fahren lässt (…).107
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Arnims Novelle „Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste große Jugendliebe“ ausführlicher zu beschreiben. Es ist festzuhalten, dass ein „Zigeunermädchen“ (Isabella) und ihr „Volk aus Ägypten“ darin im Mittelpunkt stehen, wobei Isabella letzteres zurück ins „Ägyptenland“ führen will. Isabella tritt zusammen mit Figuren auf, die auch in den Grimmschen Märchen, in Volkssagen und okkulten Erzählungen auftauchen. Neben dem später noch genannten Golem ist dies ein Alraun-Männchen, welches der Sage nach unter dem Galgen als Alraunewurzel aus dem Sperma der Hingerichteten erwächst (Heine nennt die Alraune in der Romantischen Schule beim französischen Namen Mandragora). Auch der „Bärnhäuter“ und der Zauberschlag tauchen auf — allesamt also „schaurige“ Momente.
Ihr Franzosen solltet doch endlich einsehen, daß das Grauenhafte nicht euer Fach, und daß Frankreich kein geeigneter Boden für Gespenster jener Art. Wenn ihr Gespenster beschwört, müssen wir lachen.108
Heine macht dies zwar nicht explizit, doch der „Wurzelburzius“ (das Alraunmännchen) reißt sich am Ende der Novelle in Stücke, wodurch er an die Märchenfigur des Rumpelstilzchen erinnert. Das Rumpelstilzchen transportiert damals gängige, antijudaistische Stereotypen, wie bereits durch seine Neigung zum ritualisierten Kinderraub und -Mord deutlich wird. Auch muss Heine Arnims Analogieherstellung zwischen den verfolgten Juden und dem verfolgten Volk Isabellas aufgefallen sein: „Die Zigeuner waren damals in der Verfolgung, welche die vertriebenen Juden ihnen zuzogen, die sich für Zigeuner ausgaben (…)“.(FN Arnim einfügen) Im Wort „Gespenst“ selbst liege laut Heine
(…) so viel Einsames, Mürrisches, Deutsches, Schweigendes, und in dem Worte „Französisch“ liegt hingegen so viel Geselliges, Artiges, Französisches, Schwatzendes!109
In der Figur des Gespenstischen, Untoten, eigentlich überwunden zu Habenden steckt — das Mittelalter. Heine verwendet die Metapher der „Gespenster des Mittelalters“ zur Umschreibung der „katholischen Umtriebe“110 in Deutschland und für den sich ausbreitenden Ultramontanismus, also den durch die Romantiker (direkt oder indirekt) unterfütterten politischen Katholizismus. Das Gespenstische, Mittelalterliche und Katholische stehen in Heines Weltbild für Deutschland — und Frankreich steht für das Gegenteil:
Ich bin überzeugt, die Gespenster würden sich hier in Paris weit mehr amüsieren als bei uns die Lebenden. Was mich betrifft, wüßte ich, daß man solcherweise in Paris als Gespenst existieren könnte, ich würde den Tod nicht mehr fürchten.111
„Die Franzosen“ erscheinen bei Heine geradezu als genaue Antithese der Figur „der Deutschen“. Es hat sich mir nicht erschlossen, wie Heine auf die Figur der Metamorphose kommt, die er in der Gegenüberstellung von Deutschen und Franzosen als jeweils metamorphe Larven bemüht — wenn auch von grundsätzlich unterschiedlichem Wesen:
Es sind ernsthafte, furchtbare Larven, aber durch die Augenluken schauen fröhliche Kinderaugen. Wir Deutschen hingegen tragen zuweilen die freundlich jugendlichsten Larven, und aus den Augen lauscht der greise Tod. Ihr seid ein zierliches, liebenswürdiges, vernünftiges und lebendiges Volk, und nur das Schöne und Edle und Menschliche liegt im Bereich eurer Kunst.112
An dieser Stelle tauchen die genannten Arnim’schen Figuren der Hexe, des Bärenhäuters, des Golems und auch des Feldmarschalls Cornelius Nepos auf — auch letzterer ist eine Figur aus Arnims „Isabella von Ägypten„, obwohl es ihn auch als historische römische Persönlichkeit um die Zeitenwende gegeben hat:
Deutschland ist ein gedeihlicheres Land für alte Hexen, tote Bärenhäuter, Golems jedes Geschlechts und besonders für Feldmarschälle wie der kleine Cornelius Nepos. Nur jenseits des Rheins können solche Gespenster gedeihen; nimmermehr in Frankreich.113
Das Wort „Golem“ ist den meisten heutigen Deutschsprecherinnen nicht mehr bekannt, in ihm steckt aber, wie im südslawischen golemo, die Bedeutung „riesig“, aber auch grob, ungebildet und ungeschlacht. Heine schreibt hier „jedes Geschlechts“, was zwar eine noch subtilere Anspielung sein kann, die sich mir nicht erschließt; in jedem Fall aber ist es eine Replik der Figur der Golem Isabella aus Arnims Novelle, denn Arnim stellt der „echten“ Isabella einen Avatar aus Erde zur Seite, die letztlich zerstört wird. Auch hier ist das antijudaistische Sentiment Arnims nicht zu übersehen — bedenkt man, dass das Wort und die Figur des Golem aus dem Hebräischen und der jüdischen Mystik kommen.
Die Deutschen seien im Vergleich zu den Franzosen politisch ins Hintertreffen geraten, und zwar seit fünfzig Jahren, womit er sich natürlich auf die Revolution von 1789 bezieht. Dies spiegle sich auch am Beispiel der Literatur:
Man kann nämlich unsere neueste deutsche Literatur nicht besprechen, ohne ins tiefste Gebiet der Politik zu geraten. (…) Ihr Franzosen seid während fünfzig Jahren beständig auf den Beinen gewesen und seid jetzt müde; wir Deutsche hingegen haben bis jetzt am Studiertische gesessen, und haben alte Klassiker kommentiert, und möchten uns jetzt einige Bewegung machen.114

Frankreichs Abkehr von Mittelalter und Katholizismus
Frankreich habe sich, ganz im Gegensatz zum mittelalterverliebten Deutschland — wo scharenweise Schriftsteller zum Katholizismus konvertierten, wo romantische Schwärmerei und Neogotik Hochkonjunktur hatten — bereits im achtzehnten Jahrhundert vom Katholizismus befreit:
Das achtzehnte Jahrhundert hat den Katholizismus in Frankreich so gründlich ekrasiert, daß fast gar keine lebende Spur davon übriggeblieben, und daß derjenige, welcher den Katholizismus in Frankreich wiederherstellen will, gleichsam eine ganz neue Religion predigt.116
Diese Behauptung ist freilich eine Übertreibung: schon kurz nach der Julirevolution, im Jahr 1836, taucht in Frankreich die Phrase „France, fille aînée de l’Église“ („Frankreich, der Kirche älteste Tochter“) auf, und der Ultramontanismus wird auch in Frankreich für den Rest des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Faktor bleiben. Doch Heine übernimmt hier ganz überzeugt und entschieden das zentralistische Selbstbild „seines“ Frankreichs, wonach das unumstrittene Zentrum des Landes Paris ist. Er räumt seine relative Unkenntnis der französischen Provinz außerhalb Paris’ ein, wo es womöglich gläubige Katholiken gebe; doch „was die Provinz denkt“ sei seiner Meinung nach eine „gleichgültige Sache“, und er könne sich vorstellen, dass es dort Frauen gebe, die, je weiter entfernt sie von der Hauptstadt lebten, umso katholischer seien — und zwar, um Trost dafür zu finden, eben nicht in Paris leben zu dürfen.117
In Paris selbst hat das Christentum seit der Revolution nicht mehr existiert, und schon früher hatte es hier alle reelle Bedeutung verloren. In einem abgelegenen Kirchwinkel lag es lauernd, das Christentum, wie eine Spinne, und sprang dann und wann hastig hervor, wenn es ein Kind in der Wiege oder einen Greis im Sarge erhaschen konnte. Ja, nur zwei Perioden, wenn er eben zur Welt kam oder wenn er eben die Welt wieder verließ, geriet der Franzose in die Gewalt des katholischen Priesters; während der ganzen Zwischenzeit war er bei Vernunft und lachte über Weihwasser und Ölung.118
Bedenkt man die revolutionäre Ikonographie Frankreichs, und zwar ganz besonders die der Julirevolution 1830 in Gestalt des berühmten Gemäldes von Eugène Delacroix (La Liberté guidant le peuple), so kann es nicht Wunder nehmen, dass Heine hier explizit Frauen anspricht. Die freie Frau als barbusige Marianne — und in ihr steckt selbstverständlich die antike Figur der Libertas — steht der Unfreiheit des Cäsarismus, des Gottesgnadentums und des katholischen Priestertums gegenüber.119
Die deutsche Mittelalterbegeisterung
Auch in Frankreich stellt Heine eine gewisse, kurzlebige Begeisterung für die mittelalterliche Vergangenheit fest, die jedoch ganz anderer Art gewesen sei, als in Deutschland — wo sich gleichzeitig architektonisch eine große Begeisterung für den neogotischen Baustil ausbreitete, der ästhetischen Chiffre des Mittelalters.120 Diese ästhetische Präferenz für das Mittelalter über die Architekturchiffre gingen in Deutschland jedoch mit ernsthaften „inhaltlichen“ Problemen einher:
Die Schriftsteller, die in Deutschland das Mittelalter aus seinem Grabe hervorzogen, hatten andere Zwecke, wie man aus diesen Blättern ersehen wird, und die Wirkung die sie auf die große Menge ausüben konnten, gefährdete die Freiheit und das Glück meines Vaterlandes.121
Die französischen Schriftsteller dagegen hätten eher ein künstlerisches, kein „ernsthaft“ motiviertes Interesse an der Neogotik gepflegt:
Die Mode des Gotischen war in Frankreich eben nur eine Mode, und sie diente nur dazu, die Lust der Gegenwart zu erhöhen. (…) Ach! in Deutschland ist das anders. Vielleicht eben weil das Mittelalter dort nicht, wie bei euch, gänzlich tot und verwest ist. Das deutsche Mittelalter liegt nicht vermodert im Grabe, es wird vielmehr manchmal von einem bösen Gespenst belebt, und tritt am hellen, lichten Tage, in unsre Mitte, und saugt uns das rote Leben aus der Brust…122
Ob es mit Heine zu tun hat, dass im späteren Zeitalter des Films Gespenstermotive oft vor gotischer Kulisse spielten?
Das Mittelalter galt und gilt als religiöses Zeitalter, die lutherische Reformation wird zusammen mit der gleichzeitigen Erfindung des europäischen Buchdrucks und der frühen Medialisierung als einer der Sargnägel des Mittelalters erinnert. Im Zentrum Heines Besorgnis und Kritik am Aufleben eines reaktionären Religionsverständnisses steht deshalb die katholische, nicht die evangelische Kirche. An den Romantikern findet er erschreckend, „(…) wie diese jungen Leute vor der römisch-katholischen Kirche gleichsam Queue machten, und sich in den alten Geisteskerker wieder hineindrängten“ — und er bezieht sich damit sowohl auf geborene Katholiken wie Joseph Görres und Clemens Brentano, die nicht eigens konvertieren mussten, als auch und insbesondere auf protestantische Konvertiten der Romantik:
Andere aber waren im Schoße der protestantischen Kirche geboren und erzogen, z.B. Friedrich Schlegel, Herr Ludwig Tieck, Novalis, Werner, Schütz, Carové, Adam Müller usw., und ihr Übertritt zum Katholizismus bedurfte eines öffentlichen Akts. Ich habe hier nur Schriftsteller erwähnt; die Zahl der Maler, die scharenweise das evangelische Glaubensbekenntnis und die Vernunft abschworen, war weit größer.123
Für die evangelische Kirche möchte er zwar nicht übertrieben Partei ergreifen, dennoch setzt er sie eindeutig in Beziehung mit der Geistesfreiheit und den Idealen der Aufklärung:
Wahrlich, ohne alle Parteilichkeit habe ich Geistesfreiheit und Protestantismus zusammen genannt; und in der Tat, es besteht in Deutschland ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden. Auf jeden Fall sind sie beide verwandt und zwar wie Mutter und Tochter. Wenn man auch der protestantischen Kirche manche fatale Engstirnigkeit vorwirft, so muß man doch zu ihrem unsterblichen Ruhme bekennen: indem durch sie die freie Forschung in der christlichen Religion erlaubt und die Geister vom Joche der Autorität befreit wurden, hat die freie Forschung überhaupt in Deutschland Wurzel schlagen und die Wissenschaft sich selbständig entwickeln können.124
Heines Vegetationsmetaphern
Wo Heine das Christentum mit einer Passionsblume vergleicht, wird nicht ganz klar, ob es sein eigener Vergleich ist, oder ob er sich über diesen lustig macht:
Diese Poesie aber war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen.125
Über die Symbolik der Passionsblume kommt er seiner andernorts oft wiederholten Kritik am Verständnis von Kunst und Ästhetik des Katholizismus126 und vor allem der gegängelten Kunst des Mittelalters nahe — was jedoch auch als Kritik am überbordenden Mystizismus und, wie er es nennt, „Supernaturalismus“ der Romantischen Schule zu verstehen ist:
Ich weiß nicht ob die melancholische Blume, die wir in Deutschland Passionsblume benamsen, auch in Frankreich diese Bedeutung führt, und ob ihr von der Volkssage ebenfalls jener mystische Ursprung zugeschrieben wird. Es ist jene sonderbar mißfarbige Blume, in deren Kelch man die Marterwerkzeuge, die bei der Kreuzigung Christi gebraucht worden, nämlich Hammer, Zange, Nägel usw., abkonterfeit sieht, eine Blume, die durchaus nicht häßlich, sondern nur gespenstisch ist, ja deren Anblick sogar ein grauenhaftes Vergnügen in unserer Seele erregt, gleich den krampfhaft süßen Empfindungen, die aus dem Schmerze selbst hervorgehen. In solcher Hinsicht wäre diese Blume das geeignetste Symbolfür das Christentum selbst, dessen schauerlichster Reiz eben in der Wollust des Schmerzes besteht.127

Heine äußert sich zwar unentwegt abfällig, doch auch anerkennend und ambivalent über Religion, was auch mit seiner eigenen spirituellen Suche zu tun hat. Zwar findet er schärfste Kritik, wie an
(…) jenem jesuitisch-aristokratischen Ungetüm, das damals aus dem Walddunkel der deutschen Literatur sein mißgestaltetes Haupt hervorreckte;(…)128
An anderer Stelle würdigt er aber die zivilisierenden Eigenschaften der Religion und besonders des Protestantismus, zu dem er ja schließlich selbst — wenn auch aus den bereits dargestellten, eher praktischen Gründen — konvertiert war. Dann wieder sieht er in (katholischen) italienischen Renaissancekünstlern die größeren oder eigentlicheren Protestanten, in ihren Kunstwerken die „besseren Thesen“ als in den „sächsischen Mönchen“ (wie Luther). Auch hier trennt er genau zwischen deutschen und französischen Trends:
Religion und Heuchelei sind Zwillingsschwestern, und beide sehen sich so ähnlich, daß sie zuweilen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dieselbe Gestalt, Kleidung und Sprache. Nur dehnt die letztere von beiden Schwestern etwas weicher die Worte und wiederholt öfters das Wörtchen „Liebe“. — Ich rede von Deutschland; in Frankreich ist die eine Schwester gestorben, und wir sehen die andere noch in tiefster Trauer.129
Wo er den deutschen Spiritualismus, die Geistigkeit und den Idealismus kritisiert, spricht er sich eindeutig gegen die Vermischung von Wissenschaft und Religion aus, die sich hinter einer „schönen Blume“ verberge, hinter der jedoch „die Schlange“ lauere.130 Als solche erscheint der Katholizismus, ganz besonders politischer Katholizismus und Ultramontanismus, am Ende der Romantischen Schule erneut, wobei er nicht explizit die zur damaligen Zeit aktuellen „Kölner Wirren“ benennt — eine Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Staat; der Katholizismus gilt ihm auch hier wieder als „Religion des Mittelalters“:
Was ich betreff des Mittelalters im allgemeinen angedeutet, findet auf die Religion desselben eine ganz besondere Anwendung. Loyalität erfordert (er meint Loyalität Frankreich gegenüber, Anm. TS), daß ich eine Partei, die man hierzulande die katholische nennt, aufs allerbestimmteste von jenen deplorablen Gesellen, die in Deutschland diesen Namen führen, unterscheide. (…) Es sind Feinde meines Vaterlandes, ein kriechendes Gesindel, heuchlerisch, verlogen und von unüberwindlicher Feigheit. Das zischelt in Berlin, das zischelt in München, und während du auf dem Boulevard Montmartre wandelst, fühlst du plötzlich den Stich in der Ferse. Aber wir zertreten ihr das Haupt, der alten Schlange. Es ist die Partei der Lüge, es sind die Schergen des Despotismus, die Restauratoren aller Misere, aller Greul und Narretei der Vergangenheit.131
Über die Metapher des Baumes, zumeist der Eiche oder des Waldes, wird das vorchristliche, germanische, heidnische und meist als roh und ungeschliffen dargestellte Deutschland indirekt dem verfeinerten und urbanen Frankreich gegenübergestellt:
Die Altgläubigen, die Orthodoxen, ärgerten sich, daß in dem Stamme des großen Baumes keine Nische mit einem Heiligenbildchen befindlich war, ja, daß sogar die nackten Dryaden des Heidentums darin ihr Hexenwesen trieben, und sie hätten gern, mit geweihter Axt, gleich dem heiligen Bonifacius, diese alte Zaubereiche niedergefällt;132

Der Wald ist aber nicht nur Metapher für das deutsche, heidnische, sondern für das Heidnische insgesamt, wie in Heines Besprechung Clemens Brentanos Tragödie „Die Gründung Prags“, wo die heidnischen Götter durch die böhmische Lage Prags slawische sind:
Da rauschen die dunkel böhmischen Wälder, da wandeln noch die zornigen Slawengötter, da schmettern noch die heidnischen Nachtigallen; aber die Wipfel der Bäume bestrahlt schon das sanfte Morgenrot des Christentums.133
Über die „neuen Dichter“ Deutschlands in Goethes Schatten schreibt er: „Späterhin spreche ich von den neuen Dichtern, die während der Goetheschen Kaiserzeit hervortraten. Das ist ein junger Wald, dessen Stämme erst jetzt ihre Größe zeigen, seitdem die hundertjährige Eiche gefallen ist, von deren Zweigen sie so weit überragt und überschattet wurden.“134 — die „hundertjährige Eiche“ ist hier Goethe, zu unterscheiden von den „tausendjährigen Götzeneichen“, obwohl auch Goethe bei Heine auch einmal (ironisch) als „heidnischer“ Dichter bezeichnet wird. Und weiterhin:
Es fehlte, wie schon gesagt, nicht an einer Opposition, die gegen Goethe, diesen großen Baum, mit Erbitterung eiferte. Menschen von den entgegengesetztesten Meinungen vereinigten sich zu solcher Opposition.135
Heines persönliches Verhältnis zu Spiritualität und Religion
Heine hat im Nachwort seines letzten großen Gedichtbands Romanzero – hier in der Fassung von 1851, zitiert nach dem editorischen Nachwort der Ausgabe von 1995136 — seine Hinwendung zur Religion eindeutig als „Heimkehr zu Gott“ bezeichnet, den er als personalisierten Schöpfer begriffen hat — und was damit eine markante Veränderung im Gegensatz zu seinen vorangegangenen Lebensphasen darstellt:
Ja, wie mit der Kreatur, habe ich auch mit dem Schöpfer Frieden gemacht, zum größten Ärgernis meiner aufgeklärten Freunde, die mir Vorwürfe machten über dieses Zurückfallen in den alten Aberglauben, wie sie meine Heimkehr zu Gott zu nennen beliebten.137
Interessanterweise beschreibt er seine spirituelle Reise, auf die er aus seinem Sterbebett blickt, mit sehr romantischen Bildern — zum Beispiel (wenn auch indirekt) mit der Vorstellung der „himmlischen Heimat“;138 unter „Misere“ ist seine schwere Krankheit „in der Matratzengruft“ zu verstehen:
Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet. War es die Misere, die mich zurücktrieb? Vielleicht ein minder miserabler Grund. Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik. Auf meinem Wege fand ich den Gott der Pantheisten, aber ich konnte ihn nicht gebrauchen.139
Schwindelerregend wie die aufgegebenen „Bergpfade der Dialektik“ ist die ungemeine Dichte, die in diesem kurzen Zitat des späten Heine steckt und fast seines ganzen Lebens spirituelle Suche rafft: da ist zunächst die hegelianische Philosophie und Dialektik, von der er seit seiner Jugendzeit fasziniert war, als er in Berlin Hegels Vorlesungen und Varnhagens Salon besuchte. Laut Nina Bodenheimer ist diese Begeisterung für Hegel eng verwoben mit seiner jüdischen Herkunft und Ausgeschlossenheitserfahrung, was ihn zur Suche nach einer ganz neuen Philosophie — „dem neuen Lied“ — angetrieben habe; vom hegelianischen Pfad versprachen sich Heine und seine Jugendfreunde die Überwindung religiös gepfärchter Engstirnigkeit sowie die jüdische Emanzipation. Auch seine Begeisterung für Napoelon und die französischen Saint-Simonisten haben laut Bodenheimer unter demselben Stern gestanden.140
Mit dem Pantheismus ist natürlich einerseits der Geist Goethes, der „hundertjährigen Eiche“, gemeint; von dort wie von Hegel war es kein weiter Weg zum Saint-Simonismus, einer kurzlebigen, aber wirkmächtigen neureligiösen Bewegung, die in der Gravitation das göttliche Prinzip erkennen wollte und insofern durchaus als eine Spielart des Pantheismus gelten kann. Der Name geht zurück auf den Sozialwissenschaftler Graf Claude Henri de Saint-Simon (gest. 1825), der eine Art Synthese hegelianischer und spiritueller Ideen entwickelte. Diese heute wenig bekannte Gruppe tauschte sich über die Zeitung Le Globe aus, die auch Heine las, und sie inspirierte nicht nur spätere Okkultisten und Spiritisten, sondern auch Frühsozialisten und Soziologen wie Auguste Comte.141
Der Saint-Simonismus bot nicht nur spirituelle Alternativen für gebildete, an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sowie Kunst interessierten Menschen wie Heine, die durch ihre Außenseitereigenschaften nie unbekümmert Teil der einen oder anderen, hierarchisch institutionalisierten Religionsgemeinschaft sein konnten. Der Saint-Simonismus schien auch eine vorteilhafte Weiterentwicklung des Hegelianismus zu sein und eine „Philosophie der Tat“142 anzubieten, die eine Gesellschaftsstruktur vorschlug, die nicht vertikal hierarchisch war, sondern auf der Grundlage der Vernetzungen auf horizontalem Niveau (man spräche heute vielleicht von „flachen Hierarchien“):
In einer solchen Gesellschaft wäre der »exploitation de l’homme par l’homme« ein Ende gesetzt, wie es die Saint-Simonisten in ihren Schriften unterstrichen, und der Mensch wäre hier nicht mehr durch seine religiöse und soziale Herkunft vorbestimmt – es findet sich innerhalb dieser Gruppe übrigens ein recht hoher Prozentsatz von Juden (wie bei den Junghegelianern) –, sondern er würde sich alleine durch seine Fähigkeiten auszeichnen; »chacun selon ses capacités« lautete ihr Leitmotiv, das Heine glauben machte, er könnte im Rahmen dieser Gruppe einen, seinen Platz als Künstler finden, einen Platz, der ihm zur Zeit des »Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden«(…) nämlich noch nicht vergönnt war.143
Die Saint-Simonisten spalteten sich jedoch bald, es kam zu persönlichen Zerwürfnissen und Enttäuschungen. Heine kehrt am Ende zu einem personalisierten Gottesbegriff zurück und fügt hinzu, dass er im Gegensatz zum nicht greifbaren Gottesbegriff der Pantheisten einen persönlichen, außerweltlichen, heiligen, allgütigen, allwissenden und allgerechten Gott hat finden wollen, „der zu helfen vermag“.144 Er stellt jedoch klar, dass dies mitnichten bedeuten würde, dass er nun institutionell in irgendeiner Form gebunden sei:
Ausdrücklich widersprechen muß ich jedoch dem Gerüchte, als hätten mich meine Rückschritte bis zur Schwelle irgendeiner Kirche oder gar in ihren Schoß geführt. Nein, meine religiösen Überzeugungen und Ansichten sind frei geblieben von jeder Kirchlichkeit (…).145
Auch hier schwingt noch (Selbst-)Ironie mit, wenn Heine vom eigenen „Rückschritt“ schreibt und damit die Sicht seiner aufgeklärten — ob pantheistischen, hegelianischen, atheistischen oder saint-simonistischen — Freunde sekundiert. Und wie könnte es auch anders sein? Christian Höpfner sieht Heines Haltung darin begründet, dass er aufgrund seiner besonderen Biographie und seines Ausgegrenztseins eine lebenslange Distanz zu religiösen Institutionen bewahrt habe — und dass ihm gerade diese Distanz zu einem eigenen Identitätsmerkmal geworden sei.146 Der bevorstehende Tod habe zwar eine wesentliche Rolle in der Bejahung eines tröstenden, persönlichen Gottes gespielt, sei aber nicht als ausschließlich der Grund für Heines letzte religiöse Wende gewesen, wie dies andere Autoren interpretiert hätten.147
Dieser abschließende Rekurs auf das Verhältnis von Religion und Identität, welches auch heute von unverminderter Aktualität ist, war nötig, um nicht den falschen Eindruck entstehen zu lassen, Heine sei es in erster Linie darum gegangen, Gottglaube und Spiritualität zu kritisieren: seine Sorge waren identitäre Konzepte, die mit religiösen Trends aufgeladen waren. Aus diesem Grund liegt dem gesamten Text der Romantischen Schule auch die Mastertrope der Ironie zugrunde.
Fußnoten
97. Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Ders. (1995 [1835]): Die Romantische Schule und andere Schriften über Deutschland. Werke in fünf Bänden (Bd. 3). Köln: Könemann, S. 169-319.↩
98. Ders.: Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: Ebda, S.321-474.↩
99. Bodenheimer, Nina: Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Kruse, Joseph A. (Hg.)(2008): Heine-Jahrbuch 2008 (47. Jg.). Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler., S. 223.↩
100. Heine, Heinrich: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (seit 1991: Stiftung Weimarer Klassik) und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris: Akademie und Editions du CNRS 1970 ff., XXI, 51f., zit. nach Bodenheimer, Nina (2008): Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Kruse, Joseph A. (Hg.)(2008): Heine-Jahrbuch 2008 (47. Jg.). stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 223.↩
101. Staël, Germaine de (1814): De l’Allemagne. London.↩
102. Heine, Heinrich: Die Romantische Schule, a.a.O., S. 10.↩
103. Ebda, S. 68-69.↩
104. Ebda, S. 89.↩
105. Dem Romantiker Werner Zacharias zum Beispiel bescheinigt er: „Die entsetzlichste Religionsschwärmerei finden wir in allen seinen Dichtungen“, Ebda, S. 136.↩
106. Mortier, Roland: Les retards et les obstacles à la révélation de la littérature allemande en France. In: Le groupe de Coppet et l’Allemagne – actes du colloque au Goethe Institut (10. und 11. Mai 1985), Paris 1985, 2/3, Übersetzung aus dem Französischen übernommen und zit. nach Bodenheimer, Nina (2014): Heinrich Heine und der Saint-Simonismus (1830-1835). Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 126-127.↩
107. Heine, Heinrich: Die Romantische Schule, a.a.O., S. 122.↩
108. Ebda, S. 123.↩
109. Ebda, S. 124.↩
110. Ebda, S. 124.↩
111. Ebda, S. 124.↩
112. Ebda, S. 125.↩
113. Ebda, S. 125.↩
114. Ebda, S. 128.↩
115. Kölner Dom. Das Fest der Grundsteinlegung am 4. September 1842. Originalquelle: Rheinisches Bildarchiv, Köln. Bildzitat nach: Das 19. Jahrhundert, S. 187.↩
116. Ebda, S. 160.↩
117. Ebda, S. 160.↩
118. Ebda, S. 160-161.↩
119. Die folgende Quelle ist aus Wikipedia übernommen, und ich habe sie noch nicht verifiziert: „César est une figure de la domination politique, Marianne est une figure du peuple émancipé, de la République se donnant à elle-même sa propre loi.“, Collectif, sous la direction de Jacques Myard, La Laïcité au cœur de la République, Paris/Budapest/Torino, L’Harmattan, 2003, S. 21, zit. nach Wikipedia (fr), URL: https://fr.wikipedia.org/wiki/Histoire_de_la_la%C3%AFcit%C3%A9_en_France#cite_note-4 (zuletzt abgerufen am 20.8.2020).↩
120. Dies kommt damit dem ziemlich nahe, was heute im Vergangenheitskult der Türkei der klassisch-osmanische Baustil nach Mimar Sinan ist, worauf ich im dritten Teil des gesamten Buchprojektes noch zurückzukommen beabsichtige.↩
121. Heine, Heinrich: Die Romantische Schule, a.a.O., S. 158.↩
122. Ebda, S. 158-159.↩
123. Ebda, S. 32.↩
124. Ebda, S. 33.↩
125. Ebda, S. 10-11.↩
126. Allerdings ist die Passionsblume keineswegs ausschließlich ein katholisches Symbol, denn sie findet häufige Verwendung auch in evangelischen Kirchen, wie zum Beispiel in der evangelischen Kirche von Werden. Wie der bebilderten und beschriebenen Homepage der 1900 erbauten Kirche entnehmbar, befinden sich dort auf den Bogenfeldern rechts der Altarwand ein „Golgatha-Kreuz auf einem Rankenwerk von Blättern und Blüten der Passionsblume und daneben das Evangelium, das mit Ähren, Trauben und Kelch den „Neuen Bund“ im Neuen Testament symbolisiert.“ Homepage des Fördervereins Evangelische Kirche Werden e.V., URL: http://fv-kirche-werden.de/?page_id=264 (zuletzt abgerufen am 27.7.2020).↩
127. Ebda, S. 11.↩
128. Ebda, S. 36.↩
129. Ebda, S. 36.↩
130. Ebda, S. 91.↩
131. Ebda, S. 159.↩
132. Ebda, S. 42-43.↩
133. Ebda, S. 106.↩
134. Ebda, S. 42.↩
135. Ebda, S. 42.↩
136. Heine, Heinrich (1995): Romanzero und andere autobiographische Spätschriften. Werke in fünf Bänden (Bd. 5). Köln: Könemann, S. 341 ff.↩
137. Ebda, S. 341.↩
138. Vgl. Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic.↩
139. Heine, Heinrich (1995): Romanzero und andere autobiographische Spätschriften. Werke in fünf Bänden (Bd. 5). Köln: Könemann, S. 341.↩
140. Heine und die Varnhagens verband nämlich, wie Nina Bodenheimer feststellt, dass sie die „Doctrine de Saint-Simon“ gelesen hatten und der neureligiösen, eklekzistischen und philanthropischen Bewegung des Saint-Simonismus zugewandt waren. Bodenheimer, Nina (2008): Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus und „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, in: Kruse, Joseph A. (Hg.)(2008): Heine-Jahrbuch 2008 (47. Jg.). Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 223.↩
141. Vgl. Bodenheimer, Nina (2008): Heine, Hegelianismus, Saint-Simonismus; Bodenheimer, Nina (2014): Heinrich Heine und der Saint-Simonismus sowie Höhn, Gerhard (2004): Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler.↩
142. Bodenheimer, Nina (2008): a.a.O., S. 223.↩
143. Ebda, S. 223.↩
144. Heine, Heinrich (1995): Romanzero, a.a.O., S. 341.↩
145. Ebda, S. 341.↩
146. Höpfner, Christian (1997): Romantik und Religion: Heinrich Heines Suche nach Identität. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler., S. 253.↩
147. Er bezieht sich hier besonders auf Küppers, Markus (1994): Heinrich Heines Arbeit am Mythos. Münster/New York: Waxmann, S. 101, zit. nach Höpfner, Christian (1997): Romantik und Religion: Heinrich Heines Suche nach Identität. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler., S. 254-255.↩
Sattelzeit, Holznot und Nachhaltigkeit: über die selten besprochenen Bergbaukenntnisse der Romantiker und andere Hintertreffen
Seit es die moderne Historiographie in Europa und über europäische Geschichte gibt (um die es hier geht), werden in ihr Periodisierungen vorgenommen. Diese Periodisierungen beziehen sich nicht ausschließlich auf die Ereignisgeschichte, sondern umfassen viele weitere gesellschaftliche Aspekte. Sie beziehen dabei jeweils Typisches für die entsprechende Periode, Ära, Epoche oder den Zeitabschnitt ein: So werden einer jeden Zeit ihre eigene Sprache und Denkweisen, eigene Bilder, eigene Gemälde und architektonische Stile bis hin zu eigenen, typischen Farben, Frisuren, Schnittmustern, Moden, Rezepten und natürlich auch Klängen und Musikstilen zugeschrieben. Besonders facettenreich und kleinteilig fallen daher die Kunst-, Architektur- und Literaturgeschichte aus, welche sich diesen Feinheiten zuwenden und die gröberen Unterteilungen einer stärker positivistischen Ereignisgeschichte nuancieren.
Doch zwischen und über den beschriebenen, typischen Zeiten liegen jene besonderen, weniger eindeutig beschreibbaren Zeitphasen, die allmähliche Übergänge von der einen in die andere Epoche darstellen. Ihr jeweiliges Davor und Danach sind einander zwar ähnlich, indem sie ineinander greifen; dennoch wird oft der grundlegende Hervorbringungsmodus (modus operandi) im Danach anders geworden sein: es werden die Weichen für das fortlaufende, jetzt andere Werden und Werdenkönnen gestellt sein. Das klingt bis hierher sehr abstrakt; am konkreten Beispiel bedeutet das, dass sich eine Gesellschaft grundlegend verändern wird, sobald erst einmal eine gedankliche und begriffliche Schranke gefallen ist — wie die Vorstellung des Gottesgnadentums und damit das Ende des Ancien Régime in Europa.
Eine dieser Übergangszeiten hat der vor allem mit sprachlichen, begrifflichen und anthropologischen Zugängen arbeitende deutsche Historiker Reinhart Koselleck metaphorisch als Sattelzeit bezeichnet. Die Sattelzeit beschreibt eine retrospektivische Einordnung, die Koselleck in den 1970er Jahren begrifflich vorgenommen hat. Sie bezeichnet den Übergang von der Frühen Neuzeit in die Moderne, von der späten Aufklärung kurz vor der Französischen Revolution bis in die späte Mitte des 19. Jahrhunderts – also von zirka 1750 bis 1850, in anderen Deutungen bis 1870:
Ein ebenso erfolgreicher wie vager Begriff ist ‚Sattelzeit‘. Von Reinhart Koselleck in Umlauf gebracht, hat er sich nicht allein in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt, sondern wird auch in anderen Geisteswissenschaften verwandt, wenn die Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts – „ungefähr zwischen 1750 und 1850“ – angesprochen werden soll. Konkretere Daten, die Anfang und Ende der Sattelzeit markieren würden, werden kaum je genannt. Seinen guten Grund hat diese Unschärfe darin, dass der Begriff ursprünglich nicht auf die politische Geschichte zielte, in der die Daten ‚großer‘, soll heißen: weitreichender Ereignisse (der Westfälische Friede, die Französische Revolution, die nationalsozialistische Machtergreifung) nach wie vor eine zentrale Rolle für die Epochengliederung spielen. Als Sattelzeit bezeichnete Koselleck vielmehr eine – seines Erachtens die entscheidende – Phase der deutschen und europäischen Begriffsgeschichte. Etwa zwischen 1750 und 1850 habe sich die Begriffswelt Alteuropas (mit Kontinuitäten seit Antike und Mittelalter) in die großenteils neuformierte Begriffswelt der Moderne transformiert. Da Koselleck in Begriffen den Ausdruck und das Vehikel des menschlichen bzw. gesellschaftlichen Selbstverständnisses sah, konnte, ja musste er in der Sattelzeit nichts Geringeres als die sprachliche wie mentale Grundlegung der Moderne erkennen.1
Wie Daniel Fulda, der Autor dieses Zitats, feststellt, ist der Begriff durch seine Unschärfe nicht ganz unproblematisch. Mir erscheint die Vorstellung einer Sattelzeit aber aus mindestens vier Gründen für den Kontext dieser Textreihe sowie die weitere Auseinandersetzung mit Wendezeiten im Projekt Neopopulismus geeignet.
Erstens ist die Sattelzeit für die Begriffsgeschichte – und damit für die politische Ideengeschichte – höchst zentral (s.o.): in der Spätaufklärung wurden viele der Begriffe des Denkens über Staat und Staatlichkeit herausgebildet, die heute noch als Metaphors we live by2 gebräuchlich und relevant sind. Dazu gehören etwa die Initiationsmetapher der Souveränität, die Geburtsmetapher der Nation, oder die Wiedergeburtsmetapher der Renaissance. Wie die Vegetationsmetaphorik in Heines Schriften immer wieder gezeigt hat – aber auch unterstützt durch die vielen Referenzen an Goethe, die Aufklärer und den Humanismus – so spielt die Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts eine ganz zentrale Rolle im Denken der Sattelzeit. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass viele Dichter und Schriftsteller gleichzeitig oder sogar in erster Linie Naturforscher waren – was auch für Goethe zutrifft, heute aber in den Hintergrund seiner Wahrnehmung als Dichterfürst gerückt ist: Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts würde es über die Industrielle Revolution und den Take-off zu einer immer stärker einander entkoppelten Aufteilung der Disziplinen in Natur- und Geisteswissenschaften kommen. Dieser Prozess ist schließlich im 20. und 21. Jahrhundert so weit fortgeschritten und institutionalisiert, dass er kaum je wieder ernsthaft in Frage gestellt werden würde;3 eigentlich kommt es erst wieder mit dem Bewusstsein über die progressive Klimakatastrophe dazu, diese Trennung als problematisch zu sehen. Die oft wenig fruchtbare akademische Trendforderung nach Interdisziplinarität ab Ende der 1990er scheint mir daran keinen großen Anteil gehabt zu haben. Wenn aber politische Begriffe und lexikalisierte (d.h. selbstverständlich gewordene) Metaphern wie Wachstum und Nachhaltigkeit, die ihren Anfang in der Sattelzeit nehmen und von anhaltender Relevanz in der Gegenwart sind, dann ist es im Sinn der Begriffsgeschichte angebracht, ihre heute immer deutlicher werdende Problem-Genese bis zu den Anfängen zurückzuverfolgen.4
Zweitens eröffnet die Sattelzeit eine heute unter Zeithistorikern seltener eingenommene Perspektive auf das 19. Jahrhundert, welches – zumindest in meiner eigenen, wissenschaftlichen Sozialisierung – fast automatisch als das von Eric Hobsbawm geprägte, lange 19. Jahrhundert vorgestellt wird.5 In diesem Kontext stehen meistens Problematiken rund um den Themenkomplex Nationswerdung, Nationalismus, the unmixing of peoples, forcierte Assimilierung, sogenannte Homogenisierungsmaßnahmen, Vertreibungen, systematische Massenmorde und Genozide im Zentrum. Besonders bei historiographischen Perspektiven, die in der Zeitgeschichte ankern (also ihren Ausgangspunkt nach 1914, insbesondere aber ab 1939 nehmen), gravitiert der Schwerpunkt der Perspektive damit fast ausschließlich rund um die höchsten Eskalationsstufen, die im „kurzen 20. Jahrhundert“ (Hobsbawm) dem langen 19. Jahrhundert angelastet werden. Diese holen am Ende des 19. Jahrhunderts aus, nehmen Anfang des 20. Jahrhunderts an Fahrt auf, um über die Zwischenkriegszeit, den Nationalsozialismus und Stalinismus schließlich im 20. Jahrhundert in der „dunklen Seite der Nationalstaaten“ zu kulminieren, wie Philipp Ther die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts treffend eingeordnet hat.6
Truth be said: Auch Hobsbawms langes 19. Jahrhundert setzt, ähnlich wie Kosellecks Sattelzeit, als Age of Revolutions bereits bei der Französischen Revolution an. Auch ansonsten bietet die verbreitetere Vorstellung des langen 19. Jahrhunderts aus vielen, hier nur teilweise aufgeführten Gründen einen äußerst sinnvollen Betrachtungsrahmen an, dessen Sinnhaftigkeit durch die Perspektivverschiebung auf die Sattelzeit keineswegs geschmälert wird. Trotzdem bietet, drittens, die Sattelzeit für den vorliegenden Kontext durch die stärkere Gewichtung der Anfänge des 19. Jahrhunderts und der Spätaufklärung im 18. Jahrhundert die geeignetere Perspektive an: sie umrahmt zum Einen genau die Zeit, in der Heinrich Heine gelebt (1797-1856) und geschrieben hat; sie wurde zum Anderen von Koselleck als Zeit der allmählichen, aber tiefgreifenden Transformation verstanden, was sich in Heines Schriften mehr oder weniger direkt spiegeln lässt. Wie in den vorangegangenen Beiträgen über Heine schon ausführlicher beschrieben worden ist, zeichnet sich Heine als „Zeitschriftsteller“ besonders darin aus, dass er, im Gegensatz zu so vielen seiner Alters- und Zeitgenossen, gerade nicht im Fluss des Zeitgeists als Partisan desselben geschrieben hat. Er hat in keinem auch nur annähernden Maß die so verbreitete Hinwendung zum Mittelalter, zu Katholizismus und zu verbrämten Vergangenheitsvorstellungen betrieben. Vielmehr hat er reflexiv darüber geschrieben, dass darüber so viel geschrieben wurde – was besonders wertvoll ist, weil es sich um eine zeitgenössische Einschätzung handelt. Die von Heine beschriebene Hinwendung zur Vergangenheit erscheint zwar angesichts der immer schneller in die Zukunft galoppierenden Gegenwart der Sattelzeit einerseits als widersprüchlich; andererseits verfestigt sich damit aber eine quasi regelhafte Dynamik von Wendezeiten: gerade in diesen blüht die Nostalgie. Dies wird auch in dem bekannten Zitat Svetlana Boyms (die ebenfalls selbstreflexiv über „ihre“ Wende-Zeit schrieb) über das Ende des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht: „The twentieth century began with utopia and ended with nostalgia.“
(Vertiefend dazu im Projekt Neopopulismus)
Der vierte Grund, warum die Sattelzeit aus heutiger Sicht so interessant ist, hat direkt mit den unter erstens genannten Umständen zu tun: es handelte sich um eine Zeit, die von starken Umweltveränderungen und Ressourcenproblemen geprägt war, was auch unter dem – wenn auch umstrittenen – Begriff der Holznot Eingang in die Umwelt- und Wirtschaftsgeschichte gefunden hat. Dazu weiter unten noch genauer.
Geht man einer Regelhaftigkeit des Einsetzens großer Nostalgie-Wellen in Wendezeiten aus, dann könnte man den Begriff Sattelzeit auch als Pluralwort verwenden, aus dem engeren historischen Kontext lösen und auf andere Wende-Phasen übertragen. Man könnte damit auch unsere Zeit, in der selbst das Wetter anders wird und sich auch ansonsten grundsätzliche Modi der Hervorbringung tiefgreifend zu verändern beginnen, als eine Sattelzeit bezeichnen. Zentrale Stichworte wären dabei Energiewende; Digitale Revolution; Zeitenwende; Globalisierung – aber gleichermaßen der heute so verbreitete Geschichtsrevisionismus mit seinem je unterschiedlich ausgeprägten Aufbäumen gegen die schnell voranschreitende, offenbar beunruhigende Zukunft. Sattelzeiten wären in diesem Sinn vergleichbar – und zwar dadurch, dass sie epochale Übergänge charakterisieren, wodurch eher nicht das „Typische“, sondern die Veränderung und der Wandel, und damit einhergehend der sozialpsychologische Widerstand dagegen im Zentrum stünden. Weitere mögliche Sattelzeiten könnten andere Übergänge beschreiben, die einmal als „Herbst des Mittelalters“ (Johan Huizinga), ein anderes Mal als „Goldenes Zeitalter der Renaissance“ (Burckhardt) bezeichnet wurden.

Typische Kennzeichen von Sattelzeiten wären demnach, dass das auf den ersten Blick Feststellbare eher das Gegenteil von dem zum Ausdruck bringt, was gerade am Geschehen ist: was als eigentlich erscheint, wie der Mittelalter-Trend der Romantiker, wäre demnach nur ein uneigentlicher Ausdruck seines Gegenteils. Einfacher gesagt: der Schein trügt. Die Zeit, aus der heraus die bekanntesten Projektionen der Romantik entstanden sind, raste mit großem Tempo vom ohnehin bereits weit entfernten Mittelalter fort.
In Machiavellis (1469-1527) norditalienischer Renaissance, die tatsächlich an das gerade ausgehende Mittelalter anschloss, trendete hingegen die sehr weit zurückliegende Antike. Auch dieser Trend in die Vergangenheit hatte natürlich mitnichten zu bedeuten, dass die oberitalienische Welt nun wieder antik wurde, auch wenn viele Schriften und Errungenschaften der Antike tatsächlich neuen Anklang und Rezeption fanden. Doch die Welt der Renaissance wurde nun ganz anders verstanden und gesehen als in der Antike: Die Kopernikanische Wende setzte ein; bahnbrechende Erfindungen wurden gemacht; im mittelalterlichen Nominalismus-Realismus-Streit obsiegte der Nominalismus; die Welt wurde immer machbarer und moderner; die Frühe Neuzeit begann – und damit auch erbitterte Reaktion, wie sie sich zum Beispiel in den systematischen Frauen- und Außenseitermorden der sogenannten Hexenverfolgungen ausdrückte. Und so wie sich in der Romantik schwangeren Neogotik des 19. Jahrhunderts Mittelalter-Anleihen zu etwas dennoch ziemlich Eigentümlichem und Neuem verbanden, so prägte in der Renaissance auf der Ebene der symbolischen Formen das Sehnen nach der Antike einen Eklektizismus, der bald neue Standards setzen würde.

In Heines Sattelzeit strebte Europa der industriellen Revolution und einer absoluten Beschleunigung entgegen, wie in diesem Kapitel noch genauer darzustellen sein wird. Und auch hier streben das Eigentliche und das Uneigentliche scheinbar auseinander: das Eigentliche — das ist die Welt der Gegenstände, der Bäume, der Agrarflächen, das Wissen über die Nutzbarkeit, Funktionsweise und Beschaffenheit der konkreten Dinge; die Technik, die Planetenkonstellation, das Wissen darüber, wie welche Temperatur zu erzeugen war, die benötigt wurde, um ein bestimmtes Material (wie z.B. Branntkalk) herzustellen. Das Uneigentliche – das ist das Sprachliche, das Bildliche, Künstlerische, Symbolische und Wissbare. Die scheinbare Flucht beider Sphären voneinander sollte uns aber weder über die eigentlichen Vorgänge, Zustände und Tatsachen einer Zeit hinwegtäuschen, noch über den bestehenden, wenn auch teils verschlüsselten Zusammenhang zwischen ihnen.
Mentalitätswandel und ökologische Revolution 1700-1850
Die Sattelzeit war eine Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen: es war die Zeit der Frühindustrialisierung. Nur neun Jahre nach Veröffentlichung der Romantischen Schule (1835) kam es auch in Deutschland mit dem Weberaufstand (1844) zum ersten massenwirksamen Aufstand gegen die Verhältnisse, was in der (letztlich gescheiterten) Märzrevolution von 1848/1849 vorläufig gipfeln würde. Betrachtet man die Entwicklung linear weiter bis in die Zeit der Reichsgründung 1871 und darüber hinaus, so deutet die Richtung, in die sich Mitteleuropa im 19. Jahrhundert entwickelte – einschließlich aller Reaktionen, Restaurationen und Kulturkämpfe – in eine immer modernere Welt.
Der neuartige Umgang mit dem Boden deutete auf einen säkularen Mentalitätswandel: Die Natur war nicht mehr durch eine mystische „vis vitalis“ belebt, sie war entzaubert.7
So zutreffend dieser Befund für die Sphäre des Eigentlichen (z.B. des Waldes, des Bodens, der Megafauna, etc.) ist, so umgekehrt und anders bildet sich die uneigentliche Natur in der Sprache der wiederum Romantiker ab: sie fliehen zwar aus der Enge der Heimat in die Welt hinaus, wie Susanne Scharnowski die Romantiker charakterisiert hat;8 dort haben sie durchaus mit sehr profanen, vergleichsweise modernen Phänomenen wie dem Bergbau zu schaffen. In ihrer literarischen und künstlerischen Welt aber – man denke nur an die Grimmschen Märchen – bildet sich eine mittelalterlich verbrämte Pseudoumwelt ab.Allerdings ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die dramatischen Farben vieler Sonnenuntergänge auf romantischen Gemälden möglicherweise weniger der Phantasie der Maler entspringen, als dass sie vielmehr dem Umstand geschuldet waren, dass Feinstaubpartikel die globale Atmosphäre in Folge des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora 1815 verdunkelten und dadurch im „Jahr ohne Sommer“ (1816) ganz außergewöhnliche Lichteffekte bewirkten.9 Die Welt vor der Haustür mag weitgehend entzaubert gewesen sein – doch in romantischen Schriften und Gemälden schien sich das genaue Gegenteil abzuspielen.

Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass keine Geschichtsschreibung über das 21. Jahrhundert ohne die zentrale Platzierung der Naturgeschichte auskommen können wird. Doch dies war keinesfalls immer der Fall, und besonders nicht in der Mehrzahl der Historiographien zum 19. Jahrhundert. Wie Wolfram Siemann kurz vor der letzten Jahrtausendwende betont hat, vernachlässigten übliche Betrachtungen zeitlich-epochaler Umbrüche und politischer Ereignisse umweltgeschichtliche Zäsuren: vielleicht, so mag man aus heutiger Sicht annehmen, weil die stattfindende Klimakatastrophe der Gegenwart, die zur Jahrtausendwende schon in vollem Gang war, in Deutschland erst seit wenigen Jahren direkt für alle Menschen spürbar ist. Dabei kann aus heutiger Sicht völlig untergehen, dass für das Gebiet Deutschlands und des restlichen Mitteleuropas bereits ab dem frühen 18. Jahrhundert eine ökologische Revolution eingesetzt hat, deren Spanne Siemann für den Zeitraum 1700-1850 datiert.10 Im Laufe dieser Revolution ab dem frühen 18. Jahrhundert „wandelte sich der menschliche Umgang mit den vier elementaren Umweltmedien Wald, Boden, Luft und Wasser auf grundlegende Weise“, so Siemann.11
Hölzernes Zeitalter, industrielles „Take-off“ und Pauperismus
Dieser neue Umgang war geprägt vom Streben nach maximaler Nutzung regenerativer Ressourcen – die hauptsächlich im Wald wuchsen. Hinsichtlich des Waldes ist dabei von zentraler Bedeutung, dass seine Hauptressource Holz dermaßen knapp geworden war, dass der Volkswirtschaftler Werner Sembart dafür sogar die Epochenbezeichnung des „hölzernen Zeitalters“ gewählt hat. Umwelthistoriker Joachim Radkau spricht sich ebenso für diesen Begriff aus – schlägt aber vor, nicht wie Werner Sembart den gesamten vormodernen Zeitraum als hölzernes Zeitalter zu sehen, welches mit der Verknappung von Holz geendet habe, sondern es genau
(…) auf jene Zeit zu datieren, in der das Holz knapper wird, die Holzgebundenheit der Wirtschaft als ein fundamentales Problem in das Bewusstsein der Zeitgenossen tritt und technische Trends durch den »ökonomischen« Umgang mit dem Holz geprägt werden. Das war in weiten Teilen Mitteleuropas erstmals im 16. Jahrhundert und dann verstärkt im 18. und frühen 19. Jahrhundert der Fall. In fast allen deutschen Regionen wurden Holzverknappung und Holzsparmaßnahmen im 18. Jahrhundert zu einem großen Thema, obwohl die Holzressourcen von Landschaft zu Landschaft ganz unterschiedlich waren. Nicht unbedingt in der natürlichen Ausstattung, aber doch in der Problemwahrnehmung war Deutschland eine Großregion des »hölzernen Zeitalters« und seit dem späten 18. Jahr-hundert auch in der verstärkten Suche nach technischen Problemlösungen.12
Das Steinkohlezeitalter, von dem die Industrielle Revolution ganz zweifellos abhing, war noch nicht angebrochen: dieses setzte in Deutschland erst mit dem sogenannten Take-off zwischen 1850-1875 ein – also erst gegen Heines Lebensende (in Frankreich, 1856). Die aus dem Flugverkehrsjargon übernommene Bezeichnung Take-Off für ‚Abheben‘ hat Walt Whitman Rostow geprägt.13 So berechtigt diese Flugmetapher aufgrund der beschleunigenden Bedeutung der Steinkohle für den Betrieb der Dampfmaschinen erscheinen mag, so stark überblendet sie jedoch, dass es eine industrielle Frühzeit gab – das besagte hölzerne Zeitalter – in dem der Wald und das Holz durchweg im Zentrum standen:
Das herkömmliche Konzept der Industriellen Revolution, das in der Wirtschaftsgeschichte mit technischer Metapher als Take-off, »Start«, wiederbelebt wurde, hat sich für die Technikgeschichte als unzulänglich, wenn nicht gar irreführend erwiesen. Es begünstigte jenes konventionelle, mechanistisch-monokausale Bild der Geschehnisse, in dem Dampfkessel und Spinning Jenny gleichsam als Vater und Mutter der Industrialisierung dastehen, und lenkte davon ab, dass die industrielle Frühzeit von einem breiten, teilweise noch der Erforschung bedürftigen Strom solcher Neuerungen getragen wurde, die vorindustrielle Techniken fortsetzten.14

Einen guten Eindruck von dem, was Radkau hier ins Hintertreffen geraten sieht kann gewinnen, wer den Museumspark Rüdersdorf in der direkten Nachbarschaft der Metropole Berlin besucht. Dort wurde bereits seit dem Mittelalter Kalk abgebaut und verarbeitet, und die dort erhaltenen Kalköfen aus dem 17., 19. und 20. Jahrhundert illustrieren bestens, dass die Industrielle Revolution keinesfalls ausschließlich und plötzlich mit Dampfkessel und Spinning Jenny zu erklären ist.
(Hier wird noch ein Absatz ergänzt, der am Beispiel der faszinierenden, technologischen Veränderungen vor dem Take-off in Rüdersdorf zeigt, wie die Erfindung der Dampfmaschine zwar quantitativ sehr große Bedeutung für die Erzeugung von Branntkalk hatte, wie wenig es aber am grundlegenden Prinzip der Brenntechnik qualitativ geändert hat, welches lange vor dem Take-off revolutioniert worden war, nämlich genauer gesagt um das Jahr 1807)
Wie Joachim Radkau an anderer Stelle betont, gab es unter Heines Zeitgenossen durch die Holznot des 18. und frühen 19. Jahrhunderts durchaus ein Krisenbewusstsein: die im Mittelalter einsetzende und nun zur Verknappung führende Entwaldung der Landschaft führte schließlich zu ganz realer Not unter der Bevölkerung.15 Heine, der in Frankreich in frühsozialistischen – das heißt: zuerst in saint-simonistischen – Kreisen verkehrte, schließlich 1843 Karl Marx traf und ein Jahr später im Weberlied (1844) die Not der schlesischen Weber beschrieb, war sich der Veränderungen seiner Zeit ebenfalls sehr bewusst. Die neue und massenhafte Armut, die sich am Vorabend der Industriellen Revolution bildete, wurde bereits in der zeitgenössischen Literatur als Pauperismus bezeichnet, dem viele Zeitgenossen ratlos gegenüberstanden.16 Im Brockhaus von 1846 wird Pauperismus folgendermaßen definiert:
Der Pauperismus ist da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch die angestrengteste Arbeit höchstens das notdürftigste Auskommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist, in der Regel schon von Geburt an und auf Lebenszeit solcher Lage geopfert ist, keine Aussichten der Änderung hat, darüber immer tiefer in Stumpfsinn und Rohheit versinkt, der Branntweinpest und viehischen Lastern aller Art, den Armen-, Arbeits- und Zuchthäusern fortwährend eine immer steigende Zahl von Rekruten liefert und dabei immer noch sich in reißender Schnelligkeit ergänzt und vermehrt.17
Diese Armut wurde in der vormärzlichen Pauperismus-Literatur als eine historisch neuartige Form von Massenarmut empfunden, wie Hans-Ulrich Wehler feststellt.18 Zu Lebzeiten Heines erreichte das Phänomen seinen Höhepunkt und würde sich erst mit der fortgeschrittenen Industrialisierung und dem wirtschaftlichen Wachstum ab der Jahrhundertmitte entspannen.19Die im Brockhaus-Artikel erwähnte Rasanz erklärt sich auch durch die zunehmende Verstädterung. Eine Folge der Verarmung in dieser Zeit war, wie auch anderswo in Europa (z.B. Irland), die einsetzende Emigration in die Amerikas sowie ins Russische Reich.20 Auch der Pauperismus wird in der heutigen Wahrnehmung, ebenso wie die Holznot, überschattet von den späteren Miseren der Industrialisierung, die im kollektiven Gedächtnis durch lebhaftere, teils schon fotografische Bilder der zeitlich viel näheren Epoche der Hochindustrialisierung fortleben. Folgt man der Zäsur des Take-Offs und Joachim Radkaus Periodisierungsvorschlag, so befanden sich Heinrich Heine und die deutschen Länder beim Verfassen der Romantischen Schule also noch genau im hölzernen Zeitalter, und freilich ist dies ebenso zutreffend für die Weimarer Klassik sowie für die Früh- und Mittelromantik, auf die sich Heine bezieht.

Hell-Dunkel-Metaphorik von Walddunkel und Mittelalter
Wie stark Heine bei seiner Wortwahl des Walddunkels, welches in der Romantischen Schule mit Mittelalter korreliert, von seiner lebensweltlichen Umwelt beeinflusst war – nämlich dem längst wolflosen, im Ganzen gesehen licht gewordenen Wald, den er schließlich in der Harzreise bereiste und ausführlich beschrieb – ist für mich nicht eindeutig feststellbar. In der Harzreise beschreibt Heine die Natur jedenfalls stellenweise auf eine gleichzeitig präzise und metaphorische Art, die nicht (nur) romantisch wirkt, sondern durch seine unverkitschte Bezogenheit auf die Gegenwart eher an den magischen Realismus des 20. Jahrhunderts erinnert. Die Natur wird in der Harzreise allerdings eher positiv und weniger als Gefahr oder Zone mentaler Dunkelheit beschrieben, wie es das gegen die Romantiker aufgeführte Walddunkel vermittelt.21
Es erscheint bei Betrachtung der tiefgreifenden Veränderungen des im Mittelalter noch dichteren, von nun ausgerotteten Raubtieren bewohnten Waldes andererseits nicht als Zufall, dass Heine in Hell-Dunkel-Metaphorik die lichte Aufklärung der dunklen Zeit des Unwissens und der ihm ganz offensichtlich gegen den Strich gehenden Schwärmerei für diese Zeit gegenüberstellt. Die Verwendung von Wald- und Vegetationsmetaphern kann da, wo Heine nicht selbst für die Natur schwärmt, eher als ironische Anspielung verstanden werden, um die Romantiker herabzuwürdigen; sie gibt weniger Auskunft über seine eigene, womöglich negative Haltung der Natur gegenüber. Sie sollte eher als Persiflage nicht nur weltfremder romantischer Träumereien, sondern des konkreten Konservatismus gedeutet werden.22

Romantik, Bergbau, Nachhaltigkeit
Das dunkle Innere der Erde stellte für viele Romantiker eine häufig und metaphorisch anhand von Bergbaumotiven verarbeitete Thematik dar.23 So wurde der Ort der Blauen Blume, die eine der zentralen Vegetationsmetaphern der Romantik war (wenn nicht die zentralste überhaupt), von Novalis im Inneren eines Berges vermutet. Ist dies nun als Weltflucht zu interpretieren, oder hat Novalis‘ Dichtung gar mit Insiderkenntnissen der Geologie und des Bergbaus zu tun? Helmut Gold, der sich in seiner Dissertation mit Bergbaumotiven in der Romantik beschäftigt hat, nennt es einerseits ein Klischee: den Hang der Romantiker der Zeit um 1800 zum Bergbau, der in der irrationalen Lebenseinstellung der Romantiker begründet sei, sowie in ihrem Hang zum Geheimnisvollen und Dunklen in der Natur, was freilich ganz im Gegensatz zur fortschreitenden Entzauberung und den Entdeckungen ihrer Zeit stand.Wie er nicht nur über die Literatur, sondern auch anhand biographischer Bezüge rekonstruiert, stellt er zu den Bergbaukenntnissen der Romantiker fest:
Entgegen hartnäckigen Vorurteilen wußte, wer immer von ihnen über den Bergbau schrieb, wovon er sprach.24

Obwohl fundierte Kenntnisse in diesem Bereich unter den Romantikern also nicht überraschen sollten, wunderte sich dennoch bereits wenige Jahre nach Novalis‘ Tod (1801) Justinus Kerner in einem Brief aus dem Jahr 1810 darüber, dass der Schöpfer der Blauen Blume in Freiberg an der Bergakademie studiert hatte und dass dieser hinsichtlich der Mineralogie und Geologie auf dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit gewesen sein muss:
Es macht aber eine sonderbare Wirkung und stört doch, wenn man sich den Novalis als Amtshauptmann oder als Salzbeisitzer denkt. Das ist entsetzlich! Ich hätte mir sein Leben doch viel anders vorgestellt.25
Novalis erscheint in dieser Wahrnehmung eher wie die zerrüttete Kunstfigur eines enttäuschten Fans – und nicht wie ein privilegierter (adliger), wirtschaftlich wie künstlerisch aktiver Mann seiner Zeit. Unter „Salzbeisitzer“ ist der Beruf des Salinenassessors gemeint – also des Salzabbauers, den Novalis (der eigentlich Friedrich von Hardenberg hieß) ausübte, der außerdem an der Erschließung des Braunkohleabbaus im heutigen Sachsen-Anhalt beteiligt war. Dieser wurde für den weiteren Salzabbau und die Weiterverarbeitung benötigt.26 Zum anderen war da der eingangs bereits erwähnte Goethe, dessen Naturforschungen heute eindeutig im Schatten seiner Leistungen als Dichter und Schriftsteller stehen, der sich jedoch zu Lebzeiten besonders um den Bergbau im thüringischen Ilmenau verdient gemacht hatte, und der von den Romantikern stark rezipiert wurde – wenn dies auch oft von Heinrich Heine als Widerspruch verstanden wurde.27
Wie all diese Beispiele zeigen, waren nicht alle Romantiker ausschließlich romantisch veranlagt. Sie flüchteten auch nicht nur in eine Welt, die gar nicht wie die eigentliche Welt war – oder in einen Wald, der in seiner realen Gestalt gar nicht mehr dem entsprach, was die Romantiker malten und verdichteten. Durch die Furcht vor dem Ende der Ressource Holz kam bereits Anfang des 19. Jahrhunderts der Begriff der Nachhaltigkeit bzw. der „nachhaltigen Benutzung der Wälder“ auf – nämlich in einem Lehrbuch aus dem Jahr 1804 des nassauischen Oberforstrats Georg Ludwig Hartigs:
Aus den Waldungen des Staates soll jährlich nicht mehr und nicht weniger Holz genommen werden, als bei guter Bewirtschaftung mit immerwährender Nachhaltigkeit daraus zu beziehen möglich ist.28
Die Frage des Zustandes des eigentlichen Waldes in Deutschland hängt direkt zusammen mit jener des Bodens, der Bodennutzung und der Bodenmetaphorik. Auch hinsichtlich der agrarischen Bodennutzung erlebten Heine und seine romantisch veranlagten Zeitgenossen eine Zeitenwende: die Landwirtschaft wurde nun unter dem Einfluss von Albrecht Daniel Thaer aus Celle wie eine Wissenschaft betrieben, sodass die Erträge der Böden unter Einsatz chemikalischer Düngemittel gesteigert und wettbewerbswirtschaftlich behandelt werden konnten. Thaer gilt in Deutschland als Begründer der Agrarwissenschaften und veröffentlichte zwischen 1804 und 1812 sein vierbändiges Hauptwerk Grundsätze der rationellen Landwirtschaft.29
All diese Aspekte sind von großer Bedeutung, weil sie nicht nur die naturräumlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts verdeutlichen, sondern die Lebenswelt einer Gesellschaft beschreiben, die dabei war, sich von einer Ständeordnung zu einer Marktwirtschaft von Privateigentümern zu verwandeln.30 Diese Zeit, die jüngere Neuzeit nach der Französischen Revolution, stand durch die von Siemann genannten Veränderungen der eigentlichen Natur – ob Wald, Gebirge, Boden, Luft oder Wasser – auf der Schwelle, auch im Denken durch und durch modern zu werden.
Fertig gestellt in der Silvesternacht 2022 bei 16°C in Berlin.
Fußnoten
1 Fulda, Daniel: Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs, in: Décultot, Elisabeth/ Fulda, Daniel (Hg.) (2016). Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 52). Walter de Gruyter, S. 1-2.
2 Vgl. Lakoff, G. & M. Johnson. (1980). Metaphors We Live By. Chicago/London: The University of Chicago Press.
3 Freilich gab es Ausnahmen, wie zum Beispiel Norbert Elias – obwohl sich auch Elias weniger an der grundsätzlichen Trennung gestört zu haben scheint, als vielmehr daran, dass naturwissenschaftliche Maßeinheiten unhinterfragt auf die Soziologie übertragen wurden, oder auch daran, dass es zu einer immer weiteren Spezialisierung und Überspezifizierung gekommen ist.
4 Unter Problem-Genese verstehe ich das quasi eingebaute Hervorbringen von Problemen über die Verschränkung einer misslichen Begrifflichkeit, wie zum Beispiel ‚Wachstum‘, mit der eigentlichen Umwelt, in der die nicht in Frage gestellte, eigentlich ideologische Idee des Wirtschaftswachstums zu Umweltzerstörung führt. Problem-Genese ist also eher im Sinn einer generativen Logik, generativen Grammatik oder auch der Risikoproduktion (wie bei Ulrich Beck) zu verstehen. Wahrscheinlich schaffe ich es nicht, dies hier in diesem Beitrag ganz auszudiskutieren.
5 Hobsbawm, Eric (1996). The Age of Revolution: Europe 1789-1848. London: Vintage. Ders. (2006). The Age of Capital: 1848-75. London: Abacus; Ders. (1989). The Age of Empire: 1875-1914. New York: Vintage. Demgegenüber stellt Hobsbawm das 20. Jahrhundert als „kurzes 20. Jahrhundert“ dar, vgl. Ders. (1995). The Age of Extremes: The Short Twentieth Century, 1914-1991. London: Abacus.
6 Ther, Philipp (2012). Die dunkle Seite der Nationalstaaten: „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
7 Siemann, Wolfram: Die ökologische Revolution: Der neue Umgang mit der Natur, in: Piereth, Wolfgang (Hg.)(1997): Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1815-1918 (Mit einem Vorwort von Wolfram Siemann). München: C. H. Beck, S. 73-74. Hier S. 79.
8 Scharnowski, Susanne (2019): Heimat: Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt: wbg Academic.
9 Vgl. Zeilinga de Boer, Jelle / Sanders, Donald Theodore (2005): Volcanoes in Human History: The Far-Reaching Effects of Major Eruptions. Princeton: Princeton University Press, S. 113 ff.
10 Siemann, Wolfram: Die ökologische Revolution: Der neue Umgang mit der Natur, in: Piereth, Wolfgang (Hg.)(1997): Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1815-1918 (Mit einem Vorwort von Wolfram Siemann). München: C.H.Beck, S. 73-74.
11 Siemann, a.a.O., S. 74.
12 Radkau, Joachim (2008): Technik in Deutschland: Vom 18. Jahrhundert bis heute. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag, S. 74.
13 Vgl. Rostow, Walt Whitman (1960): The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto. Cambridge: Cambridge University Press.
14 Radkau, Joachim (2008): Technik in Deutschland: Vom 18. Jahrhundert bis heute. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag, S. 73.
15 Radkau, Joachim (1983): Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 9. Jahrgang, Heft 4, S. 513-543.
16 Von lat. pauper für arm.
17 zit. nach Schulze, Hagen: Die Bevölkerungsexplosion, in: Piereth, Wolfgang (Hg.) (1997): Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1815-1918 (Mit einem Vorwort von Wolfram Siemann). München: C. H. Beck, S. 23.
18 Wehler, Hans-Ulrich: Pauperismus – Gesellschaftskrise des Vormärz, in: Piereth, Wolfgang (Hg.) (1997): Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1815-1918 (Mit einem Vorwort von Wolfram Siemann). München: C. H. Beck, S. 25.
19 Ebda, S. 29.
20 Schulze, Hagen: Die Bevölkerungsexplosion, S. 22 sowie Rößler, Horst: Massenexodus: Die Neue Welt des 19. Jahrhunderts, in: Piereth, Wolfgang (Hg.)(1997): Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1815-1918 (Mit einem Vorwort von Wolfram Siemann). München: C.H.Beck, S. 30-33.
21 Heine, Heinrich (1995): Die Harzreise und andere Reisebilder. Werke in fünf Bänden (Bd. 2). Köln: Könemann.
22 Allerdings wird die Hell-Dunkel-Metaphorik zur Kontrastierung von Zurückgebliebenheit einerseits und Fortschritt und Aufklärung andererseits auch in anderen Kontexten verwendet, wie ich in meiner Dissertation am Beispiel der vorherrschenden Bilder über die osmanische Periode auf dem Balkan und in der Türkei beschrieben habe. So wird das Land Bosnien in selbstkritischer, stereotypischer Sprache als „Finstere Provinz“, nämlich tamni vilajet, bezeichnet, um durch den Turzismus vilajet (vilayet) die türkische Zeit implizit für die eigene Zurückgebliebenheit im Gegensatz zu anderen Teilen Europas verantwortlich zu machen. Vom Wald ist dabei nie die Rede, obwohl Bosnien als stark bewaldetes Land bekannt ist.
23 Gold, Helmut (1990): Erkenntnisse unter Tage: Bergbaumotive in der Literatur der Romantik ( = Veröffentlichte Inauguraldissertation der Johann Wolfgang Goethe Universität zu Frankfurt am Main). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
24 Gold, Helmut, a.a.O., S. 19.
25 zit. nach Gold, Helmut, a.a.O., S. 15.
26 Ausführlich zu Novalis bei Stanlowski, Volker (1979): Natur und Staat: Zur politischen Theorie der deutschen Romantik (Sozialwissenschaftliche Studien, Heft 17). Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 25-85.
27 Gold, Helmut (1990): Erkenntnisse unter Tage, S. 15.
28 zit. nach Siemann, a.a.O., S. 75.
29 Siemann, S. 77.
30 Siemann, S. 76-77.