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Demokratische Autokratieförderung: der lange Hall des Kalten Kriegs

Angesichts der Geschehnisse im Iran, wo sich nach dem Tod von Jina Mahsa Amini die Menschen erneut gegen das seit 1979 herrschende Mullah-Regime erhoben haben, sowie der sich gleichzeitig entfaltenden Eskalation des Putin-Regimes in der Russländischen Föderation, das sich nun zur Teilmobilmachung entschieden hat und wiederholt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen droht, habe ich mich einmal darin versucht, Parallelen und Hintergründe in der westlichen Politik gegenüber beiden Regimen herauszuarbeiten.

Es geht mir in diesem Beitrag nicht so sehr darum, beide Regime detailliert zu beschreiben, jeden einzelnen Aspekt der Autokratieförderung zu nennen und zu analysieren, und am allerwenigsten werde ich behaupten, beide Fälle seien direkt und hauptsächlich von westlichen Demokratien in ihrer jetzigen Gestalt hervorgebracht worden, ohne eigene Agency, Rolle und Verantwortung dabei eingenommen zu haben. Vielmehr geht es mir um die Frage, welche Logik hinter der dennoch zweifellos vorliegenden, wenn auch widersprüchlichen Autokratieförderung durch westliche Demokratien steckt.

Ich frage, wie die iranischen und russischen Beispiele mit den Interessen demokratisch verfasster Staaten, ihrer Energie- und Außenpolitik korrelieren, und ich diskutiere, wie rational die zentralen Argumente der ratio und rational choice gelten können. Der Essay knüpft an den Beitrag über Wladimir Kara-Mursa zur Rolle des Westens in der Genese des Putin-Regimes an, weshalb ich diese Aspekte nicht erneut im Einzelnen ausbreite. Um den zeitlich viel weiter zurückliegenden Prozess der Autokratieförderung im Iran zu verstehen, blicke ich zurück auf die Containment-, Rollback und Energiesicherheitspolitik des Kalten Krieges.

Ich werde argumentieren, dass die Prioritätensetzung des Kalten Krieges, für Energiesicherheit alle demokratischen und liberalen Prinzipien in der Außenpolitik und Autokratieförderung über den Haufen zu werfen, fortwirkt. Besonders problematisch für westliche Demokratien selbst sind dabei die Rückkopplungseffekte der Autokratieförderung im Ausland. Deswegen sowie aufgrund der Herausforderungen der Meta-Katastrophe des menschlich induzierten Klimawandels liegt es im globalen Interesse aller Staaten, Autokratisierung und illiberalen Neopopulismus einzudämmen. Wie alle Beiträge dieser Projektseite ist dieser hier dynamisch und kann zwischendurch ergänzt, verändert, weiterverarbeitet, korrigiert und erweitert werden.

Uprising in Tehran, Keshavarz Boulvard September 2022, Darafsh, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Appeasement und Autokratieförderung

Autokratien, wie sie von Neopopulisten favorisiert werden, sind in der Relation zur restlichen Staatlichkeit der gesamten Erde weder unbeträchtlich noch im Abnehmen begriffen: die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt sogar in Ländern, die als „nicht frei“ oder nur „teilweise frei“ gelten. Laut eines Policy Papers des Think Tanks GiGA stabilisieren demokratische Regierungen autokratische Regime oft aus Furcht vor noch größerer politischer Instabilität; dadurch stärken sie jedoch ein Gefüge, das sie selbst schwächt: autokratische Regime verfolgen nämlich direkte und indirekte Strategien zur Festigung und Weitung ihrer Herrschaft. Wie das GiGA-Paper weiterhin unterscheidet, verfolgen autokratische Regime dabei ein internationales Maßnahmenpaket, das sich in vier Dimensionen gliedern lässt: erstens, Autokratieförderung; zweitens, autoritäre Diffusion; drittens, wechselseitiges Lernen voneinander; und viertens, autoritäre Kooperation.1 Autokratieförderung, um die es in dieser Auseinandersetzung hauptsächlich geht, gibt es auch auf autokratischer Seite selbst, was natürlich nicht verwunderlich ist.

Doch wie lässt sich die widersprüchliche Entwicklung erklären, dass auch demokratische Regierungen antidemokratische Regime fördern, die eine wachsende Gefahr für sie selbst darstellen? Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wurde man auf der Suche nach historischen Vergleichen schnell fündig: so hat der russische Soziologe Grigori Judin zu Beginn des Krieges den Vergleich zu den Jahren 1938/39 gezogen, wobei er die Parallele nicht näher bestimmt und hauptsächlich dahingehend argumentiert, dass die damalige Entwicklung auf eine „völlige Entmenschlichung“ hinauslief.2 Doch der Vorabend des Zweiten Weltkriegs, den das Nazi-Regime Deutschlands vom Zaun brach, ist auch bekannt für die Appeasement-Politik Frankreichs und vor allem Großbritanniens Hitler gegenüber, für den Abschluss des Münchener Abkommens, den Überfall Nazi-Deutschlands auf die Tschechoslowakei und den folgenden kriegerischen und genozidalen Progress, den man eigentlich verhindern wollte. Der Fehler bestand nach Ansicht vieler Historiker darin, Hitler entgegenzukommen, anstatt sich ihm entgegen zu stellen – auch wenn andere Historiker wie Bernd-Jürgen Wendt in der britischen Politik gegenüber Nazi-Deutschland eine ähnliche Problematik benennt, wie sie im heutigen Dilemma des Umgangs mit Autokratien vorliegt: es habe auch eine „unlösbare Verzahnung von politischen und wirtschaftlichen Motiven“ gegeben.3

The British Prime Minister Neville Chamberlain commenting and showing the Anglo-German Declaration (the resolution) of the Munich Agreement (German: Münchener Abkommen) to commit to peaceful methods signed by both Hitler and himself, on his return from Munich on 30 September 1938. Source: Narodowe Archiwum Cyfrowe, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Doch Appeasement im damaligen historischen Kontext, der noch stark vom vorausgegangenen Ersten Weltkrieg geprägt war, ist natürlich insgesamt nur bedingt vergleichbar mit der heutigen Situation. So lagen neben vielen anderen wesentlichen Unterschieden zwischen der Herrschaftsergreifung der Nazis und dem Jahr 1939 gerade einmal sechs Jahre. Das Putin-Regime hingegen, das mehrfach mit dem Dritten Weltkrieg gedroht hat, konnte sich seit 1999 aufbauen und stabilisieren (genauer bei Kara-Mursa). Natürlich kann niemand in die Zukunft blicken und voraussagen, welche Folgen der Ukrainekrieg noch zeitigen wird und ob diese dann vergleichbar mit den Ausmaßen des Zweiten Weltkriegs sein werden: Doch die Vorgeschichte der Hitler-Diktatur in Deutschland und die des Putin-Regimes in der Russländischen Föderation sind zwei (fast) völlig unterschiedliche Geschichten.

Eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen dem Prinzip Appeasement der 1930er gegenüber Hitler und der jahrzehntelangen westlichen Politik gegenüber Putin besteht darin, dass die gewogene Haltung gegenüber dem russischen Autokraten auch eine Form des Laissez-faire beinhaltet. Doch wie in den letzten Monaten immer wieder diskutiert worden ist, hat man Putin nicht nur gewähren lassen, sondern tatkräftig mit ihm zusammengearbeitet. Wie Correctiv in einer dynamischen Online-Recherchestudie aufzeichnet, hat sich ganz besonders zwischen deutschen Politikern, Energiemanagern und Anwälten einerseits und russischen Energiekonzernen und Politikern andererseits ein enges Netz der Zusammenarbeit herausgebildet. Die heutige Situation lässt sich deshalb viel besser über Vergleiche zu anderen Fällen der langfristigen Förderung und tatkräftigen Stabilisierung autokratischer, kriegerischer und gewalttätig veranlagter Regime nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben, als über die Analogie zu den 1930er Jahren.

Was heißt ‚rational‘?

Vergleiche mit der langfristigen und folgenreichen Förderung von Autokratien durch Demokratien in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts können nicht nur die Genese der heutigen Situation viel besser erklären, weil ihnen eine grundsätzlich vergleichbare Ratio zugrunde liegt, die sich vielleicht mit dem Euphemismus Rational Choice benennen lässt; Die Ratio hinter der Rational Choice führte dabei zwei Hauptargumente, wie ich gleich noch erläutere.4 Mit Rational Choice rückt ein Begriff in den Vordergrund, dessen problematische Seiten in der Politikwissenschaft inzwischen zwar weitgehend erkannt und problematisiert worden ist, zuvor aber lange Zeit wenig beachtet blieben. Wie der Begriff Rational Choice unschwer erkennen lässt, besagt diese wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Theorie im Kern, dass Menschen grundsätzlich rational, also vernünftig, handeln, und weshalb sie dazu tendieren, eine Entscheidung so zu treffen, dass sie für sie selbst kostenminimierend und gewinnmaximierend ist. Auch wenn diese Theorie nicht mehr sehr verbreitet ist, weil die Wichtigkeit verzerrender Effekte auf die Entscheidungsfindung erkannt worden ist, kann sie helfen, zu erklären, warum Demokratien Autokratien und antidemokratische Bewegungen gefördert und stabilisiert haben: sie glaubten, dadurch trotzdem zu ihrem eigenen Nutzen zu handeln und Prioritäten zugunsten ihrer eigenen, national vorgestellten Sicherheit setzen zu müssen.

Um in diesem Sinn zu verstehen, wie die Fälle Iran und Russländische Föderation im Sinne nutzenmaximierender Ratio zusammenhängen – auch wenn es zuerst völlig absurd erscheinen wird – ist ein kurzer Blick in die Logik des Kalten Kriegs notwendig. Während des bipolaren Kalten Krieges ging es westlichen Regimen einerseits darum, Demokratien als Teil des westlichen Lagers zu stärken, was insbesondere westeuropäische Länder betraf, die mit Mitteln des US-amerikanischen Marshallplans (European Recovery Plan) gefördert wurden. Darunter befand sich nicht zuletzt Westdeutschland, das man nach dem Hitler-Regime zu einem verlässlichen und demokratischen Partner des westlichen Staatenbündnisses unter Führung der USA machen wollte; der Marshallplan sah nicht nur wirtschaftliche, sondern auch institutionelle Förderung der Demokratie vor.5

Leistungen (Relationen) des Marshallplans an die einzelnen Länder. Quelle: File:Blank political map of Europe EU27 iso3166-1 code.svg: Amibreton 11:46, 14 March 2009 (UTC)File:East-west germany.svg: Jaman99 12:08, 9 February 2009 (UTC)derivative work Miraceti, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

In der nicht-europäischen und nicht-nordamerikanischen Welt hingegen wurden in viel schärferem Maß Proxykonflikte zwischen den zwei Machtblöcken ausgetragen, also zwischen dem Warschauer Pakt mit Dominanz der UdSSR einerseits und dem Westen andererseits. Beide Machtblöcke versuchten, Staaten und Regime für ihr System zu gewinnen, und im selben Maß auch zu verhindern, dass sich Wackelkandidaten der jeweils entgegengesetzten Seite anschlossen. Dies hatte natürlich nicht nur rein ideologische Gründe, sondern war ebenfalls durch handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen motiviert: beiden Systemen, die sich in einem nie dagewesenen Tempo dafür einsetzten, ihre Staaten zu industrialisieren, ging es um die geopolitische und infrastrukturelle Absicherung des Zugangs zu Ressourcen, auf die besonders Europa dringend angewiesen war. Neben Kohle waren das in erster Linie die fossilen Ressourcen Öl und Gas des Erdölzeitalters.

Flankierend ging es um militärische und ideologische Eindämmung und Abschreckung. In den USA selbst, dem Machtzentrum des Westens, wurden Kommunisten und Sozialisten zeitweise streng verfolgt. Obwohl die USA mit ihrer Containment– und Rollback-Politik, mit der bis 1959 verfolgten Eisenhower-Doktrin sowie zuletzt mit der Reagan-Doktrin der 1980er Jahre weltweit die Ausbreitung des Sozialismus zu verhindern suchten, haben sich in der langen Nachkriegszeit auf allen Erdteilen Staaten als sozialistisch bezeichnet oder es gab wichtige sozialistische Parteien und Bewegungen unterschiedlicher Ausprägung. Das war auch auf der Arabischen Halbinsel der Fall, wo mit der Demokratischen Volksrepublik Jemen (1967-1990) ein sozialistischer Staat neben der Theokratie Saudi-Arabien existierte, aber auch andernorts im Nahen Osten, wie zum Beispiel in Syrien und im Irak, wo die Baath-Partei eine große Rolle spielte. Im Iran gab es seit 1941 die marxistisch-leninistische Tudeh-Partei. Das sozialistische Modell, das sowohl hinsichtlich der Frage der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, als auch mit Blick auf die historische Bilanz als weitestgehend gescheitert angesehen werden muss, kam mit Kuba, einigen weiteren karibischen Staaten und besonders dem mittelamerikanischen Nicaragua den USA dennoch sehr nahe.

Diese Weltkarte zeigt alle Staaten, die sich im Laufe ihrer Geschichte als sozialistisch bezeichneten. Die Farben geben die jeweilige Dauer der sozialistischen Periode an: Rot: über 70 Jahre; Orange: 60–70 Jahre; Olivgrün: 50–60 Jahre; Grün: 40–50 Jahre; Blau: 30–40 Jahre; Schwarzblau: 20–30 Jahre; Dunkelviolett: 10–20 Jahre; Hellviolett: Unter 10 Jahren. Quelle: Wikipedia (Commons).

Damit wurden die beiden Hauptargumente der außenpolitischen Ratio des Kalten Krieges benannt: Eindämmung des Kommunismus (d.h. Realsozialismus) und Sicherung der Energieversorgung des eigenen Systems. Auch wenn der Realsozialismus ganz gewiss keine Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu seinen historischen Errungenschaften zählen kann: die genannten westlichen Policies können es dort, wo sie knallharte Autokratien stabilisiert haben, in sehr vielen Fällen ebensowenig. Von Demokratieförderung, wie sie der Marshallplan in vielen Fällen noch erfolgreich umsetzte, kann in vielen anderen Ländern, die „auf Linie“ gebracht wurden, keine Rede sein. Die Förderung antidemokratischer, autokratischer, gewaltbereiter und illiberaler Regime sollte oft nur dem Zweck dienlich sein, Loyalität und Bekenntnis zum kapitalistischen System zu sichern. Die im Inneren der liberalen, westlich-kapitalistischen Demokratien eingeführten Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Menschenrechte erschienen den westlichen Staaten in diesen Fällen als irrelevant. Dass es dabei, wie beim indonesischen Suharto-Regime, zu großen Massakern gekommen ist, führte keineswegs zu Sanktionen oder Interventionen, was dem Westen den Ruf der Heuchlerei und Zweigesichtigkeit einbrachte.

Blowback: Iran als klassisches Beispiel

Beispiele westlicher Umarmungen und Förderungen autokratischer und gewaltsamer Regime, die dies untermauern, finden sich von Afrika, Mittel- und Südamerika über Ostasien, Indonesien, den Iran, die arabische Halbinsel bis nach Europa. Zwar führte antikommunistische Eindämmungspolitik nicht überall langfristig zur Festigung illiberaler, autokratischer und nicht-demokratischer Regime, wie die Beispiele des heutigen Südkorea und Taiwans zeigen, die sich letztlich zu Demokratien entwickelt haben. Andere Beispiele jedoch haben zum sogenannten Blowback geführt: Das bedeutet, dass die Unterstützung dieser Strukturen keineswegs zu mehr Sicherheit geführt haben, sondern die weitreichende Stärkung des illiberalen Prinzips bis auf den heutigen Tag und bis hinein in westliche Gesellschaften haben.

Dazu zählen insbesondere und exemplarisch die Langzeitfolgen der Operation Ajax (1953), einer Geheimoperation der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste CIA und MI6, die den Sturz des parlamentarisch legitimierten iranischen Premiers Mohammad Mossadegh forcierten: das Problem mit Mossadegh war aus britischer und amerikanischer Sicht, dass das iranische Parlament unter seinem Kabinett 1951 per Gesetz die britsch dominierte Anglo-Iranian Oil Company verstaatlichen ließ, was sich in den folgenden zwei Jahren zur internationalen Abadan-Krise (1953) auswuchs; über die iranische Tudeh-Partei waren auch sowjetische Akteure in die Geschehnisse involviert. Nachdem unter Einbeziehung schiitischer Kleriker die Absetzung durch den Schah — nach erbittertem Widerstand durch Mossadegh — durchgesetzt werden konnte, kam es in den folgenden drei Jahrzehnten zur Stabilisierung des autokratischen, aber dem Westen loyalen Regimes des Schahs. Über die Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung der iranischen Bevölkerung — bei exzessiven eigenen Ausschweifungen wie der 2500-Jahr-Feier der Iranischen Monarchie 1971 — führte dies 1979 schließlich zum Sturz des Schahs im Verlauf der Iranischen Revolution.

Mossadegh im Hausarrest in Ahmadabad 1965. Quelle: BehnamFarid at English Wikipedia., Public domain, via Wikimedia Commons

Die Iranische Revolution „kippte“ jedoch und wurde mit der Rückkehr des Ayatollah Khomeini aus dem französischen Exil zu einer islamistischen Revolution. Dies führte nicht nur zu einer Verklumpung des autokratischen Herrschaftsprinzips im Iran selbst, sondern trug auch, und zwar bis auf den heutigen Tag, zur weltweiten Förderung und Inspiration der antidemokratischen, illiberalen Ideologie des Islamismus bei. Das sogenannte Mullah-Regime, das sich als Theokratie über Instrumentalisierung und Missbrauch von Religion legitimiert und Rückhalt verschafft, ist auf zahlreichen Bühnen der Weltpolitik als antiwestliche Militärmacht tätig. Heute arbeitet es außerdem eng mit dem Putin-Regime sowie dem AKP-Regime der Türkei zusammen. Diese sehr knappe Raffung der Entwicklungen im Iran illustrieren dennoch, was unter einem Blowback zu verstehen ist: Die beabsichtigten Erfolge durch die Unterstützung von Autokratien können über einen langen Verlauf zum genauen Gegenteil dessen führen, was im eigenen Interesse gelegen hätte. Im Fall des Irans hätte ein solches Interesse in der Förderung eines demokratischen und kooperativen Partners am Persischen Golf sein können, mit dem man auf einer Augenhöhe arbeitet — obwohl natürlich nicht gesagt ist, ob sich dies verwirklicht hätte.

Islamismusförderung

Auch wenn der Siegeszug des schiitischen Islamismus in Iran (dessen Ende sich womöglich gerade abzeichnet) letztlich gar nicht im Sinne und Interesse des Westens lag, ist der Iran dennoch keineswegs allein verantwortlich für die Ausbreitung des Islamismus. Der globale, meist sunnitisch geprägte Islamismus gilt heute weltweit als das antiwestliche, antidemokratische Programm schlechthin.6 Wie der Iran, so fordern andere Islamisten ebenso vehement Geschlechterapartheid und tragen blutige Konflikte, Terroranschläge sowie Kriege aus – darunter den Genozid an den Jesiden des Sindschar (Irakisch-Kurdistan, 2014) durch den sogenannten Islamischen Staat (IS/Daesh). Dennoch wurde (und teilweise wird) der sunnitische Islamismus von westlichen Regimen auch direkt gefördert und hofiert, was sich nur über die zentralen Argumente der Eindämmungs- und Energiepolitik westlicher Regime während des Kalten Krieges erklären lässt.

Das bekannteste Beispiel liefern Afghanistan, Pakistan und die arabische Halbinsel. Jeffrey D. Sachs, der in den 1980er Jahren als US-amerikanischer Ökonom und Berater direkt an der Verbreitung der fragwürdigen Schocktherapie im Zuge der neoliberalen Privatisierungen und Abwickung der realsozialistischen Staaten beteiligt war, hat Osama Bin Laden, Al-Qaida und IS/Daesh in Syrien und im Irak als „Blowback-Terrorismus“ bezeichnet und auf westliche Förderung zurückgeführt. Während der Iran bekämpft wird, werden die sunnitischen Autokratien der arabischen Golfstaaten wie Saudi-Arabien aufgrund der dortigen fossilen Energielager weiterhin gefördert und stabilisiert – auch wenn diese Staaten ihrerseits als Finanziers des globalen Islamismus agieren.7

Die Förderung autokratischer Regime führte also keineswegs zu mehr Stabilität und Sicherheit, wenn darunter etwas anderes als die kurzfristige Energieversorgungssicherheit für den Westen verstanden wird. Doch noch nicht einmal wenn man in diesem Sinn systemimmanent argumentiert, kann dieses Ziel als erreicht angesehen werden oder gar die Kosten „rechtfertigen“, wie das Beispiel der Ölpreiskrise („Ölschock“) der 1970er Jahre und zuletzt Russlands Gasverknappung zeigen: wenn es für diese Regime um die Systemfrage geht, weil sie ihre eigene Existenz bedroht sehen, stellen sie sich keineswegs als loyal heraus. Nicht Sicherheit, sondern Abhängigkeiten wurden hergestellt, vertieft, sich bewusst gemacht und wieder verdrängt.

Autokratieförderung nach dem Kalten Krieg

Der Kalte Krieg ist zwar beendet, und damit ist auch eines von zwei zentralen Argumenten westlicher außenpolitischer Ratio hinfällig geworden: den Anschluss an das kommunistische Lager um jeden Preis zu verhindern. Dennoch wirken sich die Policies der damaligen Zeit weiterhin indirekt und direkt bis heute aus – weil das zweite starke Argument, die fossile Energieversorgungssicherheit, noch nicht überwunden werden konnte. Auch die Russland-Politik nach dem Ende des Kalten Krieges ist deshalb durch das eingeübte Prinzip, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zugunsten angeblicher Sicherheit und Stabilität aufzugeben, geprägt. Dass Putin das genaue Gegenteil eines „lupenreinen Demokrats“ ist, als welchen ihn der deutsche Altkanzler Gerhard Schröder bezeichnet hat – was ihm wiederum den Nachruhm als „Gas-Gerd“ eingebracht hat – wurde geflissentlich und konsequent über Jahrzehnte ignoriert. Heute, da es für Putin selbst durch die Demokratisierung der Ukraine um alles geht, hat sich jedoch selbst die erhoffte Energieversorgungssicherheit als Trugschluss erwiesen. Vielleicht wäre es also an der Zeit, eine neue Eindämmungsdoktrin zu verabschieden, die sich jedoch gegen Autokratien und Populisten richtet. Angesichts der Erfolge demagogischer Populisten weltweit, auch in den demokratisch verfassten Staaten, wäre dies so ratsam wie schwierig.

Gleichzeitig geschehen der Ukrainekrieg, die Verknappung der russländischen Gasströme nach Europa und die westlichen Sanktionen gegen die Russländische Föderation zu einer Zeit, in der sich durch den menschlich induzierten Klimawandel noch viel weitreichendere, epochale Systemfragen stellen. Weil die Meta-Katastrophe des Klimawandels, die heute über allen anderen Fragen steht, hauptsächlich über die Verbrennung derselben fossilen Brennstoffe erzeugt wurde, für deren „sichere“ Versorgung und Bereitstellung man alle liberal-demokratischen Prinzipien über Bord geworfen hatte, muss heute hinterfragt werden, was eigentlich „Sicherheit“ und Systemrelevanz bedeuten. Ein System, das sich selbst systematisch die Existenzgrundlage abgräbt, hat dringend eine Revision verdient, bevor es zu spät ist. So wenig, wie das Prinzip rational choice als rational gelten kann, wenn die Hauptargumente der Ratio obsolet geworden sind, sollte beim Verbrennen fossiler Brennstoffe überhaupt noch von Sicherheit die Rede sein. Gerade das Verbrennen fossiler Energiestoffe hat sich im Rückblick als Risiko-Produktion (und damit Unsicherheit) erwiesen, was in die Katastrophe des menschlich induzierten Klimawandels gemündet ist.

Das Problem mit der nötigen Systemrevision und Revolution, um vom immanenten Prinzip des energiebasierten Wachstums wegzukommen, ist, dass bisher keine einfachen Lösungen auf der Hand liegen, die ohne große soziale Unruhen realisierbar erscheinen. Es stellt sich also die Frage, wie wir am besten dorthin gelangen können, dass die Energiewende gelingt. Wir stehen vor der Herausforderung, eine echte Revolution bewältigen zu müssen. Es stellt sich immer wieder aufs Neue die Frage, wie dies angesichts mangelnder Erfolge und fehlender globaler Abstimmung in einem durch und durch globalen – wenn auch von den Industrienationen verursachten – Problem zu bewerkstelligen ist. Dafür sind langfristige Strategien, Visionen und vor allem Investitionen in Wissenschaft, Vernetzung und erneuerbare Energien gefragt, die in der liberalen Demokratie nicht zum Gegenstand kurzfristiger Wahlkämpfe werden dürfen.

Autokratie und die Meta-Katastrophe des Klimawandels

Gerade wegen des Problems der mangelnden Stabilität und Vorhersehbarkeit langfristiger Strategien in Demokratien wird in der letzten Zeit regelmäßig diskutiert, ob Autokratien wie China nicht am Ende erfolgreicher sein könnten in der Umsetzung der Energiewende: autokratische Regime müssen sich schließlich in keinem annähernd vergleichbaren Maß um die öffentliche Meinung kümmern. Durch den Prosumentismus und die politische Wirkkraft der Meinungsplattformen des Plattformkapitalismus in westlichen Kernstaaten drohen gänzlich irrationale Meinungstendenzen, zu einer Art Selbstsabotage zu führen und jede Strategie zu unterminieren. Darunter wären wegen Trump und Brexit besonders (aber keineswegs ausschließlich) die USA und Großbritannien zu nennen.

Obwohl allein die Erwägung der Möglichkeit natürlich schrecklich ist, darf nicht der Fehler begangen werden, zu glauben, es bestünde nicht die Möglichkeit, dass sich die Menschheit den kommenden Herausforderungen über autoriäre und gewaltsame Lösungen „stellt“. Es erscheint heute nicht mehr abwegig, dass dem liberal-demokratischen Organisationsmodell keine lange Zukunft beschieden sein könnte, gerade wegen der oben genannten Effekte des irrationalen, ungefilterten und politisch nicht-regulierten Plattform- und Meinungskapitalismus. Und wie die russischen Trollfabriken und chinesischen Cyber-Angriffe zeigen, haben autokratische Regime auf diesem Markt ihre Nische gefunden: Sie reden mit. Auch dies gehört zu den Rückkopplungseffekten der Autokratieförderung.

Autoritäre Regime haben auch in der Vergangenheit schon bewiesen, dass sie für die Umsetzung großer Reformprogramme und „Revolutionen“ bereit waren, über Leichen zu gehen. Der chinesische Große Sprung nach vorn (1958-1961) oder die chinesische Kulturrevolution (1966-1976) mit ihren millionenfachen Opfern sind Beispiele für autoritäre Reformen. Auch die Gulags, die stalinistisch-sowjetischen Straf- und Arbeitslager, haben über Zwangsarbeit eine wesentliche Rolle für die Industrialisierung und planwirtschaftliche Ökonomie der UdSSR gespielt. Außerdem müssen in diesem Zusammenhang noch viel schrecklichere Möglichkeiten genannt werden: es ist nahezu ausgeschlossen, dass es im weiteren Verlauf der Klimakatastrophe nicht zu erheblichen erzungenen Migrationen und zu Massakern kommen wird, wovon die seit Jahren stattfindenden Migrationsbewegungen über das Mittelmeer in die begünstigten und privilegierten Gebiete Europas und die unbekannte Zahl der Mittelmeertoten nur ein Vorspiel sein dürften.

Wie durch den Holocaust sowie weitere Genozide und Vertreibungsmaßnahmen bekannt ist, finden diese Maßnahmen fast immer in illiberalen, autoritären Zusammenhängen statt. Angesichts dieser historischen Bilanz kann es nicht als abwegig erscheinen, dass es in Zukunft, bei weiterer Verknappung lebensnotwendiger Ressourcen, zu autoritär organisierten, massenhaften Gewaltexzessen kommen wird. Um auf Grigori Judins eingangs genannten Vergleich zu den Jahren 1938/39 zurückzukommen — also dem Vorabend des Zweiten Weltkriegs, des Holocausts, aber auch des Einsatzes von Atomwaffen — so muss die zu beobachtende Konjunktur neopopulistischer und autokratischer Regime beunruhigen. Es zeichnet sich außerdem ab, dass die Ressourcenfragen und -Konflikte der Zukunft sich nicht um Erdöl und Gas werden drehen können, auch wenn dies heute für viele Menschen immer noch die Ressourcen schlechthin zu sein scheinen, von denen alles abhängt (was ja auch nicht völlig von der Hand zu weisen ist). Die Ressourcenfragen der Zukunft werden von bewohnbarem Land, erträglichen Temperaturen, der Verfügbarkeit von Wasser und Nahrungsmitteln bestimmt werden. Wenn demokratisch verfasste Systeme dann dieselbe Prinzipienlosigkeit der Ressourcensicherung an den Tag legen sollten, wie sie dies hinsichtlich der Öl- und Gasressourcen getan haben, dann kann sich jeder ausmalen, welche Horrorszenarien das für die Benachteiligten bedeuten kann; aber auch, welche Rückkopplungseffekte auf demokratische Gemeinwesen dies bedeuten würde.

Es ist aber darüber hinaus angesichts der Komplexität der Herausforderungen des Klimawandels, die intelligente, kreative und multidisziplinäre Lösungen verlangen, absolut fragwürdig, ob dies mit reaktionären, populistischen Bewegungen und autokratischen Systemen überhaupt gelingen könnte. Es ist kennzeichnend für diese Regime, dass sich einzelne Personen (Führergestalten) oder Regimegruppen unantastbar wähnen und gegen kritisches Denken abschotten. Globales Denken und konstruktive, internationale Kooperation, die über das eingangs genannte Motiv der autoritären Kooperation hinaus geht, zählen nicht zu ihren Stärken. Auch durch den Schutz der Umwelt und den Einsatz für interspezifische Sicherheit (d.h. menschliche und nicht-menschliche Sicherheit) hat sich noch kein neopopulistisches oder autokratisches Narrativ ausgezeichnet. Allein deshalb ist es angezeigt, den autokratischen Trend aufzuhalten und einzudämmen, was mit einem Verständnis und einer Dekonstruktion neopopulistischer, illiberaler, autoritärer Narrative beginnt: der Neopopulismus muss als Wegbereiter von Autokratie gesehen werden.

Referenzen und Fußnoten:

Coverbild: People at a APOC refinery in the 1950s, Wikipedia (Commons)

1 Bank, André und Josua, Maria: Gemeinsam stabiler: wie autoritäre Regime zusammenarbeiten, in: GIGA Focus Global, No. 2, Juni 2017, URL: https://pure.giga-hamburg.de/ws/files/21685807/web_global_02_2017.pdf (zuletzt abgerufen am 20.9.2022).

2 Reiter, Swetlana und Judin, Grigori: „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“, in: дekoder vom 3.3.2022 (Original: 1.3.2022 auf Meduza), URL: https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-stimmung-russland-judin (zuletzt abgerufen am 4.3.2022).

3 Bernd-Jürgen Wendt: Appeasement 1938. Wirtschaftliche Rezession und Mitteleuropa (= Hamburger Studien zur neueren Geschichte, Band 5). Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1966, zit. nach Wikipedia.

4 Neben einer Reihe von anderen Faktoren, die im Bereich der Meta-Katastrophe und des technologischen Fortschritts zu suchen sind, und die an anderer Stelle bearbeitet werden.

5 Göbel, Johannes: Ein Plan für die Demokratie, in Deutschland.de vom 13.6.2022, URL: https://www.deutschland.de/de/topic/politik/marshallplan-deutsch-amerikanischer-austausch-fuer-die-demokratie (zuletzt abgerufen am 24.9.2022).

6 Auch wenn Olivier Roy nicht Unrecht hat, dass der Islamismus als der „islamische Weg nach Westen“ verstanden werden kann, insofern er ein Ergebnis von Verwestlichung und Entwurzelung ist und deshalb viel Ähnlichkeit mit westlichen, reaktionären Bewegungen aufweist. Vgl. Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon.

7 Sachs, Jeffrey D.: Schluss mit dem Blowback-Terrorismus, in: Project Syndicate vom 19.11.2015, URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/islamic-state-blowback-terrorism-by-jeffrey-d-sachs-2015-11/german (zuletzt abgerufen am 24.9.2022).

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