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Das bosnische Haus in der Stabilokratie (2): alte und neue Internacionalci

Um zu möglichen Lösungen der bosnischen Stabilokratie zu gelangen, muss zuvor noch auf ihre Vorgeschichte sowie ihre Genese in Krieg und Nachkrieg eingegangen werden. Eine wesentliche Rolle im bosnischen Haus in der Stabilokratie spielen alte und neue ‚internacionalci‘.

Titelbild: Aufnahme aus dem Bus bei Bosanski Petrovac, TS 1998

Im ersten Teil dieses Essays über das bosnische Haus in der Stabilokratie habe ich diese Metapher verwendet, um den Zustand eines maximal fragmentierten Landes zu beschreiben, dessen Zustand auch fast dreißig Jahre nach Ende des Krieges (1992-1995) noch „stabil instabil“ ist. Um zur spezifisch bosnischen Ausprägung der Stabilokratie zu gelangen, die sich besonders durch ihre Vorgeschichte in einigen wesentlichen Merkmalen von anderen Stabilokratien unterscheidet – die ich in den zuvor genannten Mono-Alpha-Regimen dem türkischen „tek adam rejimi“ Recep Tayyip Erdoğans, dem sowjetbetrunkenen, russländischen Alleinherrscher Wladimir Putin oder dem serbischen Teflon-Präsidenten Aleksandar Vučić zugeschrieben habe – muss zuvor noch auf ihre Vorgeschichte sowie ihre Genese in Krieg und Nachkrieg eingegangen werden.

Spätestens durch die Rolle einer Vielzahl ausländischer Soldaten, zunächst bestehend aus multinationalen UNPROFOR, dann IFOR (Implementation Force) / SFOR (Stabilisation Force)- Einheiten, anschließend durch die äußerst sichtbare und voluminöse Präsenz der internacionalci und humanitarci aus EU-Staaten, Nordamerika, arabischen, eurasischen, asiatischen und anderen Staaten; ihrer Regierungsorganisationen, ihrer supranationaler Makroorganisationen sowie einer dichten NGO-Landschaft aus größeren und kleineren Nichtregierungsorganisationen wird außerdem klar, dass die komplexe Metapher des bosnischen Hauses in der Stabilokratie nicht ohne die internacionalci zu verstehen wäre.

Ich werde in dieser Hinsicht auch zu einer seit langem ausstehenden, persönlichen Reflexion über die frühen 2000er Jahre kommen, da ich von Juli 2000 bis September 2002 in der NGO-Landschaft Sarajevos und BiHs tätig war. Da ich in meiner Rolle als Freiwilliger und Projektkoordinator für Schüler Helfen Leben (damals noch ein Verein, heute eine Stiftung) zusammen mit meinen Kolleg:innen wortwörtlich mit Begriffen wie to implement, youth empowerment, awareness raising and-what-not zu hantieren hatte, muss ich wohl nach den oben selbst aufgeführten Kriterien ebenfalls zu den internacionalci gerechnet werden; sogar unser damals tatsächlich geringes Taschengeld, das uns als Freiwillige aus dieser Kaste eigentlich ausgeschlossen hätte, überstieg das Einkommen sehr vieler Bosnierinnen und Bosnier, die sich nur über Transferleistungen aus der dijaspora oder durch Auswanderung über Wasser halten konnten. Wem diese Buzzwords (implement, youth empowerment, awareness raising, etc.) allzu oberflächlich vorkommen: Genau das waren sie. Auf Jezik* hat sich dafür schnell der Begriff šuplja priča verbreitet, gewissermaßen „leere Worthülsen“, die man nun einmal zu beherrschen und wie zusätzliche Logos in die immer wieder neu gestrickten, an die jeweiligen Trends angepassten Projektanträge zu staffieren hatte.

Wenn im Folgenden von internacionalci die Rede sein wird, muss beachtet werden, dass es sich dabei um äußerst heterogene Milieus von ausländischen Staatsangehörigen handelte, die sich oft im Wesentlichen folgende Gemeinsamkeiten teilten:

  • Sie waren meist zeitlich begrenzt auf wenige Monate bis mehrere Jahre als sogenannte Akteure im extraterritorialen Raum tätig und bildeten oft eine Art Milieu, das gewisse Ähnlichkeiten mit sogenannten Expats oder den späteren digitalen Nomaden teilte, wenn auch wesentlich privilegierter und vor allem normativer als Letztere;
  • Sie verdienten überdurchschnittlich viel Geld, wodurch sich ein großes Gefälle zwischen ihnen und der absoluten Mehrheit der sogenannten „Locals“ ergab, auch wenn Letztere für Erstere arbeiteten und diesen ihre Tätigkeit überhaupt erst ermöglichten;
  • Sie teilten sich mit International English eine lingua franca sowie ein charakteristisches Vokabular, beginnend mit der Unterscheidung zwischen internationals und locals über weiteres Buzzword-Vokabular wie implementation, stabilisation, youth empowerment, awareness raising, interethnic reconciliation, etc. Ungeachtet der berechtigten Kritik an diesen Begrifflichkeiten und der Fragwürdigkeit ihrer Wirksamkeit hat der Einzug dieser neuen Sprachkonventionen im öffentlichen Raum an Orten wie Sarajevo oder Mostar zu einem hohem Grad von Kosmopolitisierung und Kosmopolitanismus geführt;
  • Sie beschäftigten eine Vielzahl sogenannter locals, die als Sprachmittler und Dolmetscher, Fahrer und Projektassistenten, Nachrichten-Fixer und Reinigungspersonal, Büroleiter und Ghostwriter, Gastronomen oder Porte-parole u.v.m eine Parallelwirtschaft herausbildeten, die nach dem Weiterziehen der Internacionalci und dem Austrocknen dieses rentablen Wirtschaftssektors die Sogwirkung des Exodus aus Bosnien-Herzegowina unaufhaltsam verstärkte;
  • Das Weiterziehen der Internacionalci hinterließ ein Vakuum, dass angesichts unerreichter Stabilisierung einen ergiebigen Resonanzraum für identitäre Neopopulisten unterschiedlicher Couleur erzeugte;
  • (Verdient weitere Ausführungen)

Der geopolitische Raum kennt kein Vakuum: Das Erstarken neuer internacionalci

Obwohl durchaus frühzeitig kritische Analysen zur Rolle der internacionalci verfasst wurden (Milanović-Blank 2003; Riese 2013; Coles 2008), besteht auf diesem Feld meines Erachtens gerade aus heutiger Sicht ein Nachholbedarf an vertiefter Reflexion, nachdem sich das Feld der Akteure stark gewandelt hat: Dies ist besonders dem bemerkenswerten autokratischen Lernen und Handeln neopopulistischer Regime geschuldet, die nicht weniger international denken und funktionieren als die damaligen Internacionalci. Wer sich heute, viele Jahre nach dem Weiterziehen der früheren Heerscharen von Internacionalci hin zu weiteren Krisenherden und Projektländern in Bosnien-Herzegowina umsieht, wird schnell feststellen, dass identitäre, teils offen revisionistisch zündelnde Neopopulisten im Verbund mit ihren Lakeien aus anderen internationals und den bereits genannten foteljaši (Sesselsitzer) gewissermaßen die neuen Internacionalci sind.

Während Vertreter der Nachkriegs-Internacionalci der 1990er-2000er Jahre permanent damit beschäftigt waren, Bosnien-Herzegowina als Projektionsfläche zu „verstehen“ – erschreckenderweise sogar ganz überwiegend ohne die geringsten Sprachkenntnisse –, zu analysieren, zu stabilisieren und Reformen in einem stabilisierenden Sinne zu implementieren, liegt es in der Natur der Sache, dass es diese Akteure unterlassen haben, sich selbst als Teil der Problematik zu verstehen und zu analysieren; immerhin galten sich diese Akteure selbst als Bringer der Norm und somit überlegen über die bestehenden Verhältnisse. Weiterhin haben die Nachkriegs-internacionalci durch ihr baldiges Desinteresse am karriereförderlichen Projektland ihre Gegner unterschätzt, weshalb es trotz des oftmals eingeworbenen Wissens auch zu keiner eigenen Sendung gekommen ist, die den heute wirksamen Neopopulismus rechtzeitig hätte entkräften können.

Weil diese lange unterschätzte Gefahr identitärer Verlumpung durch (die tatsächlich nicht hervorsehbare) meinungs- und gefühlskapitalistische Kommodifizierung der neueren Internetgenerationen weltweit so real und aktuell ist – der aktuelle Spiegel titelt Albtraum Amerika, die Libération seufzt vorsichtig Ouf – wiegt erstens der augenscheinlich vollständige Mangel an Visionen, Ideen und Strategien für Bosnien-Herzegowina viel schwerer als eine einfache, auf der Hand liegende Problemanalyse; dies, truth be said, obwohl die Internacionalci mit ihren meist hohen, formalen Bildungsgraden, ihren weitgefächerten, globalen Netzwerken sowie ihren finanziellen Möglichkeiten dem Land etwas Wesentliches schuldig geblieben sind: echte Stabilität.

Würde dieses Ziel erreicht werden – eine politische Stabilisierung Bosniens auf der Grundlage eines überzeugenden Ideenwerks – wäre ein echter symbolischer Teilsieg des demokratischen Europas errungen. Dieser wird sich jedoch keinesfalls über bizarre Gutwetter-Politik schnell abhaken lassen, indem plötzlich und gewissermaßen grundlos EU-Beitrittsverhandlung mit BiH eröffnet werden. In einer Zeit, da EU-Mitgliedsstaaten wie Ungarn Brüssel oder Berlin in ihrer Anbiederung an China und Russland wirkungsvoll in die Parade fahren; da demokratische Elektorate europaweit bei Identität, Revisionismus und Populismus queue stehen; da die Bundesregierung – zur Unzeit! – nichts Besseres zu tun hat, als wertegeleitete Außenpolitik zu predigen, aber ihre Goethe-Institute zu reinen Deutschlern-Schulen zu degradieren, wäre Weniges angezeigter und dringender nötig als das bereits genannte Ideenwerk; darauf komme ich weiter unten mit Referenz auf Jugoslawien sowie Omri Boehms Positionen zu Universalismus wieder zurück. Es geht dabei selbstverständlich nicht um normative Belehrungen, sondern um kosmopolitische Zusammenarbeit in kosmopolitischen Zeiten.

Zweitens könnte gerade die deutsche Außenpolitik, schon allein durch die riesige Post-YU dijaspora, kulturelle Nähe, Sympathien sowie den immer noch mobilisierbaren, gar nicht selbstverständlichen „guten Ruf“ Deutschlands potenziell enorme Einflussmöglichkeiten in der Region entfalten. Abseits der erbleichten, unauthentischen und zunehmend unangenehmen Etikettenpolitik, die im Spiegel meiner jüngsten Beobachtungen und Gespräche der vergangenen zwei Wochen in Bosnien-Herzegowina zu einem weitreichenden Gesichtsverlust Deutschlands in der Region geführt hat, würde eine solche Einflussnahme das demagogische, identitäre und neopopulistische Treiben über beherzte, kluge und mutige Investitionen in echte Öffentliche Diplomatie und Kulturpolitik als das entlarven und an den Pranger stellen, was es ist: als schäbiges, meinungskapitalistisches und vor allem an Konflikt interessiertes Wirtschaften mit Ressentiments, Ängsten, Emotionen und Flucht in restaurative Nostalgie.

Die Berücksichtigung der oft problematischen Rolle der Internacionalci soll kein Rundum-Bashing sein, weil es durchaus Beispiele von Menschen und Organisationen aus den Reihen der Internacionalci gibt, die zu neuen Formen gemischter Geselligkeit, kreativer Projekte, Horizonterweiterungen, Familiengründungen, Karrieren und einem Kosmopolitanismus im kleinen BiH beigetragen haben, der in den Nachbarländern seinesgleichen sucht.

Kritik ist das Eine; Grounded Theory oder gar echte Lösungen sind etwas Anderes. Um nicht hinter den eigenen Ansprüchen zurückzubleiben, will ich am Ende dieses Essays einige Vorschläge machen, wie über den Blick auf das zweigliedrige System Bosnien vor dem Krieg – erstens als erprobte Differenzgemeinschaft, zweitens als überzeugendes politisches Ideenwerk – über konkrete Lösungen nachgedacht werden könnte. Diese Lösungen beinhalten – und müssen dies sogar tun – durchaus Symbolpolitik. Die vorzuschlagenden Lösungen nehmen auch Anleihen bei historischen Erfahrungen, was Überzeugung und Glaubwürdigkeit bewirken kann; weiterhin setzen sich diese Vorschläge aus Investitionen in Infrastruktur, aus aufrichtiger und zeitgemäßer Kulturpolitik, aus kenntnisreichem politischen Personal sowie der Stärkung echter Demokratinnen und Demokraten auf Augenhöhe zusammen.

(And I call it a day und weiter geht’s im nächsten Post)

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