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Kränkung und Identität Neomotion

Essay: Identity in the doghouse (II)

Ein Grundproblem des Diskurses über Identitätspolitik im Zusammenhang mit dem Nahostkrieg liegt dort begraben, wo die Kritik am Identitarismus der Anderen aufhört, aber die Selbstkritik am eigenen Bestreben nach Selbstvergewisserung nie beginnt. Im Wort Selbstvergewisserung steckt zum Einen das ‚Selbst‘, was den Kern von Identität verührt, andererseits auch das ‚Gewissen‘. Teil II des Essays über Identitätspolitik.

Woke Abgründe – zu spät erkannt?

Jens Balzers Essay After Woke, der dank seiner Kürze, aber auch anlässlich seiner problematischen Auslassungen und Einseitigkeiten hier den Ausgangspunkt für die weitere Auseinandersetzung bildet, ist in fünf Abschnitte gegliedert. Er beginnt mit einem einleitenden Teil, in dem der Autor zunächst noch einmal den Terror der Hamas in seiner schrecklichen Banalität beschreibt:

[M]anche sind in Jogginghosen gekleidet, tragen Freizeitlatschen, als ob sie von der ganzen Geschichte zufällig erfahren hätten (…)1Balzer, S. 6.

Die Haltung der Täter beschreibt er mit Referenz auf Klaus Theweleits Psychogramm der Tötungslust am Beispiel des norwegischen Terroristen Breiviks (Theweleit 2015), aber auch anderer Amokläufer — nämlich als „lachende Täter“ (Balzer 2024: 7). Das fügt sich einerseits in das Bild feiernder arabischer Menschen auf der Berliner Sonnenallee ein, die aus sichtbarer Freude über den Überfall auf Israel Baklava und Süßigkeiten verteilt haben, was sofort mit der Rede einiger prominenter und weniger prominenter „Linker“ oder „Progressiver“ einherging, es habe sich um einen „Ausbruchsversuch“ oder einen „Befreiungsschlag“ der Palästinenser gehandelt. In diesem Zusammenhang lässt Balzer noch einmal die nach wie vor schwer fassbare Reduktion des Terrors durch Intellektuelle wie den britischen Autor Tariq Ali oder die US-Influencerin und Autorin Najma Sharif Revue passieren. Letztere hatte auf der Plattform X gepostet:

What did y’all think decolonization meant? Vibes? Papers? Essays? Losers.2Zit. nach Balzer, S. 10.

Natürlich bleibt auch Judith Butler (irgendein Pronomen) nicht unerwähnt, um die* sich über die letzten Jahrzehnte ein regelrechter Personenkult in queerfeministischen, „woken“ und vermeintlich postkolonialen Kreisen gebildet hatte; ganz im Sinn des von John McWhorter beschriebenen Hohepriestertums einer woken Quasi-Religion könnte man sie auch als eine Hohepriesterin ansehen. Eva Illouz ist nach den wiederholten Interventionen Butlers zugunsten terroristischer und illiberaler Formationen und Regime dagegen hart mit der Autorin von Gender Trouble ins Gericht gegangen, die sie vielmehr als „Quacksalberin“ einstuft:

Judith Butler hat ihre Karriere darauf aufgebaut, Begriffe wie Objektivität, Essentialität und Wirklichkeit in Frage zu stellen. Aber jetzt verlangt sie eine Mega-Objektivität, einen Mega-Beweis, eine Objektivität jenseits der verfügbaren Rekonstruktionen, Bilder, Videos und forensischen Analysen. Und da sie ein mitfühlendes Herz hat, kündigt sie an, dass sie die Vergewaltigungen „beklagen“ würde, wenn diese Beweise geliefert würden. Die Unanständigkeit von Butlers Worten entweiht das Gedenken an jene Frauen, die gefoltert und vergewaltigt, erschossen oder erstochen wurden. Sie disqualifizieren Judith Butler für immer, zu den Feministinnen gezählt zu werden.3Illouz, Eva: Warum Judith Butler keine Linke ist, in: Der Freitag vom 12. 03. 2024, URL: https://www.freitag.de/autoren/eva-illouz/eva-illouz-warum-judith-butler-keine-linke-ist (zuletzt abgerufen am 2.11.2024).

Dem ist wenig hinzuzufügen: Butler relativiert, euphemisiert, negiert und koaliert — nicht zum ersten Mal — auf eine Weise mit islamistischen Bewegungen, die ich durch ihre Reichweite und Popularität bis weit hinein in genuin nicht-islamistische Milieus als Pop-Islamismus und pop-islamistisch bezeichne. Dass sie dabei z.B. iranischen Frauen und LGBTIQ in den Rücken fällt — weder sie noch ihre Gefolgschaft scheint’s zu kümmern; und es würde ja auch gar nicht ins Bild passen — so wenig, wie frühere Interventionen und kritische Analysen zu Judith Butler, etwa durch die Philosophin Martha C. Nussbaum, je ins Bild des Butler-Kults gepasst haben (Nussbaum 1999). Insofern die Pop-Ikone Butler historische, politische und weltanschauliche Kontexte — von denen sie vermutlich auch nur wenig Ahnung hat, wie ihre mangelnde Kenntnis der Hamas-Charta beweist — wie Versatzstücke behandelt und selektiv zubereitet, kann sie als Populistin gelten. Oder besser gesagt — im Sinne der übrigen Beobachtungen dieses Forschungsprojekts, dass populistische Diskurse völlig entgrenzt sind — als Neopopulistin.

Balzer stellt noch einmal die im Diskurs oft geäußerte, kognitive Dissonanz fest, die zwischen den völlig empathielosen Haltungen „woker“ Kreise einerseits und der ansonsten akribischen Ahndung noch kleinster Vergehen und sogenannter Mikroaggressionen andererseits, etwa gegen das „misgendern“ durch falsche Pronominaverwendung, um nur ein Beispiel zu nennen. Er stuft das, durchaus überzeugend, als Folge eines Wahrheitsregimes in Michel Foucaults Terminologie ein.4An anderer Stelle werde ich noch darauf zurückkommen, warum ich die Bezüge auf Foucault auch problematisch finde, denn die Unstimmigkeiten der Identitätssynthese haben viel mit Foucault zu tun; darauf gehen Yascha Mounk und Omri Boehm ziemlich genau ein. Der „woken“ Szene attestiert er dadurch extreme Binarität, auch wenn nicht binäre Identität zu ihrem zentralen Begriffskatalog gehört. Dies führe zu einer manichäischen Weltsicht, in der es ganz klare Unterscheidungen zwischen gut und böse, schwarz und weiß, richtig und falsch gibt — ohne die Möglichkeit, die „Priester*innen“ zu hinterfragen oder zu kritisieren.5Auch auf den quasi religiösen Status der „Erwählten“, so die deutsche Übersetzung des englischen Buchtitels Woke Racism. How a New Religion has Betrayed Black America des Autors John McWhorter, werde ich noch eingehen. McWhorter bezeichnet zum Beispiel Autoren wie Ibram X. Kendi oder Ta-Nehisi Coates als Priester und schildert die Unerbittlichkeiten des US-amerikanischen Diskurses, der gegenüber dem hiesigen tatsächlich und wortwörtlich progressiv zu sein scheint. Jüdische Israelis sind in dieser Vorstellungswelt, völlig unabhängig von der sozialen und ethnischen Wirklichkeit Israels, weiße Siedler, die auch kein Mitgefühl verdient hätten. Die Stereotype, alle Israelis seien weiße Siedler und europäische Kolonialisten, schließt an den weiteren Stereotypenkatalog der Gefolgschaft der (nennen wir sie vorerst so) woken/“links“-progressiven Schlagwortgeber:innen an, die hinsichtlich des Palästina/Israel-Konflikts nur totale und eindeutige — nie aber komplexe oder gar widersprüchliche Wahrheiten kennt.

After Woke – ein politischer Heimatverlust?

Doch kommen wir zum zentralen Problem in Balzers Essay: Hier steht die weltanschauliche Heimat des Autors so eindeutig wie einseitig im Zentrum.

Während der Autor die Einseitigkeiten, Schwächen und Vergehen des „woken“ Milieus benennt und zur Triebkraft seines auch sehr persönlichen Essays erklärt (wie er etwa in einem Gespräch mit Jan Feddersen von der Taz erklärt hat), sucht man in seinem Text vergebens nach einer auch nur annähernd vollständigen Beschreibung der diskursiven Entgleisungen im Zuge der 7. Oktobers 2023. Wer sich mit dem 7. Oktober, seiner Folgediskussionen und -Ereignisse (sowie seiner oft ausgeblendeten Vorgeschichte) beschäftigt und dabei identitätspolitische Einseitigkeiten beklagt, muss aber zwangsläufig die Frage stellen: Wo sind die Palästinenser? Und vorallem, wie in Sa’ed Atshans und Katharina Galors Buch Israelis, Palästinenser und Deutsche in Berlin (Atshan/Galor 2021), die zentrale Frage, was es zu bedeuten hat, wenn diese Frage nicht gestellt wird.

Dass Balzer genau das nicht tut und das Netanjahu-Regime und seine Verbrechen höchstens zu Randfiguren werden lässt, wie in einem altbackenen Nebenwiderspruch, mag damit zusammenhängen, dass er sich eigentlich auch gar nicht ernsthaft mit dem Phänomen Identitätspolitik auseinandersetzt. Er setzt sich stattdessen mit dem auseinander, was er bisher unter Wokeness verstanden hat — und was am Ende viel zu kurz greift.

Abseits von den oben genannten, völlig verirrten Stimmen Alis, Sharifs, Butlers und anderer haben sich im deutschsprachigen Kontext aber eine Reihe weiterer, ernstzunehmender Menschen zu Wort gemeldet, die sich nicht so einfach in eine Schublade stecken und als disqualifiziert ausblenden lassen. Man wird die Philosophen Susan Neiman und Omri Boehm unter diesen Stimmen ebenso finden wie die Schriftstellerin Deborah Feldman, den Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus, die Politikwissenschaftlerin Muriel Asseburg, die Aktivistin Jouanna Hassoun, den Aktivisten Shai Hoffmann, die Journalistin Alena Jabarine und viele andere mehr.

Diese kritischen Stimmen, die bei Balzer nicht oder nur sehr am Rande vorkommen6Dazu genauer in den Folgekapiteln; Boehm und Neiman kommen vor, aber Neiman wird eher dafür verurtelt, keine positiven Propositionen zu Wokeness aufgeführt zu haben; Boehm wurde scheinbar eher oberflächlich gelesen, denn er hat sich viel genauer mit Ideengeschichte auseinandergesetzt als Balzer., sprechen keineswegs unisono — aber sie alle deuten auf ein Problem, das in Deutschland viele schlichtweg nicht wahrhaben wollen. Schon der bloße Einwand wird vehement zurückgewiesen, ja teilweise mit Schmähungen und Beschimpfungen überzogen, dass auch ein sich selbst als „altlinks“ oder jedenfalls nicht-woke verstehendes Meinungssegment im Kern Identitätspolitik betreibt. Dieses Meinungssegment kulminiert in der beratungsresistenten Position der deutschen Außenpolitik und ihrer uneingeschränkten Unterstützung „Israels“ — und gemeint ist dabei immer das kriegführende Netanjahu-Regime, nicht jene Teile der israelischen Zivilgesellschaft, die seit lange vor dem 7. Oktober gegen dieses protestieren. Von Empathie für Palästinenser kann in diesem Meinungsregister erschreckenderweise gar keine Rede sein, weshalb dieses Problem noch ein gesondertes Kapitel bekommt.

Doch worum geht es Balzer, und welche Antworten kann sein Essay (nicht) geben? Wie Balzer am Ende des ersten Abschnitts feststellt, verfolgt er mit seinem Essay drei Anliegen und Fragestellungen: Erstens will er weg kommen von der Gefahr, in Verbitterung zu verfallen und sich dem Ressentiment hinzugeben, was zum Beispiel darin bestehen könnte, auch die grundsätzlichen oder partiellen Richtigkeiten des „woken“ Forderungskatalogs aufzugeben — oder sich gar rechten und konservativen Kritikern von „Woke“ anzuschließen, die es „immer schon gewusst haben“ und nun eine Gelegenheit sehen, endlich ihre eigene, regressive Agenda zurück zu essenzialistischen Identitätsvorstellungen zu verwirklichen. Zweitens will er zunächst sichtbar machen und erkennen, was genau falsch gelaufen, wo die Linke denn nun falsch abgebogen sei und wovon man wegkommen müsse, indem er fragt:

Ist es wirklich „der“ Postkolonialismus, „der“ Queerfeminismus und „die Wokeness“ an sich? Oder ist es nur eine bestimmte Verirrung, eine ideologische Verhärtung, die sich weniger aus der Philosophie, der Soziologie, der Geschichtswissenschaft speist, sondern vielmehr aus den vulgarisierenden Aneignungen dieser Wissenschaften und ihrer Begriffe durch Aktivist*innen, Künstler*innen, nachrangige Theoretiker*innen?7Balzer, S. 22.

Drittens fordert er man müsse, um diese Fragen beantworten zu können,

erst einmal wieder dorthin zurückkehren, von wo aus der Postkolonialismus und der Queerfeminismus — und das, was wir heute als „woke Bewegung“ betrachten — einmal gestartet sind.8Balzer, S. 22.

Balzer hängt an „der postkolonialen, queerfeministischen, „woken“ Community„, in der er, wie so viele andere Menschen, „eine intellektuelle und politische Heimat gefunden zu haben“ glaubte.9Balzer, S. 15. Wenn er in den folgenden vier Abschnitten die Fehlabbiegungen und Missinterpretationen (wie er es versteht) dekonstruiert, dann nicht, um nun zu einer vernichtenden Gesamtabrechnung mit allen Inhalten und Forderungen von „Woke“ — was auch immer das am Ende sein mag — zu gelangen; denn Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Empathie seien schließlich nicht weniger wichtig geworden. Balzer geht es eigentlich darum, so scheint mir, seinen intellektuellen und politischen Heimatverlust zu überwinden, worauf ich noch zurückkomme.

Selbstvergewisserung ≠ Gewissen

Es ist natürlich völlig legitim und nachvollziehbar, diesem Verlust und dieser Suche nachzugehen, denn genau dafür gibt es das Genre des Essays. Und obwohl ich den Text innerhalb eines einzigen Tages zügig und unter wiederholtem, zustimmendem Nicken lesen und über weite Strecken hinweg auch nachvollziehen konnte, blieb ich am Ende mit dem Gefühl zurück, dass das Entscheidende fehlt. Die entscheidende Lücke des Diskurses ausfindig zu machen ist vielleicht gar nicht so einfach — für mich bedeutet es zumindest, dass ich mich selbst essyistisch und suchend an sie herantasten muss.

Der Hund liegt wahrscheinlich dort begraben, wo die Kritik am Identitarismus der Anderen aufhört, aber die Selbstkritik am eigenen Bestreben nach Selbstvergewisserung nie beginnt. Das Wort Selbstvergewisserung ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Wort, weil darin zum Einen das ‚Selbst‘ steckt, was uns an den Kern von Identität und Identitätspolitik erinnert. Zum Anderen steckt darin auch, wenn auch umwegig, das ‚Gewissen‘. Ich denke, unser Umgang mit Sprache wird zunehmend schlampig und unsauber, und so ist es auch kein Zufall, dass das Wort ‚Gewissen‘ heute oft einen schlechten Ruf genießt oder geradezu lächerlich gemacht wird.

Oft heißt es, Teilnehmer:innen des Diskurses, die sich also gerade hinsichtlich ihrer eigenen Unterstützung für die eine oder andere Seite des israelisch-palästinensischen Konflikts positionieren und damit teilnehmen, betrieben eigentlich Gewissensbereinigung. Es ginge ihnen gar nicht um das Problem und den Konflikt an sich, sondern um sie selbst. In diese Kerbe schlägt nicht nur die Anklage Free Palestine from German Guilt, sondern auch die Zurückweisung jeglicher einseitiger Solidarität von unterschiedlichen Seiten. Wer für sich einmal eine Position gefunden habe — ganz so, als gäbe es genau zwei Positionen und nichts Drittes oder Übergreifendes! — habe es sich eingerichtet, sich die Welt selbstgerecht erklärt, und tatsächlich wird dann die andere Seite zum Feind erklärt.

Doch das Gewissen ist nicht das Problem — ebensowenig wie ein ‚reines Gewissen‘. Wozu soll uns ein Gewissen denn dienen, wenn nicht zum Zweck, den oft eingeforderten moralischen oder ethischen Kompass festzuhalten und die oft bewegte, zittrige Ausrichtung der Kompassnadel immer wieder aufs Neue zu überprüfen?

Das Gewissen, wie es zum Beispiel in den Begriffen Prigovor Savjesti (Jezik*), Objection de conscience (Fr), Conscientious objection (En) steckt — im Deutschen nur unzureichend mit Kriegsdienstverweigerung wiedergegeben — muss gerade in der Frage von Krieg und der Beteiligung am Krieg harte Prüfungen überstehen. Das Problem ist tatsächlich, wenn die Prüfung des Gewissens gar nicht stattfindet, weil uns die Empathiefähigkeit mit allen Opfern verloren gegangen ist, weil der Selbstvergewisserung — dem Wer bin ich zusammen mit wem noch? und dem Wo stehe ich zusammen mit wem noch? — in diesem Diskurs Priorität eingeräumt worden ist.

Überkomplex, heißt es immer wieder: Die ganze Welt sei so unübersichtlich geworden, da nehme es schließlich nicht Wunder, dass sich die Menschen in neue Stämme rotten, sich rund um ihre digitalen Lagerfeuer versammeln, wo sich jeweils gleiche Meinungen miteinander und gegeneinander erzählt werden (vgl. Bauman 2017). Kognitiv gesehen mag das stimmen, mag die Welt überkomplex geworden sein. Doch auf die Fakten bezogen ist das genaue Gegenteil der Fall: Die menschliche Welt ist so eng aneinander gewachsen, wie es höchstens in den Anfängen der Menschheit einmal der Fall gewesen sein mag. KI, Artificial Intelligence, Digitalisierung — you name it: Wir verstehen die Welt und ihre Zusammenhänge besser denn je. Wir könnten das zumindest, obwohl die technologischen Möglichkeiten paradoxerweise eher dazu genutzt werden, die Menschen gegeneinander aufzubringen.

Was hier grundsätzlich falsch läuft, um zu einem vorübergehenden Ende zu gelangen? — Es ist der Fokus auf Identität und Kleinigkeit einerseits, der Verlust von Universalismus und großen Zusammenhängen andererseits. Es ist eine merkwürdige Dynamik, die sich noch an den unerwartetsten Stellen durchsetzt. You should narrow it down, in order to make it feasible. So lautete zum Beispiel ein „gut gemeinter“ Rat an meiner Graduiertenschule an Doktorand:innen, die irgendwelchen größeren Zusammenhängen hinterher waren und am Ende irgendeine kleinteilige, eingegrenzte Arbeit produzierten — während sich draußen die Welt immer weiter entgrenzte, die Zusammenhänge immer größer und verbundener und rätselhafter wurden.

Ich denke, dass dieser lange durchexerzierte Verlust des Interesses für globale Zusammenhänge zugunsten so vergleichsweise kleiner Angelegenheiten wie Identität viel mit dem Bedeutungsverlust des Metaphysischen zu tun hat — aber auf eine umständliche und komplexe Art. So komplex, dass dieser Verlust des Metaphysischen neue Antworten erfordert, die uns nie mehr zurück in einen der alten Götterhimmel wird bringen können, was jedoch gegenwärtig in der neopopulistischen Verlumpung, in islamistischen, evangelikalen, neo-orthodoxen Bewegungen jeder Couleur ein angesagter Trend ist.

Omri Boehm hat für diese Auseinandersetzung eine quasi prophetische Spur gelegt. Um diese soll es nach dem nächsten Essay gehen, in dem ich noch einmal versuchen werde, einen Begriff zu schärfen, der das anti-universalistische, identitäre Diskursfeld genauer beschreibt.

Referenzen

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