Im April dieses Jahres habe ich das Buch Erzählende Affen von Samira El Ouassil und Friedemann Karig ausgelesen. Auch wenn ich in der etwas überdimensioniert geratenen Qualitäts-Schwarte1490 Seiten Fließtext — insbesondere in den Kapiteln über Identitätspolitik — einiges an substanzieller Kritik hatte, empfehle ich das Buch als lehrreiches, unterhaltsam geschriebenes Nachschlagewerk für alle, die noch einmal einen gut recherchierten Überblick zum Thema Storytelling lesen möchten. Denn welche Aspekte von Wirklichkeit lassen sich heute eigentlich nicht wie ein einziges Zwischenspiel immer neuer Figuren, Plots, Stories und Narrative erfassen?
Über die schiere Relevanz der Frage, welche Geschichten wir uns über Vergangenheit, Gegenwart, uns selbst und vor allem unsere Zukunftsvisionen erzählen, sind sich trotz aller weltanschaulicher Unterschiede viele Autoren einig.2Harald Welzer hat die Bedeutung des Geschichtenerzählens bzw. erzählen Könnens am Ende seines Buches Klimakriege hervorragend auf den Punkt gebracht. Vgl. Welzer, Harald (2014 [2008] ): Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. Uneinigkeit besteht — neben den Inhalten oder Plots der Erzählungen — vielmehr in der uralten philosophischen Frage, ob das Erzählen der Wirklichkeit über letztere erhaben ist, oder ob sich die Wirklichkeit in der Erzählung abbildet. Meiner Meinung nach sind beide Komponenten wesentlich und auf eine komplexe Weise eng miteinander verbunden. Und nachdem wir uns über solche Fragen seit Jahrtausenden uneins sind, muss dies hier nicht vorschnell beantwortet werden.
El Ouassils und Karigs Buch ist nicht nur in sich übersichtlich, logisch und narrativ strukturiert. Indem sie auf Joseph Campbell, einen Klassiker der Mythos-Forschung, referieren, liefern El Ouassil/Karig einen breiten Überblick über wichtige Erzählfiguren, Plots, Narrative und Masternarrative.3Campbell, Joseph (2024): Der Heros in tausend Gestalten. Berlin: Insel Verlag. Darunter finden sich zum Beispiel die abgehalfterten Figuren Vom Tellerwäscher zum Millionär (rags to riches) oder des Selfmademan (self-made man), die aus heutiger Sicht eher wie bleiche Abziehbilder der großen Mythen des 20. Jahrhunderts wirken; aber auch zahlreiche Filmbeispiele werden mit der präsentierten Theorie aufgeschlüsselt. Von Campbell, der auf die Jung’schen Symbole und Archetypen4Vgl. Jung, Carl Gustav (1948): Symbolik des Geistes. Studien über psychologische Phänomenologie mit einem Beitrag von . Zürich/Stuttgart: Rascher Verlag, S. 373 ff., die literarischen Vorlagen James Joyces (Finnegans Wake), religionswissenschaftliche Grundlagen u.v.m. aufbaut, wurde zum Beispiel der Begriff des Monomythos in seiner gegenwärtigen Verwendung geprägt. Dieser stellt im Grunde eine abgespeckte Variante des Motivs der Heldenreise in den unterschiedlichsten Varianten dar — womit ich schon bei den zentralen Fragen dieses Beitrags angelangt wäre:
- Was ist heute eigentlich unter einem Helden, einer Heldin zu verstehen?
- Und wer wäre dann, entsprechend einer umgekehrten Heldenreise — ein Antiheld?
- Wieviel haben heutige Helden- und Antiheldenfiguren angesichts der zweiten Trump-Wahl in den USA — die mit Hollywood vielleicht als popkulturelles Kernland des Storytellings und zeitgenössischer Heldenerzählungen gelten können — mit Freiheit, politischem Gemeinwesen und zukunftsfähigen Visionen zu tun?
- Und abschließend: Wie dringend haben wir denn nun Heldenfiguren5Wenn hier von Helden und Heldenfiguren die Rede ist, dann bezeichnet diese Pluralform selbstredend alle Geschlechter. Es handelt sich hierbei nicht um ein generisches Maskulinum, sondern um eine neutrale Pluralform. Dasselbe gilt für alle weiteren belebten und unbelebten Kollektiva in diesem Text. und große Erzählungen überhaupt nötig?
- Was fangen wir, im Umkehrschluss, mit den zeitgenössischen Antihelden, mit postmodernem Pessimismus und dem Kampf gegen große Erzählungen im Allgemeinen an?
- Wohin reisen wir — wenn wir dies nicht einmal am Beispiel einer großen Erzählung über die Zukunft unseres Planeten visualisieren können, weil wir im ständigen Kampf kleiner, hermetischer Identitäten gefangen sind?
Figurative Helden und Großerzählungen umgeben uns permanent, sobald wir eine Serie oder Film sehen oder im Gaming abtauchen: Man denke nur an Game of Thrones, Herr der Ringe, Muhteşem Yüzyıl6Dt. Das osmanische Imperium – Harem: Der Weg zur Macht, Breaking Bad, The Sopranos oder Mad Men. Dort entfalten sich Helden, Antihelden, Figuren über Figuren und ihre Geschichten in dermaßen epischen Längen, dass die Generationen prägenden Filmmonumente Ben Hur und Spartacus daneben wie Kurzfilme daherkommen. Mit Binge Watching, Komaglotzen oder Serienmarathon gibt es sogar neue Begriffe für das weit verbreitete Bedürfnis, in diese Pseudo-Umwelten abzugleiten; für andere Konsumenten wird diese Zeit mit Computerspielen ausgefüllt. Womöglich ist diese Form des extremen medialen Konsums sogar ein besonders deutlicher Ausdruck von Zeitgeist: Ist uns die Wirklichkeit einfach so abspenstig geworden, dass wir am liebsten aus ihr fliehen wollen?7Von der mehrstündigen Zeit am Smartphone-Screen ganz zu schweigen.
Eine besonders große Nachfrage nach Helden und Großerzählungen ist damit zunächst einmal empirische Gewissheit. Natürlich kann man zwischen Weltflucht, Biedermeier, Idiotie, Sucht oder Nostalgie hier unterschiedliche Deutungen anführen, um diese enorm voluminösen Rückzüge in Fiktionalität zu erklären. Und selbstverständlich könnte man auch eine scharfe Trennlinie zwischen den Pseudo-Umwelten der Fiktion und der nicht-fiktionalen Wirklichkeit ziehen. Doch wie ist es um Helden und Großerzählungen außerhalb von Fiktion bestellt?
In den letzten Jahrzehnten nach dem angeblichen Ende der Geschichte — also dem Kalten Krieg — wurde das Thema des Heldentums und der Heldenlosigkeit relativ breit diskutiert, etwa in der Debatte über heroische und postheroische Gesellschaften.8Vgl. Münkler, Herfried: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur Nr. 700, September 2007 Die Einen wollten eine zunehmend postheroische Gesellschaftsentwicklung beobachten, insbesondere in westlichen, säkularen Gesellschaften, die sich von der Verehrung ihrer Vorväter und einer alles überthronenden Gottheit weit entfernt haben.
Die Figur des Helden ist ein gesellschaftliches Faszinosum, von der Ilias als der ersten großen Darstellung heroischer Werte und Lebensformen bis zu den Hollywoodproduktionen unserer Tage, die ihre für den Kassenerfolg ausschlaggebende Spannung nicht selten aus dem Aufstieg, Triumph und Untergang des Helden beziehen. Dabei ist der Held keineswegs zwangsläufig ein Krieger; es gibt auch »Helden des Alltags«, deren Heroentum sich nicht im Kampf mit Waffen und in der Tötung des Gegners erweist. Aber die Vorstellung vom Helden ist doch zumeist eng mit Gewalt und Krieg verbunden. In jedem Falle aber ist für die Attribution des Heroischen der Gedanke des Opfers zentral: Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens.9Münkler, Herfried: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur Nr. 700, September 200710.
Gerade westlich-säkulare Vertreter der vermeintlich postheroischen Gesellschaften hegen ein tiefes Unbehagen über die Vorstellung von Helden im Allgemeinen. Helden außerhalb von Fiktion oder figurativer Rede („Lieferheld“, „Working hero“, etc.) werden eher mit gefährlichen Führern, Patriarchen oder Gotteskämpfern assoziiert. Helden bringen Opfer, Helden fallen oder sterben Martyria — wie im Zitat Herfried Münklers: Das gilt als historisch. Ungläubig wird aus dieser Warte auf die Zunahme atavistischer Führerfiguren geblickt, deren Zeitalter man eigentlich überwunden geglaubt hatte — man denke nur an den barbusigen Putin auf seinem Gaul in Sibirisch-Fernost oder den zornig „Ey, Europa!“ brüllenden Erdoğan mit seinem vierfingrigen Gruß. Sie gerieren sich gerne als Rachehelden der Underdog-Völker, indem sie betonen, es dem „Westen“ gegenüber immer schon gewusst zu haben.
Unaufgeregt stellen Andere hingegen fest, dass Helden- und Führerfiguren überhaupt nie am Verschwinden oder Wiedererstarken gewesen seien. Die Annahme, säkulare, nicht-fiktive Helden würden mit zunehmender Modernität an Bedeutung verlieren, schenke globalen Entwicklungen nicht genügend Gewicht: Waren die Protagonisten islamistischer Regime, die über Selbstmordattentate glaubten, den Märtyrertod sterben zu können, kein Beweis dafür, dass Heldentum mit all seinen Schattenseiten unvermindert Hochkonjunktur hat? Doch man muss sich nicht diesen extremen Ausprägungen von Heldenkult zuwenden: Wer einmal den Tempelbezirk zu Washington D.C. betreten hat oder an einem türkischen Feiertag in Ankara das Anıtkabir, das Mausoleum Atatürks, besucht hat, kann sich von sehr lebendigen Heldenkulten überzeugen.
Rausch: Akronyme und Neologismen retten die Welt
In mindestens ebenso großem Ausmaß, wie Heldentum, heldische Figuren und große Geschichten produziert werden, sind nicht-heldische Figuren in Gestalt von Akronymen und Neologismen ein typisches Merkmal unserer Zeit. Diese werden unentwegt und in unüberschaubarer Zahl und Varianz produziert, lehnübersetzt und durch die Algorithmen der kapitalistisch-oligarchischen Meinungsplattformen getrieben.
Es ist einigermaßen müßig geworden, zu versuchen, mit dem Stakkato immer neuer Akronyme und Neologismen überhaupt noch mithalten zu wollen. Ob Flinta* oder BiPoC, LGBTIQ* oder Terf, Incel oder Non-Binäre, Ally oder Token (etc.): Sie alle stellen zusätzliche Figuren dar, die in den jüngsten Erzählungen immer irgendwo mitgedacht werden müssen. Ohne im Einzelnen auf diese Figuren einzugehen, kann vielleicht ein Grundcharakteristikum beschrieben werden, das ihnen allen zueigen ist: Es handelt sich nicht um Heldenfiguren. Auch die Menschen hinter diesen Figuren sind weder von Heldentum noch von großen Erzählungen getrieben. Sie artikulieren damit, wenn man so will, etwas viel Kleineres: Sie predigen Individuum, Identität und in maximaler Ausprägung Gruppenidentität. Ich will natürlich auf Verfechter von Identitätspolitik hinaus.
Es wird jetzt etwas kompliziert, und ich muss hier eine relativ weit ausschweifende Klammer öffnen, bevor ich zu den sogenannten „Bros“ und Oligarchen der Tech-Branche kommen, die sich selbst gerne in der Rolle von Helden geben.
Denn einerseits steckt hinter Identitätspolitik oder, mit Yascha Mounks Begriff, hinter der Identitätssynthese eine zusammengebastelte Ideologie, die sich explizit gegen Helden und insbesondere gegen große Erzählungen ausspricht. Die Figuren, die in diesen Milieus produziert werden, sind entweder Bösewichte, Täter, Verräter, (Erb-)Sünder und Trickster — oder aber Opfer, Unterdrückte, Entrechtete, Verratene und Bedrohte. Helden oder eine große Erzählung in eine lichte Zukunft, womöglich über den Weg großer Opfer, wird man hier vergebens suchen. Verfechter und „Erwählte“ (McWhorter) der von Yascha Mounk, Omri Boehm, Susan Neiman oder John McWhorter beschriebenen Orthodoxie von Identitätspolitik — genannt werden immer wieder Robin DiAngelo, Ta-Nehisi Coates, Ibram X. Kendi und ihre Jünger — sind dagegen von einem extremen Pessimismus getragen.
Der pessimistische Blick der „Erwählten“, so der afroamerikanische Autor John McWhorter, sieht permanent die Apokalypse vor der Tür stehen und dass nie irgendetwas besser wird — auch wenn Empirie und Zahlen etwas anderes sagen. McWhorter erklärt diesen Pessimismus auch damit, dass eine Verbesserung der beklagten Verhältnisse die Daseinsberechtigung der Erwählten und ihrer Sendung schmälern würde: In den USA bedeutet das, so seine Kritik, zu behaupten, für Schwarze US-Amerikaner habe sich seit der Sklaverei gar nichts verbessert — obwohl dies empirisch falsch sei. Im Prinzip profitiert der sogenannte Klerus der „Erwählten“, so McWhorter, vom Fortdauern einer „ewigen Jauchengrube“.11Vgl. besonders Kapitel 2 / Die neue Religion / Für die Erwählten steht die Apokalypse vor der Tür, in: McWhorter, John (2023). Die Erwählten: Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 61 ff.
Mit jeder neuen Kreation einer Figur wird reklamiert, eine noch adäquatere Möglichkeit in die Welt gesetzt zu haben, ohne die man die soziale Diversität höchstens noch oberflächlich — wenn nicht gar menschenfeindlich und falsch — erklären könne. Mein Eindruck ist sogar, dass die Produktion all dieser Figuren inzwischen das Denken stark informiert, ja gewissermaßen formatiert hat: Alles, was in der sozialen und politischen Welt beobachtet wird, muss in eine der zur Verfügung stehenden Figuren gedacht werden. Wenn es keine adäquate Figur gibt, wird rasch eine neue geschaffen oder aus dem unendlichen Repertoire des WWW lehnübersetzt. Zuletzt ist dies übrigens an der relativ jungen Figur der Bros zu beobachten, die nun in der deutschsprachigen Meinungspresse der Leserschaft erklärt wird, um fortan voraussichtlich den viel zutreffenderen Begriff des Oligarchen zu verwässern.
Andererseits hängt der Produktions- und Vermarktungsprozess dieser nicht-heldischen Figuren auf direkte, aber auch auf komplizierte Weise mit dem Erstarken der „Bros“ und Oligarchen der Tech-Branche zusammen. Das Sprudeln dieser Akronyme und Bezeichnungen wäre nämlich nicht denkbar ohne den algorithmischen Mahlstrom der Social Media, dessen Kraft völlig falsch eingeschätzt wurde. Denn als die oben genannten (sowie eine Unzahl weiterer, oft schnell wieder in Vergessenheit geratener) Neologismen immer zahlreicher in den kapitalistischen Meinungsplattformen auftauchten, galten Plattformen wie Twitter/X oder Facebook Vielen noch als demokratisierende Vektoren. Auch deshalb machten diese Wortschöpfungen anfangs auf Viele den Eindruck, die Welt vielleicht tatsächlich ein bisschen besser machen zu können. Man erinnere sich nur einmal an den sogenannten Arabischen Frühling, als reihenweise autoritäre Regime zu stürzen schienen — um recht bald durch nicht weniger autoritäre Folgeregime ersetzt zu werden: Damals ist eine ganze Reihe von Arbeiten über die Rolle von Social Media (wie Facebook) bei den arabischen Revolutionen erschienen.
Kater: Hinter den Social Media stecken gar nicht die Guten
Ungefähr zu der Zeit, als liberale, freiheitsliebende und über alle Grenzen hinweg in Solidarität denkende Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern voller Euphorie auf die arabischen Proteststürme von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien blickten, wurde auch Elon Musk zumeist noch als positive Figur wahrgenommen.
Spätestens mit den jüngsten Eskalationen jedoch hat bei vielen demokratisch und liberal eingestellten Menschen Ernüchterung eingesetzt — um nicht zu sagen: Katerstimmung. Den vorläufigen Höhepunkt der Desillusionierung bildet die zweite Trump-Wahl, zusammen mit den immer dreisteren Auftritten der neuen Oligarchen. Letztere konnten sich dank einer Mischung euphorischer, unkritischer Haltungen gegenüber Social Media einerseits und politischer Untätigkeit andererseits in aller Ruhe — und innerhalb weniger als zweier Jahrzehnte — zu ihrer heutigen Größe aufblähen.
Inzwischen haben wichtige Lernprozesse stattgefunden. Erstens wurde von vielen Analysten erkannt, dass Twitter/X, Facebook und vergleichbare Social Media nicht einfach nur Meinungen eine Plattform boten — sondern dass es sich um eine Art destruktiven Meinungskapitalismus handelt. Zweitens mehren sich endlich die Stimmen, die in den Eigentümern, Lenkern und letztlich Profiteuren der meinungskapitalistischen Plattformen das erkennen und benennen, was sie auch sind: Oligarchen.
Jaron Lanier hat die Funktionsweise der Social Media in seinen Zehn Gründen, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst zunächst auf eine sehr einfache Formel gebracht: Social Media machen Menschen zu „Arschlöchern“ (seine Ausdrucksweise). Das perfide an den — wohlgemerkt geschlossenen und geheimen — Algorithmen der Social Media ist dabei, dass sie oft zuerst einen positiven Trend unterstützen. Das tun sie jedoch nur, um danach zu viel höheren Profitraten in ihr genaues Gegenteil umzuschlagen. Wer etwa geglaubt hat, die Social Media hätten eine „positive Rolle“ im Arabischen Frühling gespielt, wurde laut Lanier getäuscht: das war nur der erste Streich. Der zweite Pendelschlag dagegen war viel verheerender als das, was davor bestand. Nun muss man traurigerweise einschränken, dass dies zwar von vielen Analysten erkannt worden ist — doch keineswegs im politischen Prozess.
Bros? Oligarchen!
„Was für eine Hackfresse“. Ja, nicht sehr nett formuliert, aber das war das erste, was mir in den Sinn kam, als ich das schrille Bild von Elon Musk zusammen mit Donald Trump auf einer Wahlkampfbühne in den USA gesehen habe, wo Elon Musk (geb. 1971) wie ein Teenager in die Luft springt. Er trägt ein Baseballcap, eine schwarze Hose mit großer Gürtelschnalle, T-Shirt unter Jacket, das Shirt hebt sich beim Sprung, es gibt seinen Bauch frei. Fast müsste man sich fremdschämen, doch zuvor erschöpfen sich die Empathieregister wieder. Musk steht hinter Donald Trump, der links neben ihm im Bild abgebildet ist und ins Mikro spricht. „Alles was aus seinem Mund kommt, ist Scheiße“, hat meine Stiefschwester vor ein paar Monaten resümmiert (auch nicht sehr nett formuliert), und wer wollte ihr nicht beipflichten?
Aber leider ist es nicht so einfach: Der Erfolg dieser neopopulistischen und oligarchischen Protagonisten ist weit mehr als ein Treppenwitz der Geschichte. Über Trump muss an dieser Stelle nichts weiter gesagt werden: die Befunde liegen ebenso vulgär wie offensichtlich auf den Stammtischen und akademischen Pults der restlichen Welt. Viel interessanter ist die Person Elon Musk, für den in den deutschen Medien schnell die Figurenbezeichnung Bro herbeigegoogelt worden ist.
Das Wort scheint es irgendwie auf den Punkt zu bringen, zu vermitteln: Ja! Genau das ist es! Wie in einer Netflix-Serie oder einer anderen Quality-TV-Produktion! Auch wenn man den Eindruck gewinnen kann: Bei genauerer Betrachtung kann man jedoch feststellen, dass dieses Wort gar nichts aussagt und keinerlei politischen Wert hat. Wir sitzen nicht in einer TV-Serie. Elon Musk ist kein Bro. Er ist ein Oligarch.
Dazu hatte ich 2022 einen Blogpost unter dem Titel Müssen wir Oligarchie neu denken? geschrieben, weshalb ich das an dieser Stelle nicht näher ausführe (auch wenn dazu noch viel mehr zu sagen wäre).
Und die Erfolge von Bro Elon sind ziemlich real. Ich sitze fast täglich in der S-Bahn, manchmal auch in der Regionalbahn in Richtung Erkner. Das liegt ganz in der Nähe des Tesla-Werks bei Grünheide. Im Sommer sitzen in den selben Bahnen junge Männer und Frauen mit schwarzen T-Shirts mit Tesla-Logo: Sie sind auf dem Weg zu ihrer Arbeit. In zeitgenössischer Terminologie würde man sagen, dass es sich dabei um eine äußerst diverse Belegschaft bei Tesla handelt. Viele kommen aus Südasien, aus afrikanischen, aus arabischen Staaten; lingua franca: meistens Englisch. Öfters schon wollte ich mal Leute in Tesla-Shirt fragen, wie sie ihre Arbeit dort so finden. Was sie zu Tesla, zu Musk, zu the problematique sagen würden… Sie machen auf mich im Zug eigentlich keinen geknechteten und unglücklichen Eindruck. Aber das kann ja täuschen.
Vielleicht sind sie auch begeisterte Anhänger von Tesla. Bei RBB gab es vor kurzem jedenfalls einen Beitrag, in dem festgestellt wurde, dass es das Tesla-Werk innerhalb von nur fünf Jahren vom Reißbrett zu einer riesigen Fabrik geschafft hat — also etwas ganz untypisches für Berlin und das direkte Umland, wo sich ein Flughafenbau schon mal locker über zwei Dekaden erstreckt. Ich muss jetzt denke ich nicht auf die Details eingehen — es ist wahrscheinlich bekannt, wie windig dieses ganze Projekt des Tesla-Werks entstanden ist, wie es sich um politische Vorgaben oder Umweltbedenken herzlich wenig scherte. Wenn man sich den RBB Beitrag sowie viele Kommentarspalten durchliest, kann jedenfalls der Eindruck entstehen:
Die Oligarchen schaffen, was die Politik nicht schafft.
Tech-Oligarchen wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg, die in aktuellen Kommentaren oft mit der Figur des Bro bezeichnet werden, geben sich wie Helden und werden teilweise auch als solche zelebriert — obwohl sie nichts anderes tun, als den politischen Prozess auszuhöhlen und die liberale Demokratie effektiver als alle Putins, Erdoğans, Orbáns und Xi Jinpings zusammen zu bekämpfen. Und was mich daran wirklich besorgt ist der Pessimismus auf dem politischen Feld. Während die Oligarchen triumphieren, redet die öffentliche Meinung, die sich über die Meinungsplattformen derselben Oligarchen artikuliert, sich selbst schlecht. Nichts wurde erreicht, nichts wurde jemals besser, die Welt ist ein einziges Jammertal.
Ich denke, damit sollte jetzt endlich Schluss sein. Es muss ein Umdenken stattfinden. Dieses Umdenken darf nicht auf Plattformen stattfinden, welche diesen Vorgang verunmöglichen. Die eingangs aufgeführte Frage: Wohin reisen wir? kann ich hier natürlich nicht beantworten — sofern es sich um mehr als eine reine Beschreibung, sondern um eine Zukunftsvision handeln soll. Wohin die Oligarchen reisen, wissen wir jetzt. Dass sie keine Helden sind — das sollte jetzt denke ich auch klar sein. Ob wir Helden brauchen — darüber bin ich mir unsicher. Aber gute Beispiele, gute Ideen, gute Fahrpläne: Das sollte nicht zuviel verlangt sein. So wichtige Ressorts wie Digitalisierung oder Außenpolitik mit Parteigewächsen ohne Affinität zur Sache oder erprobte Kompetenz zu besetzen kann nur der falsche Weg sein.
Referenzen
Bildquelle Coverbild: Bild von Vinson Tan ( 楊 祖 武 ) auf Pixabay
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Neiman, Susan (2023): Links ≠ woke. Berlin: Hanser.
Welzer, Harald (2014 [2008] ): Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.